Die aller-einfachste Art einen Unterschied für die Erde zu machen
Der Fluss Whanganui in Neuseeland hat es geschafft: Er ist vor dem Gesetz wie eine menschliche Person zu behandeln.
Am Anfang jeglicher Nutzungsüberlegungen für den Fluss stünde damit die Sicht auf ihn als als lebendiges Wesen, sagte ein Sprecher der indigenen Whanganui-iwi, die nach 140 Jahren Verhandlung, nun als Vertreter des Flusses handeln dürfen.
Menschen aus indigenen Kulturen sprechen es einfach aus, NaturwissenschaftlerInnen erforschen es erst Stück für Stückchen – das was im Mainstream trotzdem hartnäckig tabu scheint: Die Natur ist höchstwahrscheinlich ebenso beseelt, wie wir Menschen – voller Intelligenz, Empfindungsfähigkeit und vielleicht sogar Bewusstsein.
Empfindungen und Werte scheinen die Basis aller Lebensprozesse zu sein, auch bei Tieren, Pflanzen oder Kleinstlebewesen. Selbst auf Zellebene könne man feststellen, dass Leben nicht denkbar wäre ohne Gefühle, schreibt der Biologe und Philosoph Andreas Weber.
Die Puzzleteile sind zahllos
- krautige Pflanzen, deren Intelligenz einschließlich “Sensibilität, Erinnerung, Selbsterkenntnis” von Neurobiologen erforscht wird, die möglicherweise ein “riesiges, erdumspannendes Kommunikationsnetz” bilden – und die es mögen, gestreichelt zu werden
- Insekten die komplexes und ganz individuelles Jagdverhalten praktizieren
- Elefanten, die um verstorbene Angehörige trauern
- Bäume die miteinander kommunizieren und kooperieren
- und viel mehr!
Der Hirnforscher Jaak Panksepp, der eine artenübergreifende „Affektive Neurowissenschaft“ entwickelte, spricht es aus: „Der verbreitete Glaube, dass allein die Aktivität des menschlichen Großhirns Kernaffekte [=Emotionen, Anm. d. Verf.] hervorzubringen vermag, ist so naiv wie das geozentrische Weltbild.“
Wir stehen vor einer tiefgreifenden Wende der Kernauffassungen unserer Zivilisation. Im Grunde genommen geht es darum, als Menschheit von der irrigen Annahme zurück zu treten, es müsste sich alles in der Natur letztendlich doch um uns selbst und unsere Lebensgrundlagen drehen.
Wir brauchen viel mehr Respekt vor der natürlichen Welt, so viel wie wirklich notwendig ist, um ihr Wohlergehen und Gedeihen nicht weiter zu zu zerstören.
Respekt braucht Augenhöhe
Viele indigene Kulturen sind HüterInnen von Artenvielfalt in den Ökosystemen, die sie noch selbst bewirtschaften dürfen.
Sie haben raus, was wir uns selbst ab-ringen und von Großkonzernen fordern: Selbstbeschränkung gegenüber der natürlichen Welt, um diese eben nicht auszubeuten. Klar hilft dafür Wissen über die Natur vor Ort – doch Wissen allein lenkt das Handeln nicht. Menschen schützen nur das was sie wirklich lieben.
Wie lieb kann Natur uns werden? Wir sehr können wir es zulassen, Natur zu lieben?
Kommt ganz darauf an, wie wir sie betrachten: Als Ressource? Als Kulisse für Erholung und Abenteuer? Als Lebensraum für Menschheit und Tiere, die wir gern mögen?
Oder als beseelt und in sich heilig? Als gleichwürdiges Gegenüber, auf Augenhöhe? Als Wesen, das so vielschichtig und vollkommen ist, dass Ehrfurcht uns erfüllt, wenn wir ihm uns nähern?
Es gibt einen Begriff für diese Art von Natursicht.
