mentoring

…aufgeschrieben von Elke Loepthien-Gerwert

Ich war gerade erst Teenager geworden, hatte einen ermüdenden Tag hinter mir und wollte mich nur kurz verabschieden. Mein Gegenüber: Eine erwachsene Person, der ich natürlich kein bisschen mehr vertraute, als allen anderen Menschen, insbesondere älteren Menschen in meinem Leben damals.

Dann kamen die Fragen: Wie es mir eigentlich so geht, was in meiner Familie so los ist? Immer neue, interessierte und interessante Nachfragen auf meine ausweichenden Antworten und dabei so ein mitfühlender und bestärkender Blick… auf einmal konnte ich mich selbst mehr spüren und mich auch tatsächlich öffnen und jemandem ein klein wenig anvertrauen, wie es mir eigentlich ging, was mich bewegte und warum.

Aus dem Verabschieden wurde ein Gespräch und das Gespräch wurde ein paar Minuten lang.

Ich war es so gewohnt, im Stillen vor mich hin zu leiden und niemanden etwas davon merken zu lassen, dass ich eine ganze Weile brauchte, bis ich mit dieser Art von Kontakt und Zuwendung vertrauter wurde.

Doch auch wenn es noch vieler weiterer dieser Gespräche bedurfte, bis ich irgendwann bereit war, zusammen sitzend zu plaudern, statt zum Absprung bereit, veränderten sie mein Leben damals ganz merklich.

Die erwachsene Person war Pfarrer der Kirchengemeinde, in der ich konfirmiert wurde, Mit seinem authentischen Interesse an den Jugendlichen dort hat er sicherlich nicht nur mein Leben damals ein kleines Stück weit gerettet. Erst viele Jahre später bekam ich einen Begriff für das, was ich damals geschenkt bekam: Es war Mentoring! :-)

 

Mentoring kann ein Leben verändern

Mentoring hat viele Definitionen. Eine, die mir gefällt: Wann immer echtes persönliches Interesse verbunden mit einem Wunsch und einer Bereitschaft, unterstützend für jemand da zu sein, kombiniert wird mit tatsächlichem Begnungsraum und Austausch, oft – aber nicht immer – über einen längeren Zeitraum.

Für Menschen jeden Alters, vor allem aber für junge Menschen, kann diese Art von aktivem und fürsorglichen, fördern wollendem Interesse das sein, was man einen Game Changer nennt: Es kann ein Leben deutlich zum Positiven verändern und – wohlmöglich öfter, als wir uns bewusst sind – vielleicht sogar retten.

Seit meiner Jugend habe ich das immer wieder selbst erlebt:
Es war die Liebe und fürsorgliche Aufmerksamkeit anderer, oftmals älterer Menschen, wie Julie Langhorne oder Sobonfu Somé, die mir ermöglicht haben, gerade auch die schwierigsten Zeiten meines Lebens zu überstehen, oder sogar gestärkt daraus hervor zu gehen.

Diese Resilienz, die Fähigkeit uns auch unter schwierigsten Umständen weiter zu entwickeln, wird im westlichen Kulturkreis häufig als ein individuelles Phänomen dargestellt. Dabei hängt sie maßgeblich davon ab, was für ein Netz an Unterstützung um uns herum existiert, das uns auffangen kann, wenn wir fallen, und in dem wir sogar wieder neuen Schwung finden.

So wie es auch Desmond Tutu sagte: „Wir sind Teil von einem ganzen Bündel von Leben. Jede Person kann überhaupt nur deshalb sie selbst sein, weil es andere Personen in ihrem Leben gibt.“

Gemeinsam können wir all das sein, was das Leben von uns braucht.

 

Mentoring gab es vermutlich schon von Anfang an

Diese Art von unterstützenden Beziehungen war vermutlich schon seit dem Beginn der Menschheitsgeschichte relevant. Gemeinsame Kinderbetreuung („cooperative breeding„) heißt der Fachbegriff, der ursprünglich aus der Biologie kommt und beschreibt, wie in der Frühgeschichte und auch heute noch in den sozialen Verbänden vieler Indigener Völker die sogenannte Kleinfamilie eingebettet ist in ein lebendiges Netz aus innigen zwischenmenschlichen Beziehungen, wo viele unterschiedliche Erwachsene sich gemeinsam um das Wohlergehen der Kleinsten kümmern.

Manche Forscher*innen gehen davon aus, dass Großeltern, die im Tierreich fast nicht zu finden sind, bei uns Menschen deshalb älter und älter werden können, eben weil sie von Anfang an so überaus wichtig für das Aufziehen der Kinder waren und auch heute noch sind. (Und, so lässt sich vermuten, wohl auch für das Gedeihen der Jugendlichen und die Unterstützung der Erwachsenen!) Tatsächlich konnte in einer Studie in den Niederlanden gezeigt werden, dass auch heute noch in Familien wo Großeltern sich mit um die Enkel kümmern, mehr Geschwisterkinder geboren werden, vielleicht als eine direkte Folge dieser Unterstützung.

Wie dringlich der Bedarf für Mentoring durch andere Personen als den leiblichen Eltern ist, zeigen auch aktuelle Studien zur Bindung. Im vergangen Jahr wurden in einer Studie 14.000 Kinder in den USA untersucht, von denen ganze 40% keine sichere Bindung, also kein tragfähiges Vertrauensverhältnis zu ihren biologischen Eltern hatten. Es ist nicht schwer vorzustellen, dass so oder ähnlich die Zahlen auch hier in Deutschland ausfallen könnten.

Mentoring-Wirkungen können erstaunlich sein


Wenn wir eine Mentoring-Beziehung mit jemand eingehen, dann kann dies wunderbare Auswirkungen haben:

  • Im American Journal of Community Psychology wurden 2018 die Ergebnisse von zwei Meta-Analysen diverser Studien rund um Mentoring zusammengefasst:
    Darin wurden mannigfaltige positive Auswirkungen dieser Beziehungen auf die Jugendlichen nachgewiesen, insbesondere in ihrer Fähigkeit, Verbundenheit zu anderen Menschen zu erleben.
    Das Erleben, von anderen Menschen unterstützt zu werden, war bei ihnen wesentlich stärker, insbesondere auch für ihre eigene Autonomie, für ein Empowerment darin, selbst entscheiden und handeln zu können.
    Vor allem die sozial-emotionale Entwicklung, die Resilienz angesichts schwieriger Umstände und das Fuß fassen in Beruf oder Studium liefen bei ihnen wesentlich besser, als bei Vergleichsgruppen, die keine Mentor*innen in ihrem Leben hatten.
    Diese positiven Auswirkungen waren selbst dann nicht weniger stark, wenn die Jugendlichen zu Risikogruppen gehörten, beispielsweise als Teenager schon zu Eltern wurden, obdachlos waren, oder alkoholkranke Eltern hatten.
    Durch Mentoring übten Jugendliche zahlreiche kognitive Fertigkeiten und waren aufgeschlossener für die Perspektiven von Erwachsenen.
    Mentor*innen vermochten es auch, gerade für Jugendliche mit schwierigen Beziehungen zu ihren Bezugspersonen, eine echte, schützende Ressource zu sein. Durch ihr Vorbild sein, ihre Zuwendung und die emotionale Unterstützung, die sie schenkten, konnten sie negative, verinnerlichte Selbstbilder der Jugendlichen zerstreuen und ihnen ebenso zeigen, dass positive Beziehungen mit Erwachsenen möglich waren.
  • In einem Programm für vulnerable Bevölkerungsgruppen in den Niederlanden zeigte sich, dass qualitativ hochwertiges Mentoring den Mentees half, Depressionen und Einsamkeit zu reduzieren und Selbstwert und Selbstvertrauen zu stärken.
  • Kindern, von denen ein Elternteil inhaftiert war (eine sehr schwerwiegende Belastung) half Mentoring dabei, weniger davon auszugehen, dass mit ihnen selbst etwas nicht stimme, und es verbesserte auch ihre positiven kognitiven Fertigkeiten, beispielsweise Ziele zu verfolgen, daran zu glauben, dass sie Erfolg haben können, wenn sie sich anstrengen und ebenso ihre allgemeine Lebenszufriedenheit.
  • Studierende aus First Nations in den USA sind an Universitäten oft unterrepräsentiert und (aufgrund von strukturellem Rassismus) fällt es ihnen schwerer, eine Karriere im wissenschaftlichen Bereich zu machen. In Studien zeigte sich, dass es für sie deutlich leichter ist, ihr Studium durchzuhalten und sich auch als Wissenschaftler*innen zu identifizieren, wenn sie Mentoring erfahren, vor allem wenn die Mentor*innen mit der Kultur ihrer Mentees vertraut waren.
  • Mentoring erleichtert es Jugendlichen, ganz konkrete Ideen darüber zu entwickeln, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen, wie es am Beispiel von jungen Leuten dokumentiert wurde, die allein, also ohne erwachsene Bezugspersonen aus anderen Ländern eingewandert waren (oft aufgrund von Notsituationen).
  • Sogar die Eltern von Kindern in Mentoring-Programmen berichten für sich selbst über leicht verringerte depressive Symptome, weniger soziale Ängste, weniger Aggressionen und Feindseligkeit, sowie auch Verbesserungen im familiären Miteinander (z.B. Kommunikation, Problemlösungen).

 

Mentoring ist gerade heute dringend notwendig

All diese wunderbaren Möglichkeiten scheinen notwendiger denn je – denn 2022 haben über 45% der Jugendlichen in Deutschland gesagt, dass sie manchmal oder immer das Gefühl haben, isoliert oder ausgeschlossen zu sein.

Weniger als ein Viertel der Jugendlichen gab an, dass es in ihrem Leben niemals oder selten irgendjemanden gäbe, mit denen sie über ihr Leben reden oder an den sie sich wenden könnten.

Nicht nur an sich ist das schon schlimm und könnte durch Mentoring sicher gelindert werden. Dazu kommt auch noch, dass rechtsextreme Kräfte sich seit längerem ganz gezielt an Kinder und Jugendliche wenden, beispielsweise auf TikTok, in Podcasts oder sogar auf Online-Gaming-Plattformen. Für Tiktok ist dabei deutlich, dass neben einer geschickten Verknüpfung von rechtsextremem Gedankengut mit Jugendsprache und Elementen der aktuellen Internetkultur, vor allem positiv besetzte Emotionen wie Stolz oder Zusammengehörigkeit eingesetzt werden.

Gerade wenn Jugendliche (und Menschen allen Alters) häufig auf eine leidvolle Weise Einsamkeit erleben, sind sie besonders verwundbar gegenüber extremistischen Kampagnen, wenn sie Zugehörigkeit zu einer überlegenen Gruppe versprechen und dabei ganz nebenbei eine anti-demokratische Haltung propagieren.

Denn Zugehörigkeit zu erleben ist ein menschliches Grundbedürfnis. Mentoring kann gerade jungen Menschen nachweislich dabei helfen, Verbundenheit zu anderen Menschen zu erleben, und das nicht nur zur Mentor*in, sondern ganz allgemein.
Wir sollten es nutzen, wann immer wir können, auch um Kindenr, Jugendlichen, Erwachsenen echte Angebote für echte Beziehungen zu machen, innerhalb derer sie Zugehörigkeit erfahren können, ohne dabei andere Bevölkerungsgruppen nach und nach zu entmenschlichen.

 

Mit Mentoring können wir zukünftigen Generationen helfen

Die gegenwertigen Generationen von Kindern und Jugendliche stehen durch Klimakatastrophe und Umweltzerstörung ohnehin vor schier unlösbaren Herausforderungen eines unvorstellbar gigantischen Ausmaßes.

Sie werden, egal wie die kommenden Jahre verlaufen werden, im Laufe ihres Lebens weitreichendes Artensterben, Zerstörung, Naturkatastrophen, Hungersnöte, Wasserknappheit, ökologische Kipppunkte und andere schlimme Notlagen mehr bezeugen und selbst durchleiden müssen.

Als Erwachsene können wir vielleicht nicht genug tun, um diese Situation zu verändern. Wir können aber – ganz egal was kommen wird – auf eine ihren Rücken stärkende Art und Weise da sein für die jungen Menschen, die unseren Rückhalt wirklich brauchen!

 

Und: Mentoring tut auch Mentor*innen richtig gut!

In einer Studie aus Aotearoa/Neuseeland wurden die positiven Auswirkungen auf die jungen Mentor*innen untersucht. Sie lernten, sich besser auf andere einzustimmen, wurden umgänglicher, zeigten mehr Führungsverantwortung, bessere Problemlösungsstrategien und konnten sich leichter in die Perspektiven anderer hineinversetzen.

In einer anderen Studie, über ein cross-kulturelles Mentoring-Programm wurde für die Mentor*innen die Verringerung von Vorurteilen, Entwickeln kultureller Demut, Zunahme sozialer Kompetenzen und ein Gefühl, für die eigene gesellschaftliche Verantwortung als positive Auswirkungen genannt.

Ich selbst erlebe beim Begleiten von Menschen immer wieder Momente von tiefer Ehrfurcht: Über die Erstaunlichkeit eines jeden menschlichen Wesens, über die unterschiedlichsten Arten und Weisen, in denen persönliche Entwicklung stattfindet, auch über die Weisheit, die sich in Mentoring-Gesprächen oftmals einstellt, einfach weil sie einen fruchtbaren Raum dafür hergeben.

 

Auch du kannst Mentor*in sein

Vielleicht bist du das sogar schon für jemanden, bewusst oder sogar auf unbemerkte Weisen. Mentoring ist nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern für Menschen allen Alters hilfreich, vor allem auch für junge Erwachsene.

Dabei kann nicht nur eine langjährige Beziehungen unterstützen, sondern manchmal sind es auch kurze Interaktionen, an der Bushaltestelle, in der Bahn, in der Mittagspause, auf einer Urlaubsreise, die für die andere Person einen echten Unterschied machen können, sogenannte Mentoring-Momente.

Das allerwichtigste dafür, dass dies gelingen kann, ist meines Erachtens ganz einfach deine Bereitschaft, für jemand anders bestärkend da zu sein.