Wikipedia erzählt uns mehr: “„Animisten“ betrachten jeden noch so kleinen Teil der Welt, der von ihnen als beseelt aufgefasst wird, als einen Ehrfurcht gebietenden Kosmos. […]
„Heilig“ im Sinne von „respektgebietend“, aber auch „respektfordernd“, sind Erscheinungen der natürlichen Umwelt in den meisten Ausprägungen:
In jedem beseelten Stein, jeder Pflanze, jedem Tier und jedem Menschen, auch an jedem Ort entwickelt „Lebenskraft“ einen eigenen Willen […]”
Charles Eisenstein, US-amerikanischer Kulturphilosoph lädt uns ein, es auszuprobieren indem wir Bäume, Pflanzen, Steine, Tiere fragen: “Wie ist es, du zu sein?”
Und: “Was wünscht das Land sich? Was wünscht sich der Fluss? Was wünscht sich der Wolf? Was wünscht sich der Wald?”, und dann auf die Zeichen zu achten. “So erweisen wir Land, Fluss, Wolf und Wald den Status des “Seienden” – wir zählen sie zu jenen heiligen Wesen dazu, die immer alles beobachten, und die selbst Bedürfnisse und Interessen haben, welche mit unsren eigenen verwoben sind.”
Die beseelte Welt
Animismus und Anthropomorphismus (=Vermenschlichung von Nicht-menschlichem) sind scheinbar angeboren. Kinder praktizieren sie von ganz alleine, und in unserem Kulturkreis werden sie nicht weiter gefördert, sondern als Aspekte einer kindlichen Weltsicht abgetan, die irgendwann im Schulalter überwunden sein sollte.
Somit ist es nicht verwunderlich: Obwohl Kinder im Laufe der Jahre immer mehr Wissen darüber beigebracht wird, wie sie sich umweltfreundlich verhalten können, nimmt in der Jugend, wo Glauben an die Beseeltheit der Welt nachhaltig abgewöhnt ist, auch die Betroffenheit über Umweltschädigung ab, und ebenso auch die Bereitschaft, sich selbst umweltschonend zu verhalten.
Doch wir gewöhnen damit jungen Menschen etwas Kostbares ab, was für uns als Menschheit vermutlich von Anbeginn an essentiell war und für viele naturverbundene Kulturen immer noch ist: Um uns herum eine Welt voller Mit-Wesen zu sehen, die uns ebenbürtig sind – statt nur seelenloser Ressourcen oder Lebensraum-Features für uns als Herren der Schöpfung.
Dabei sind Kinder sehr gut in der Lage, zusätzlich zur animistischen Weltsicht jede Menge Faktenwissen über Natur und Ökologie zu sammeln. Sie machen uns das vor, was wir global gut gebrauchen können: ein Zusammenspiel von animistischer und naturwissenschaftlicher Weltsicht, die wunderbar nebeneinander existieren können.
Wie wäre es: Wir lernen weiter durch wissenschaftliche Vorgehensweise UND betten das Ganze ein in einen Glauben an die Beseeltheit allen Lebens, die für die Zukunft des Lebens auf der Erde Sinn macht. (Natürlich wurzelt so ein Glaube im ganz individuellen und sehr vielfältigen Erleben und ist damit genau das Gegenteil von institutionalisierter Religion oder Sektiererei.)
Das Ergebnis? Eine echte Ehrfurcht vor dem Leben.
Hinein in die Tabu-Zone!
Im Mainstream der Gesellschaft herrscht noch ein anderer Glaubenssatz: Beseeltheit der Natur? “Esoterisch und unwissenschaftlich“. Unzählige WissenschaftlerInnen, die weltweit herausragende wissenschaftliche Arbeit mit einer persönlichen animistischen Weltsicht verbinden, deuten dies oft lieber nur im Nachwort an – sonst wird öffentlich und in den Institutionen auf ihnen herumgehackt.