Es gibt zahlreiche, auch kostenlose Online-Ressourcen, die Tipps und Hinweise zum Mentoring geben, beispielsweise hier eine englisch-sprachige Plattform, wo jede Menge aktuelle Forschungsberichte über Mentoring zusammengefasst und vorgestellt werden.

Für mich ist Mentoring eine der relevantesten lebensförderlichen Handlungen in der heutigen Zeit.

Oftmals verbringen wir als Erwachsene einen Großteil unserer Zeit räumlich getrennt von Kindern, Jugendlichen und auch jungen Erwachsenen.

Aber es gibt in Familie, in Nachbarschaft und Vereinen, in lokalen Initiativen uvm., gerade wenn wir danach Ausschau halten, auch heute noch jede Menge Gelegenheiten, die jüngeren Generationen zu unterstützen, ganz sicher auch in deinem Umfeld.

Ich persönlich glaube, es ist jetzt gerade vielleicht wichtiger denn je.

Denn meiner persönlichen Erfahrung nach kann Mentoring tatsächlich Leben retten, auf vielerlei Arten und Weisen!

 

Hast du Lust, Mentoring zu lernen?

Wenn du dir einen etwas umfassenderen Einstieg ins Mentoring wünschst, könnte unser „Mentoring lernen“ – Online Paket vielleicht genau das richtige für dich sein.

Es enthält 6,5 Stunden verdichtet zusammengeschnittene Original-Aufnahmen aus unserem Life-Online-Workshop Einführung ins Mentoring.

Du lernst darin viele wichtige Grundlagen und Prinzipien, sowie auch typische Fallstricke, die besser vermieden werden sollten, um deine Mentoring-Beziehungen oder auch Mentoring-Momente bewusst so gestalten zu können, dass deine Begleitung für deine Mentees auf ihrem Lebens- und Lernweg wirklich hilfreich sein kann.

Über unsere Kurssoftware kannst du uns während dessen auch deine persönlichen oder beruflichen weiterführenden Fragen schicken und in einem Online-Space für Absolvent*innen des Kurses auch Kontakt und Austausch mit anderen Menschen finden, die sich für Mentoring interessieren.

Hier geht’s zum Online-Paket „Mentoring Lernen“…


…aufgeschrieben von Elke Loepthien-Gerwert
und
illustriert von Lara Schmelzeisen

 

Wenn jemand traurig ist, sollen wir dann versuchen zu trösten?

Ja! Aber Trösten ist ein oft missverstandenes Wort. Denn was wir landläufig praktisch darunter verstehen, ist oft das Gegenteil von tröstlich.

Viele von uns haben selbst schon erleben können, dass verbreitete Redewendungen wie „halb so schlimm„, „Kopf hoch“ oder „das wird schon wieder“ einen schlimmen Schmerz sogar noch schlimmer machen können.

Dabei bedeutet trösten gar nicht, zu probieren einen Schmerz klein zu machen, zu relativieren oder ihn sogar weg zu machen!

Der Psychologe Dennis Klass, eine der führenden Persönlichkeiten in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Trauer, veröffentlichte 2012 einen Artikel über Trost, einem in der modernen Trauerarbeit oft gänzlich fehlenden Begriff.

Das Wort „Trost“ gab es schon im 8. Jahrhundert im Althochdeutschen und anderen Sprachen Mitteleuropas. Sein Geschwister-Begriff ist „trust„, das englische Wort für Vertrauen.

Der Ursprung beider Worte sind mehrere noch ältere Ausdrücke für „Baum„, eigentlich wohl sogar für „Eiche„, und sie bedeuten auch „fest“ und „treu„. Trost bedeutete also vor langer Zeit vor allem „Festigkeit“ und über die Jahrhunderte gesellten sich dazu noch die Qualitäten von „Zuversicht, Vertrauen, Hoffnung, Gewährung von Festigkeit im Sinne von Hilfe und Schutz“. 

Trost macht Trauer nicht weg – sondern schenkt ihr ein Gegengewicht

Vereinfacht gesagt kann Trost also all das sein, worauf wir (noch oder wieder) vertrauen können, was mitten in einer schrecklichen Zeit trotzdem da ist und uns Halt gibt, obwohl wir solch schlimmen Schmerz erleiden. Trost ermöglicht uns das Erleben von Festigkeit in Momenten, wo ein Verlust uns erschüttert und ins Wanken bringt, uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen scheint.

Wenn wir tatsächlich trösten, versuchen wir also nicht, den Schmerz geringer zu machen – sondern wir stellen ihm eher etwas zur Seite, ermöglichen ein Gegengewicht an Erfahrungen, damit im Innern oder auch kollektiv ein Gleichgewicht wieder gefunden werden kann.

Tröstlich ist, was Vertrauen und Halt ermöglicht

Trost ist, wenn deutlich spürbar wird, dass da etwas und jemand ist, dem ich vertrauen kann: Wo ich Hilfe bekomme mit dem, was mich überfordert, wo ich mich geschützt fühle trotz der großen Verletzlichkeit, wo ich so lange und viel angenehmes, nährendes, liebevolles erleben kann, bis in mir Zuversicht und Lebensfreude keimen und wieder wachsen können.

Soziale Räume, in denen man weinen kann, sind heute selten und sehr wertvoll. Gleichzeitig braucht Trauerarbeit unserer Erfahrung nach noch einiges mehr:

Wie können wir es schaffen, Verluste so zu verarbeiten, dass Lebensfreude und Leichtigkeit wieder möglich werden?
Was braucht es, damit tiefer Schmerz sich wandeln kann – in etwas Fruchtbares für uns selbst und unsere Gemeinschaft?

Zutaten für gelingende Trauerprozesse

In der Trauerarbeit mit Sobonfu Somé, und nach ihrem Tod auch in meiner eigenen Beschäftigung mit traditionellen Trauerritualen, wurde sehr deutlich, dass viele Zutaten für das Begleiten von Trauerprozessen gebraucht sind – die alle Trost spenden können. 

Für unsere Arbeit habe ich diesen Trauerkompass entwickelt, den die Dialogkünstlerin Lara Schmelzeisen in den letzten Wochen für uns illustriert hat. (Tatsächlich könnte er auch „Trostkompass“ heißen. :-))

Im Trauerkompass kannst du verschiedene Qualitäten sehen, die unserer Erfahrung nach wichtig sind für das Verarbeiten eines Verlustes und somit auch für das Halten eines Trauerraumes.

Sicherer Raum

Wenn wir beim Trauern in emotionalen Ausdruck und weinen kommen, verlassen wir mit unserer Aufmerksamkeit ein Stück weit das Hier und Jetzt und wandern stattdessen tief nach innen. Wir sind dann nicht so wachsam, können uns selbst nicht gut vor Gefahren schützen, können kaum handeln oder etwas leisten. Deshalb haben wir als Menschen die Fähigkeit, Trauern über lange Zeiträume zu unterdrücken.

Jahrzehnte oder jahrhundertelange Phasen von Krieg und Ausbeutung haben für viele Menschen die Lebensrealität geschaffen, dass es im Grunde kaum mal Momente von ausreichend Sicherheit gab oder gibt. So konnte in vielen Familiensystemen das Trauern gänzlich zu einem Tabu werden.

Heute gibt es deshalb viele Menschen, die in ihrer Kindheit fürs Trauern ignoriert, beschämt oder sogar bestraft wurden – wenn nämlich die Erwachsenen selbst überfordert damit sind, Trauer zu begegnen.

Kinder lernen, dass Trauer nicht erwünscht oder sogar gefährlich ist. Und da sie auf die enge Verbindung zu ihren Bezugspersonen zutiefst angewiesen sind, beginnen auch sie, das Trauern als etwas negatives oder sogar gefährliches anzusehen, und lieber mit aller Kraft zu deckeln.

Wenn unser Verlust zu groß ist, kann es sein, dass wir trotzdem trauern können, und sogar mitten auf dem Bahnhof oder beim Einkaufen zu weinen beginnen. Oft aber hält unser Körper die Trauer fest – um uns zu schützen.

Wollen wir ihr Raum geben, braucht es einen Ort, eine Zeit, eine Art von zwischenmenschlichem Miteinander, womit wir uns sicher genug fühlen können.

Gerade für viele Erwachsene erfordert das auch, sich in dem Moment für nichts und niemand anderes verantwortlich fühlen zu müssen – um wirklich loslassen zu können.

Wenn wir wissen, dass Kinder, Arbeit, Haushalt und alle/s andere uns gerade wirklich nicht brauchen, ist es leichter, aus einer Grundhaltung von tapferem Durchhalten und vielleicht sogar Wachsamkeit herauszufinden, und uns für eine Zeit lang unserer eigenen Trauer hinzugeben.

Emotionaler Ausdruck und Entladen

Trauern ist keine rein verstandesmäßige Aktivität, sondern es ist zutiefst mit unserem Körper verbunden. Menschen die trauern, können dabei leise Tränen weinen, aber auch laut schluchzen, zittern, beben, klagen oder sogar schreien. Dabei kann sich Energie entladen und wir können Hitzegefühle und Schwitzen erleben, großen Bewegungsdrang, das Bedürfnis mit den Händen auf den Boden zu trommeln, uns zu schütteln und vieles mehr.

Kleine Kinder sind oft noch in der Lage, dem emotionalen Ausdruck ihres Körpers nachzugeben. Im Laufe der ersten Lebensjahre erleiden sie viele Verluste, die sich wirklich schlimm anfühlen – auch wenn sie für Erwachsene manchmal schwer nachvollziehbar sind.

Als Erwachsene können wir vielleicht ganz gelassen bleiben, wenn sich jemand anders auf unseren Lieblingsplatz setzt oder uns etwas kaputt geht, dass wir gern mochten. Trotzdem kann und wird es Verluste geben, die so schlimm für uns sind, dass unser Verstand allein sie nicht verarbeiten kann, sondern unser Körper sich danach sehnt, wie ein kleines Kind zu weinen und zu trauern oder auch Wut auszudrücken.

Fühlen wir starke Emotionen in uns und unterdrücken sie, kann das schwerwiegende Konsequenzen für unsere seelische und körperliche Gesundheit haben.

Deshalb kann es beispielsweise schwierig sein, richtig zu trauern, wenn nur besonders stille Räume dafür zur Verfügung stehen.

Die Stille kann erst einmal hilfreich sein, in Kontakt mit den eigenen Emotionen zu kommen. Sich in den emotionalen Ausdruck zu wagen fällt vielen Menschen jedoch leichter, wenn es eine Art Teppich an Klängen oder Geräuschen gibt, der so laut ist, dass er uns auch wenn wir laut weinen und schluchzen trägt: Die Brandung des Meeres, das Rauschen eines Flusses oder auch laute Musik, die im Hintergrund läuft, können es uns leichter machen.

Können wir den emotionalen Ausdruck unseres Körpers zulassen, kann sich dies sehr erleichternd anfühlen. Vor allem, wenn noch einige weitere wichtige Zutaten für unseren Trauerprozess mit dabei sind.

Mitgefühl und Fürsorge

Vieles in unserem emotionalen Erleben wird maßgeblich von unserem autonomen Nervensystem beeinflusst. Dabei entwickelt sich unsere Fähigkeit zur Regulation unserer Emotionen erst allmählich, im Laufe der ersten Lebensjahre.

Alleingelassene Neugeborene werden von heftigen Emotionen überwältigt und sind nicht in der Lage, sich nach stressvollen Momenten von selbst wieder zu entspannen, sondern brauchen Bezugspersonen dafür. Nur durch den liebevollen Kontakt mit anderen erlernen Menschenkinder nach und nach die Kompetenz der Selbstregulation.

Essentiell für diese Co-Regulation ist ein Gegenüber, das sich selbst regulieren kann, also in der Lage ist, Gelassenheit zu bewahren und nach aufregenden Situationen wieder zur Ruhe zu finden.

Obwohl die Selbstregulationsfähigkeit mit den Lebensjahren zunimmt, kann sie auch bei Erwachsenen beeinträchtigt sein, vor allem wenn wir gestresst und überfordert sind oder Krisen und Katastrophen unser Leben durchschütteln.

In Ausnahmesituationen, wie wenn wir schlimme Verluste und den Schmerz darüber als überwältigend erleben, brauchen wir ein Leben lang die Unterstützung anderer Menschen (oder nicht-menschlicher Mitwesen), um unser emotionales Gleichgewicht wiederzufinden, unser Nervensystem zu regulieren.

Deshalb ist es umso wundervoller, dass unser Körper zeitlebens Co-Regulation nutzt, wenn die Gelegenheit sich bietet. Vereinfacht gesagt ist unser autonomes Nervensystem in der Lage, am Nervensystem von anderen Menschen (oder auch unseren Haustieren) anzudocken, und sich dort zu „holen“, was es braucht, um wieder zur Ruhe zu finden.

Wir brauchen einander

Während der Trauerrituale mit Sobonfu Somé sang sie mit uns ein Lied aus ihrer Kultur (die Dagara in Westafrika), dessen Text sie übersetzt hat als: „Ich kann dies nicht alleine schaffen.“

Traditionelle Trauer- und Begräbnisrituale und Bräuche beinhalten vielmals, dass die Menschen aus der Gemeinschaft sich um die Hinterbliebenen kümmern, Aufgaben übernehmen und für sie da sind.

Eine Art von mehr als alltäglicher Fürsorge zu erfahren ist eine Form von Trost, die wir spenden können, wenn jemand Trauer durchleidet. Je angenehmer und nährender der Rahmen ist, in dem wir uns bewegen, desto tröstlicher kann er sein, und desto leichter ist es, sich auf den Trauerprozess tief einzulassen.

Genau dafür sind wir von unserer Biologie her bestens ausgestattet: In schweren Zeiten sich einander zuwenden und füreinander sorgen ist tatsächlich eine unbewusst ablaufende (oft vergessene, aber gut erforschte) Überlebensreaktion des Menschen.