Peter Wohlleben fasste in seinem Bestseller-Sachbuch über das “Geheime Leben der Bäume” zahlreiche wissenschaftliche Studien in verständliche “vermenschlichende” Worte. Gerade ist der gleichnamige Dokumentarfilm über sein Werk erschienen und einige alteingesessene Medien in Deutschland probieren nun, ihn regelrecht an den Pranger zu stellen. Kein Wunder, denn er schaffte es, Millionen von Menschen weltweit für das Thema nachhaltige Waldwirtschaft zu begeistern – die im Gegensatz zu den vielerorts angewandten Methoden der Forstwirtschaft steht, und damit entgegen kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen von Waldbesitzern und Holzindustrie.
Zum Glück gibt es viele renommierte WissenschaftlerInnen in Deutschland und anderen Ländern, die hinter Wohllebens Aussagen stehen.
Glaubenssätze vieler Religionen sind sehr wohl gesellschaftlich anerkannt, und auch Angehörige einer indigenen Kultur würden für animistische Äußerungen (glücklicherweise!) in vielen Medien nicht belächelt oder kritisiert werden. Wie können wir es schaffen, dass auch individuelle, also weder institutionalisierte noch tradierte Spiritualität sich öffentlich ausdrücken darf, vor allem wenn sie lebensfördernd ist?
Wir dürfen es!
Jede vierte Frau spricht laut Umfrage mit ihren Zimmerpflanzen.
Auch Hunde, Katzen oder Pferde dürfen zum Glück zensurlos als beseelt behandelt werden. Unsere lebendigen Kuscheltiere scheinen oft die letzten nicht-menschlichen und dennoch voll anerkannten Verwandten zu sein – neun von zehn US-Amerikanern sagen, dass ihr Haustier ein Familienmitglied sei.
“Wir Menschen sind nicht die einzigen mit Persönlichkeit” sagt Jane Goodall im Interview (mit derselben ZEIT, die kürzlich auf Peter Wohleben herumhackte). Als junge Schimpansenforscherin wurde auch sie herbe für ihre Vermenschlichungen kritisiert – doch ihre hartnäckige Einfühlsamkeit für ihre Studien-“Objekte” hatte Erfolg: Mit ihrer respektvollen Haltung schaffte sie es, sensationelle Entdeckungen über das Sozialleben der Primaten zu machen.
Mit jeder Regung in uns, die flüstert, dass “die anderen” ebenso wertvoll und seelenvoll sind wie wir selbst, sind wir in guter Gesellschaft: Alexander v. Humboldt, John Muir, Arundhati Roy, Franz Kafka, Konfuzius, Albert Schweitzer, Leonardo da Vinci, Jiddu Krishnamurti, Carl Gustav Jung, Franz von Assisi, Johann Wolfgang v. Goethe, Thich Nhat Han – die Liste ist lang und ermutigend.
Was kann ich tun?
Wo in mir konnte ich mir ein paar heimliche Fetzen animistischer Weltsicht bewahren? Irgendwas gefunden?
Das ist ein Grund für große Freude!
Das wichtigste ist, dazu zu stehen, was ich im Inneren als wahr erlebe – vor mir selbst (für meine seelische Gesundheit) und vor allem, um den Kindern von heute die Rückenstärkung dafür zu geben, ihre angeborene animistische Weltsicht zu bewahren.
Für ein Urvertrauen in die Welt und in sich selbst, ist es essentiell, Kinder in dem zu spiegeln, was für sie wahr und bedeutsam ist. Neuropsychologe Daniel Siegel beschreibt, wie wichtig es ist, eine Sicht auf die Realität zu schenken, die nicht im Konflikt ist mit dem, was ein Kind erlebt und für wahr hält, sondern das kindliche Erleben bestätigt – nicht nur was das Kind sieht und hört, sondern auch wie es sich im Inneren dabei fühlt, wie sich ein Erlebnis anfühlt.
Indem wir Kinder in ihrer animistischen Weltsicht bestätigen, stärken wir nicht nur ihre Naturverbindung, sondern ermöglichen ihnen, uns als Bezugspersonen und sich selbst tiefer zu Vertrauen, um resilienter durchs Leben gehen zu können.