Mit Einstimmung

Mich in ein trauerndes Gegenüber einzufühlen oder einzustimmen („attunement„) hilft der anderen Person, sich gesehen und „gefühlt“ zu fühlen. Einstimmung ist für die gesunde seelische Entwicklung von Kindern essentiell. Wir können sie schenken, indem wir aufmerksam hinschauen, hinhören, hinspüren, innere Urteile und Gedanken immer wieder beiseite schieben, wahrnehmen mit allen Sinnen und fürsorglich sprechen und handeln.

Diese Art von Einfühlung auch als Erwachsene geschenkt zu bekommen, ist notwendig für gesunde und glückliche Beziehungen.

Doch viele Generationen lang wurden Eltern in diesem Teil der Welt systematisch dazu angehalten, Säuglingen und Kindern keinerlei Einstimmung zu geben. Dies war oft politisch motiviert, damit die vertrauensvolle Beziehung zwischen Eltern und Kind sich gar nicht erst entwickeln konnte. Die Folgen dieser Erziehung sind heute noch spürbar und werden erst langsam aufgearbeitet.

Ein Ergebnis davon ist es, dass es eben für viele Menschen heute leider keine alltägliche Erfahrung ist, Einstimmung zu erfahren oder „spürbar von jemand anders gefühlt zu werden„, wie der Psychiater Daniel Siegel es nennt.

Dabei kann gerade im Schmerz genau das so wohltuend sein – zu erleben, dass wir nicht ganz allein sind, sondern andere Menschen uns einfühlsam beistehen.

Mit Mitgefühl

Mitgefühl („compassion„) beinhaltet Einfühlung, das Mitfühlen mit einem anderen Wesen. Gleichzeitig verstehen wir darunter auch, während dessen einen liebevollen Wunsch in sich präsent zu halten: Für das Wohlergehen dieses anderen Wesens.

Das ermöglicht, nicht angesichts der Emotionen oder des Leids der anderen wie darin verloren zu gehen. Einen Teil meiner Aufmerksamkeit auf der Möglichkeit zur Linderung des Schweren zu belassen, auf dem Wohlsein, was ich mir für diese Person wünsche, kann vielmehr wie ein Anker sein.

Zum einen ermöglicht mir diese Haltung, präsent da zu sein und zu bleiben, es kann sogar in helfenden Berufen die tiefgehende Erschöpfung eines emotionalen Burnouts verhindern.

Auch für mein Gegenüber kann mein Mitgefühl wie ein Anker sein, weil neben der Einstimmung und Empathie eben auch eine Erdung und Gelassenheit spürbar sind – so wichtig gerade im Angesicht schwierigster Umstände.

Ghandhi soll gesagt haben: “Mitgefühl ist ein Muskel, der kräftiger wird wenn wir ihn benutzen.” Es ist auch eine Frucht des eigenen, persönlichen Leidenswegs: Studien haben gezeigt, dass Menschen, die selbst Schlimmes durchgemacht haben, besser in der Lage sind, auch angesichts größeren Leides mitfühlend da zu bleiben.

Gemeinschaft und Lebensnetz

Unserer Erfahrung nach können Verbindung, Beziehung und somit auch Gemeinschaft langfristig nur gelebt werden, wenn Trauer einen Platz hat. Der Stress, die Erschöpfung, Reizbarkeit und emotionale Abstumpfung, die sich wie ein dunkler Schleier über unser Leben legen, wenn wir Trauer nicht verstoffwechseln, führen über kurz oder lang dazu, dass wir nicht nur für uns selbst nicht richtig da sind, sondern auch für andere nicht richtig da sein können.

Leidvolle Emotionen, die unterdrückt werden, können dazu führen, dass wir nicht nur uns selbst zusätzliches Leid verursachen. Es kann auch bedeuten, dass wir zunehmend abweisend, reizbar oder sogar aggressiv unseren Mitmenschen handeln, was oft vor allem unsere Liebsten trifft.

Auch zwischenmenschliche (und innere) Konflikte gehen mit Verlusten einher, die betrauert werden wollen. Jede Form von Gemeinschaft oder Beziehung braucht also Trauerprozesse, damit sie weiter bestehen kann.

Gleichzeitig braucht Trauerarbeit auch Gemeinschaft. Oft sind mit unserer Trauer Geschichten verbunden, die so schrecklich sind, dass man sie kaum anhören kann. Es kann sogar traumatisieren, Erlebnisse von Gewalt und unerträglichem Unglück und Leid zu hören.

Gerade für diese allerschlimmsten Schmerzen kann eine Gemeinschaft von Menschen Rückhalt und Trost spenden. Denn die Last der Geschichten braucht dann niemand allein zu tragen, sondern sie verteilt sich auf viele Schultern und wird dadurch handhabbar.

Unsere nicht-menschliche Mitwelt

Wir alle gehören nicht nur unterschiedlichen menschlichen Gemeinschaften an (und können in Trauerräumen ein Teil von Gemeinschaften auf Zeit werden), sondern sind auch ein untrennbarer Teil der gesamten Biosphäre des Planeten Erde.

Je mehr wir in Kontakt mit den „anderen“ da draußen kommen können, desto mehr können wir Halt und Unterstützung auch von nicht-menschlichen Wesen erfahren: Vom Wind der uns zärtlich streichelt, dem Regen, der kühl unsere Haut erfrischt, einer Blüte deren süßer Duft uns tröstliches Zeichen dafür ist, dass das Leben trotz allem weiter geht.

Verbindung zum Größeren

Manche Verluste sind so gewaltig, dass selbst viele Menschen nicht als Gegenüber auszureichen scheinen, um den Schmerz mit uns gemeinsam zu ertragen. Für diese Momente, oder gerade auch wenn wir allein zuhause ins Trauern kommen, kann es helfen, in Verbindung zu gehen mit etwas, das ganz viel größer ist, als wir selbst.

Für viele Menschen ist es schwer, sich jemand anderem zuzumuten in Momenten der Not. Wir wollen niemanden belasten oder überfordern. Damit wir uns trotzdem ins Trauern hineinwagen, kann uns ein ganz besonders kraftvolles und großartiges Gegenüber helfen.

Die Kraft des Feuers kann so ein Gegenüber sein. Selbst in der kleinsten Kerzenflamme ist genug Feuer-Kraft vorhanden, um einen ganzen Waldbrand zu entfachen.

Auch ein natürliches Gewässer kann uns helfen, denn Wasser ist das Element, was sich um und durch die Erde bewegt, bis in den Himmel aufsteigt und ganz woanders wieder herauskommt. Was unseren Körper erfüllt und irgendwie immer in Bewegung bleibt, manchmal nur sehr langsam, doch letztendlich unaufhaltsam.

Spirituelle Kräfte und Wesen, wie Gott oder auch unsere Ahn*innen können auch helfen – wenn ich sie mir vorstellen kann und an sie zu glauben vermag.

Wichtig ist, dass wir, beispielsweise im Rahmen von Ritualen, einen persönlichen Kontakt erleben können, wenn wir uns mit unserer Trauer diesem Großen Gegenüber zeigen, so dass ein Gefühl von gesehen und bezeugt sein sich einstellen kann und vor allem das Erleben, selbst ganz klein sein zu dürfen, und trotzdem sicher und gehalten zu sein.

Vielen Menschen hilft es auch, sich ihr großes Gegenüber wie eine empfangende Kraft für unsere Trauer vorzustellen, die das was ausgedrückt und mitgeteilt wird, wie aufnimmt und verwandelt oder zumindest uns dabei hilft, im Inneren den Schmerz zu verwandeln.

Und worin verwandelt er sich wenn alles gut läuft? In das, was wir gern „Medizin“ für unsere Gemeinschaft nennen. Der Wunsch danach, dass der Schmerz sich in „Medizin“ (unser Begriff für etwas Hilfreiches im weitesten Sinne) wandeln mag, kann eine kraftvolle Ausrichtung und Intention sein, um sich in einen Trauerprozess bewusst hinein zu wagen.

Integration und (Neu-)Ausrichtung

Wenn Trauer sich zeigt, kann das verunsichernd oder sogar furchteinflößend sein. Denn Trauer zu durchleben verändert uns. Das, was verloren gegangen ist, oder schon immer gefehlt hat, können wir beim Prozess des Trauerns auf eine Weise verinnerlichen.

Das Bild von unserem Leben, unserer Identität, was durch den Verlust (oder auch schon einen in der Zukunft drohenden Verlust) in tausend Stücke zersprungen ist, werden wir beim Trauern wieder zusammen setzen – aber auf eine neue Weise.

Es ist für viele Menschen nicht einfach, sich dem Trauern anzuvertrauen und sich in die Tiefen der inneren Seelenwelt hineinzuwagen, wo die Überreste unseres alten Selbst wie in einem Kessel durchgerührt, geköchelt und dann irgendwie neu miteinander verbunden werden.

Wofür willst du trauern?

Damit wir es wagen, kann es hilfreich sein zu reflektieren und zu wählen, wofür ich eigentlich trauern möchte? Eine konkrete Ausrichtung auf etwas Bestimmtes macht es viel leichter, mich zu trauen zu trauern. Es kann der Wunsch nach mehr Freude und Leichtigkeit in meinem eigenen Leben sein, der mich zieht, oder auch der Wunsch, für meine Liebsten jetzt und in der Zukunft mehr da sein zu können.

Auch der Wunsch, angesichts einer Notlage nicht resigniert, verzweifelt und wie in Ohnmacht zu verharren, sondern mich weiter engagieren zu können, ist für viele Menschen eine Motivation, ihre Trauerprozesse aktiv anzugehen.

Integration ist ein wesentliches Prinzip des Lebens

Daniel Siegel hat den Begriff der Integration für wesentliche Vorgänge des Geistes oder Verstandes geprägt. Sie ermöglicht, dass was verloren, chaotisch und unverbunden in uns ist (beispielsweise nach Verlusten oder auch nach traumatischen Erlebnissen), sowie alle unsere Gedanken, Emotionen, Sinneseindrücke und vieles mehr in ein zusammengehöriges größeres Ganzes eingewoben wird.

Integration lässt sich auch sozial oder sogar ökosystemisch denken. Dabei meint sie nicht, dass alles irgendwie ein und dasselbe wird, sondern dass gerade eben eine Vielfalt einzigartiger Bestandteile Verbindungen miteinander eingeht, die somit dann ein kohärentes Gesamtbild ermöglichen.

Trauerprozesse sind meines Erachtens nach im Kern Integrationsprozesse: Beim Weinen und Klagen tauchen wir tief ins Land unserer Seele, wir blenden das Hier und Jetzt ein ganzes Stück weit aus und erleben traumähnliche sinnliche Eindrücke, eine Mischung aus Erinnerungen, Bildern, Geräuschen. Beim Trauern können Menschen auch Dinge riechen, die nicht physisch da sind, Berührungen empfinden, Worte hören und vieles mehr erleben, das nur sie allein wahrnehmen können.

Dadurch verarbeiten wir den Verlust und holen nach innen, was uns im Außen genommen wurde. Wir durchleben vielleicht tausende Male die Momente bedingungsloser Liebe, die wir mit unserer verstorbenen Großmutter erleben konnten – bis sie ein Teil von unserem neuen, gewandelten Selbst werden, wir sie verinnerlicht haben.

Im Ergebnis kann das bedingungslose Lieben auch ein Teil von unserem eigenen Sein und unserer durch das Trauern gewandelten Persönlichkeit und Identität werden.

Sinn und Bedeutung

Einen Sinn („purpose„) in unserem Leben zu verorten, ist verbunden mit besserer seelischer und körperlicher Gesundheit. Diese Art von Sinn zu finden ist nichts, was wir einmal erreichen und dann für immer sicher geschafft haben. Denn unsere Geschichte davon, wer wir sind, woher wir kommen und wofür wir hier sind, wohin wir unterwegs sind – all das ist etwas, das sich im Laufe unseres Lebens immer wieder verändern darf.

Manchmal hören wir Redewendungen wie „Du wirst schon sehen, das hat alles seinen Sinn„, oder sogar ganz konkrete Zuweisungen von Bedeutungen für bestimmte Ereignisse. Das ist sehr heikel, vor allem wenn es um schmerzliche Erlebnisse geht.

Denn Leiden hat keinen Sinn an sich!

Wenn uns das Leben durch schlimme Verluste auf die Knie zwingt und wir uns fühlen wie nicht viel mehr als ein Häufchen Staub, ist es umso wichtiger, dass die Menschen, die uns begleiten, uns die Deutungshoheit überlassen über das, was wir durchleiden.

Denn Sinn und auch Bedeutung sollten nicht von außen übergestülpt werden, sondern sie sind etwas, das wir als Menschen selbst suchen, wählen und verleihen.

Gerade inmitten unserer Gesellschaft voller unterschiedlicher kultureller Wurzeln, individueller Lebensverläufe und diverser spiritueller Bezugssysteme und Werten, ist es essentiell, hier voll und ganz selbst entscheiden zu dürfen.

Oft lassen sich Sinn und Bedeutung nur mit Blick auf die Zukunft wählen

Eine leidvolle Erfahrung kann später Sinn machen, für die Person die sie erlebt hat. Doch fast nie findet sich Sinn im Ereignis selbst und oft noch nicht einmal in der Gegenwart, sondern erst in der Zukunft.

Eine Frage, sich dem anzunähern könnte sein: Was will und werde ich daraus machen?

Besonders hilfreich finde ich auch diese Frage, die ich vor vielen Jahren von Paul Raphael (Anishinabe und Friedensstifter in seiner Gemeinschaft) gelernt habe: „Wie kann das, was ich erlebt habe, mir dabei helfen, anderen zu helfen?“

Verlust als Zugkraft

Unsere Gesellschaft ist noch immer voller Diskriminierung für Menschen mit Beeinträchtigungen, Menschen anderer Hautfarbe, Menschen die geflüchtet sind, die sich nicht dem binären-Geschlechtssystem zugehörig fühlen oder von der heterosexuellen Norm abweichen, für Menschen die zu jung sind, oder zu alt oder schwach oder arm und vieles mehr.