Es könnte sein, dass sich das auch in mir selbst als eine große Erleichterung anfühlt, wenn ich mich angesichts widerstreitender Glaubenssätze in mir (beeinflusst von Medien, Elternhaus, Schule usw.), mich vor mir selbst zu denjenigen bekenne, die als tiefere Wahrheit in meinem Inneren existieren.
Und vielleicht traue ich mich dann ja auch mal im Büro oder bei den anderen Eltern auf dem Spielplatz zu erwähnen, dass die große Linde da vorne mir persönlich viel bedeutet.
Was wir inniglich lieben, schützen wir. Wenn wir Kinder und Jugendliche ins Leben begleiten, die eine von genug Erwachsenen gewürdigte und geachtete, innige Beziehung zu einem Baum, einem Tümpel, einer Wiese und zur „Mutter Erde“ in ihrer Gesamtheit haben – wird die Welt anders aussehen.
Jetzt ist genau die richtige Zeit dafür!
Die Natur vermisst uns
Wir vergessen es angesichts der wachsenden virtuellen Welt zunehmend, doch brauchen wir das Interagieren mit Natur, um ganz wir selbst zu sein.
Seit vielen Jahren ist bekannt, wie unglaublich wohltuend für uns Menschen die Zeit in der Natur ist, und wie heilsam der Umgang mit Tieren ist, beispielsweise für Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen.
Es ist kein Zufall, dass wir in dieser Zeit, wo wir die die Mit-Wesen um uns herum immer weniger beachten, auch selbst mehr und mehr vereinsamen: Zustände von Einsamkeit breiten sich in der zivilisierten Welt aus wie eine Epidemie, vor allem junge Erwachsene, ältere Menschen, zunehmend auch Kinder und Jugendliche fühlen sich schrecklich einsam und allein.
Wenn wir die Beseeltheit der Welt wieder umarmen, sind wir nicht mehr allein.
Charles Eisenstein, der als junger Mann an der renommierten Yale University Mathematik und Philosophie studierte, beschreibt es so:
“Die Wesen, die wir aus unserer Realität ausgeschlossen haben, die wir in unserer Wahrnehmung zu Nicht-Wesen geschrumpft haben, warten immer noch auf uns. Selbst angesichts all meines ererbten Unglaubens (mein innerer Zyniker, der in Naturwissenschaften, Mathematik und analytischer Philosophie ausgebildet wurde, ist mindestens so schneidend wie deiner), wenn ich es mir erlaube, ein paar Momente lang still und aufmerksam zu sein, kann ich fühlen, wie diese Wesen sich versammeln. Stets hoffnungsvoll neigen sie sich der Aufmerksamkeit entgegen. Kannst du sie auch spüren? Inmitten der Zweifel und jenseits vom Wunschdenken, kannst du sie fühlen? Es ist dasselbe Gefühl, wie im Wald zu sein und mir zum aller ersten mal gewahr zu werden: der Wald ist lebendig. Die Sonne schaut mir zu. Und ich bin nicht allein.”
Ich weiß nicht, ob es objektiv wahr ist, weil es vielleicht niemals bewiesen werden kann. Im Herzen habe ich schon oft gefühlt, dass andere Wesen die Menschen vermissen, zum Beispiel alte Bäume im Park sich danach sehnen, wieder kleine flinke Kinderfüße und -hände auf sich zu spüren.
Wenn wir uns wagen, hinzuschauen, zu fühlen, wieder in Verbindung zu gehen mit der Natur, bedeutet das für mich vor allem ein nach Hause kommen. Wo wir schon seit langem von unserer ganz großen Familie erwartet werden…
Hier findest du die wissenschaftliche Arbeit, auf der dieser Artikel basiert.
Naturverbindung ist eine Schlüsselkompetenz für zukunftsfähige Gesellschaftsgestaltung, in allen Lebens- und Berufsfeldern, die unsere natürliche Beziehung zu unserer Mit-Welt wiederbeleben kann – bis in den gesellschaftlichen Mainstream hinein!
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