Angesichts so viel anmaßender Herablassung, scheint es noch viel schwieriger, in Verlust und Leiden Sinn finden zu können.

Gerade viele schwerwiegende Verluste, beispielsweise Verlust eines Kindes durch Abtreibung, das Leid von Suchterkrankungen, das Erleben sexualisierter Gewalt oder auch einen geliebten Menschen durch Suizid zu verlieren, sind gesellschaftlich regelrecht stigmatisiert, und über sie zu reden, erzeugt oft beim Gegenüber nicht Mitgefühl, sondern sogar Abwehr.

Was helfen kann ist, die verbreitete Sicht hinter uns zu lassen, das Schicksalsschläge oder schlimme Lebensbedingungen einen Menschen fast notwendigerweise und irreparabel „kaputt“ machen würden.

Ich bin sehr dankbar im Kontakt mit Sobonfu Somé immer wieder ihre ganz besondere Sicht erleben zu können, die sich in etwa so zusammenfassen ließe:

Dies alles schreckliche ist dir widerfahren? Wow, was wohl aus dir mal alles werden wird!!!

Statt zusätzlicher Herabwürdigung der Leid tragenden Menschen begegnete sie ihnen mit Respekt, Achtung, Ehrfurcht und auch Neugier darauf, was für Gutes und Bedeutsames aus dem Tragischen erwachsen würde.

Was hast du verloren?

Unser Verstand ist schlau genug zu wissen, dass die Verletzungen der Vergangenheit nie wieder ungeschehen sein können. Das Leiden, vielleicht die Gewalt oder die traumatischen Erlebnisse, die wir hatten, verschwinden nicht einfach.

Doch statt uns lebenslang darauf zu fokussieren, durch sie wie gebrandmarkt zu sein, voll mit Narben und Makeln, die nie wieder weggehen, können wir uns der Möglichkeit öffnen, dass wir aus all dem Schlimmen dennoch, oder sogar umso mehr, etwas wunderbares machen können.

Eine Möglichkeit dafür, die sich bei uns bewährt hat, ist die leidvollen Erfahrungen durch die Brille von „Verlusten“ zu betrachten. Als ich ein kleines Kind war und vielleicht von meinen Bezugspersonen geschlagen wurde – was habe ich in dem Moment verloren? War es Sicherheit, Vertrauen, Unbefangenheit, ein Gefühl von Würde oder Kontrolle über meinen Körper?

Heute können wir nichts mehr an der Vergangenheit ändern – obwohl sie uns immer noch sehr stark belasten mag. Das kreiert ein fast unerträgliches Dilemma.

Das wunderbare an der Verluste-Brille ist, dass wir mit den Antworten, die wir finden, auch heute noch ganz schöpferisch weitergehen können: Es ist nie zu spät, mehr Sicherheit, Vertrauen, Unbefangenheit, Würde oder Kontrolle über meinen Körper in mein Leben zu bringen, für mich selbst Weichen zu stellen, Rahmen zu finden oder zu schaffen, die das Nachholen von dem ermöglichen, was mir damals verloren ging (oder vielleicht sogar schon immer gefehlt hat.)

Statt mit Ohnmacht und Hilflosigkeit konfrontiert zu sein, sind wir auf einmal handlungsfähig.

Eine Zugkraft im Leben

Gelingt es uns, die Verluste unseres Lebens auf diese Art und Weise zu betrachten, können wir oft auch unser Verhalten, unsere Entscheidungen und Wirken auf eine neue Weise wertschätzen. Denn nicht selten kann genau das, was wir selbst schmerzlich verloren haben, zu einer tiefen Sehnsucht in unserem Leben führen. So kann sich eine starke Zugkraft entfalten die bewirkt, dass wir aktiv, bewusst oder unbewusst, dem entgegen streben, was wir ersehnen.

Während wir auf dem Weg dahin sind, kreieren und bewirken wir selbst durch unser Handeln und Sein in der Welt Möglichkeiten und Räume dafür, dass eben diese Qualität sich einstellt – nicht nur für uns selbst erlebbar wird, sondern vor allem auch für andere.

Wenn mir beispielsweise als Kind das Erfahren von Sicherheit gefehlt hat, könnte ich – sofern ich mir dieses Verlustes bewusst werde und ihn betrauern kann – zeitlebens empfindsamer sein, was das Sicherheitsgefühl von mir selbst und anderen betrifft.

Körperliche oder auch emotionale Sicherheit könnte eine große Rolle spielen, in allem was ich in die Welt bringe. Meine verstärkte Wahrnehmung dafür und meine wachsende Kompetenz im Ermöglichen von Sicherheit kann im Laufe meines Lebens unzähligen anderen Menschen (oder auch anderen Mitwesen) zugute kommen.

Die Wellen der Trauer

In unserem Verständnis kommt Trauer in Wellen zu uns, die sich durch uns bewegen, oder von denen wir uns mitnehmen lassen. Wenn wir kleine Kinder beobachten, denen ein Verlust widerfährt, sie sich beispielsweise weh tun, können wir diese Wellen manchmal erkennen.

Sie verlaufen immer einzigartig, doch zeigen sie auch gewissen Ähnlichkeiten:

Am Anfang ist da ein Erschrecken, ein abruptes Innehalten, verbunden mit einem Orientieren im Raum. Oft halten sie sogar den Atem an, bis sie den beruhigenden Blick einer Bezugsperson erkennen, oder noch schnell zu ihr hinlaufen, Augen und manchmal auch den Mund weit aufgerissen.

Mit der Sicherheit kommt die Trauerwelle und sie geben sich dem emotionalen Ausdruck und dem Entladen der Anspannung im Körper hin.

Das Weinen und Schreien ist anstrengend und kräftezehrend. Oft kommt es uns selbst ewig lang vor (vor allem wenn es unsere eigenen Kinder sind und wir uns gerade in der stillen Stadtbücherei aufhalten! :-)). In Wirklichkeit dauert es meist nur wenige Minuten, in denen nichts weiter gefordert ist, als dass jemand mitfühlend und präsent da bleibt. Manchmal schauen die Kinder währenddessen, oft sind sie aber ganz in ihrem eigenen Prozess „unterwegs“.

Wenn die Trauerwelle abebbt, ist oft Erschöpfung spürbar. Mit ihr kann sich eine angenehme Leere einstellen, eine Stille oder innere Ruhe sich zeigen. Dies ist oft der Moment, wo das Kind wieder wie „auftaucht“, wo Augenkontakt wieder möglich ist.

Bei Kindern geht es oft sehr schnell, dass dann auch direkt Heiterkeit entsteht und sogar Freude oder Begeisterung sich zeigen. Während die Eltern sich noch den Schweiß von der Stirn wischen, ist das kleine Kind vielleicht schon längst kichernd und juchzend unterwegs zum nächsten Abenteuer.

Auch große, komplexe Trauer kommt in Wellen

Je älter wir werden, desto komplexer werden die Verluste, die wir erleiden oder derer wir gewahr werden. Trotzdem verlaufen die körperlich expressiven Prozesse des Trauerns wie Wellen – nur brauchen wir viele, sehr viele davon.

Im Alltag sind wir vielleicht oft allein mit ihnen, was viel viel besser ist, als gar nicht zu trauern.

Was wir trotzdem als Wesentlich erachten ist, zumindest irgendwann hinterher, mit einem anderen Menschen (oder wenn dies nicht geht einem Baum, einem Stein, einer Pflanze), unsere Geschichte zu teilen, damit wir gesehen und bezeugt werden können mit dem, was da Wesentliches in uns passiert ist.

Gerade wenn wir Phasen erleben, wo die Trauer kein Ende mehr zu nehmen scheint, wir das Gefühl haben, fast nur noch zu weinen, kann dies die fehlende Zutat sein: Denn indem wir bezeugt werden, wird unser innerlicher Prozess im Außen bekräftigt und kann sich dadurch echter und wirklicher anfühlen und ein Stück weit wie besiegelt werden.

Wir können dies nicht alleine schaffen, sondern brauchen dafür andere Menschen.

(Wenn dir niemand einfällt, dem du deine Trauergeschichte erzählen könntest, gibt es die Möglichkeit, dich bei der Mail– oder Telefonseelsorge zu melden, wo dir jemand einfühlsam zuhören und dich bezeugen wird.)

Auch Lachen spendet Trost

Eine oft verkannte Zutat für Trauerprozesse ist die Möglichkeit und der Raum, zwischen allem Weinen auch viel Lachen zu können. Vor über zwanzig Jahren lernte ich in einem Jahr an der Schauspielschule, dass die Muskel-Kontraktionen für Weinen und Lachen fast identisch sind, weshalb wir beides in ein und derselben Übung trainieren konnten.

Es besteht also eine gewisse Verwandtschaft zwischen Lachen und Weinen, und unserer Erfahrung nach ergänzen sie einander besonders gut. Ich würde sogar soweit gehen zu behaupten, dass nach einem intensiven Weinen sich mit der Erleichterung oftmals ein Drang zu lachen von ganz allein einstellt.

Während wir Lachen laufen dann eine Reihe von Vorgängen in unserem Körper ab, die Stress abbauen, Ängste und Anspannung wie weggeblasen erscheinen lassen, Schmerzen lindern und sofort zu mehr Wohlgefühl fühlen.

Auch hierfür spielt die Gemeinschaft eine wichtige Rolle: Wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind, ist es 30 mal wahrscheinlicher, dass wir lachen, als wenn wir allein sind. Dabei lachen wir kaum über Witze im engeren Sinne, sondern zumeist einfach über irgendwelche Aussagen. Während Menschen in Studien angeben sie würden lachen, weil sie etwas lustig fänden, lachen wir anscheinend vor allem um zu zeigen, dass wir einander mögen, verstehen und irgendwie zusammengehören.

Vielleicht könnten Lachen oder zumindest ein noch so zartes Lächeln ein Ausdruck davon sein, dass ein wenig Trost inmitten der Trauer angekommen ist. 

Hier kannst du mehr erfahren, wie du dir selbst zuhause oder unterwegs einen guten Rahmen für Trauerprozesse gestalten kannst: In unserem E-Büchlein „Mein Herz erleichtern„. 

Wünschst du dir, in sicher gehaltenem Rahmen gemeinsam mit anderen Menschen zu trauern? Dann könnte eine unserer Trauer-Veranstaltungen vielleicht das richtige für dich sein, wie unsere Winter-Trauerzeit im Februar 2023

Möchtest du von und mit uns lernen, selbst Trauerprozesse für andere zu begleiten? Dann findest du hier alle Infos über unsere Weiterbildung in Trauerprozessbegleitung

DISCLAIMER:

Die Empfehlungen in diesem Text ersetzen keine therapeutische Begleitung.

Wenn du das Gefühl hast, unter Angstzuständen, Depressionen oder anderen schwer auszuhaltenden seelischen Zuständen zu leiden – wisse, du bist nicht allein! 

Hilfe bekommst du bei zugelassenen Psychotherapeut*innnen, beispielsweise den hier im Verzeichnis aufgeführten Personen, vielleicht auch in deiner Region: https://www.somatic-experiencing.de/traumatherapeuten-finden/

In dringenden Fällen kannst du dich auch direkt an ein Krankenhaus wenden oder den Notruf 112 wählen.

Auch die Telefonseelsorge ist 24 Stunden kostenlos erreichbar (auch anonym): (0800) 1110111 oder (0800) 1110333 (für Kinder/Jugendliche) Im Internet: www.telefonseelsorge.de

Mentoring Coaching

…unsere leckersten Zutaten für den Jahreswechsel, aufgeschrieben von Elke Loepthien-Gerwert

 

Für mich ist die Raunachts-Zeit in jedem Jahr ein besonders fruchtbarer „Zwischen-Raum“ – wenn das alte Jahr schon so gut wie vorüber ist und das Neue noch nicht ganz begonnen hat. Durch ein bewusstes Zurückschauen, Integrieren und neu Ausrichten können wir den Platz zwischen Vergangenheit und Zukunft bewusst einnehmen und beides miteinander verbinden wie zwei elektrische Kabel – so dass Energie in voller Kraft strömen kann.

Wir alle haben und spüren in vielen Momenten unseres Lebens einen Zugang zur schöpferischen Kraft – unseren ganz eigenen, einzigartigen Zugang zum Leben. Leicht kann es von der Last und dem vielen Staub des Alltags überdeckt werden, wer wir sind und wofür wir hier in diesem Leben sein wollen. Dann verlieren wir oft nicht nur uns selbst immer mehr aus den Augen, sondern auch unsere Verbindung zur Natur und zur menschlichen Gemeinschaft um uns, die unseren einzigartigen Beitrag brauchen, so wie auch wir die anderen brauchen.

Ich habe 2008 das erste Mal einen sogenannten „Renewal of Creative Path Process“ kennengelernt, beschrieben von meinem damaligen Lehrer und Mentor Jon Young. Jon hatte, inspiriert von Gesprächen mit Chief Jake Swamp von den Mohawk und dessen Frau Judy, eine Reihe von Schritten entwickelt, die hierfür dienlich schienen. Schon damals war die Parallele zum europäischen Brauchtum rund um die Raunächte deutlich, und damit verbunden auch die Suche nach Wegen der „Medizin-Erneuerung“, die nicht indigene Bräuche kopieren, sondern für uns als Weiße authentisch, relevant und verwurzelt in unserer eigenen Verbindung zur Natur sein würden.

Seitdem verbringe ich in jedem Winter (und in kürzerer Form auch in jedem Sommer) Zeit damit, meinen Zugang zu den schöpferischen Kräften zu erneuern und zu erfrischen. Der Prozess hat sich dabei Stück für Stück verändert, gewandelt in eine Form, die für mich hier in diesem Teil der Welt und für mein Leben so wie es jetzt gerade ist passend und stimmig erscheint. Die Zeiten der Erneuerung sind für mich mit das Wichtigste im Jahreslauf – viele Monate lang spüre ich ihren Wind unter den Flügeln und fühle mich getragen, genährt und inspiriert für das was kommt.

Die Macht des Erinnerns

Jedes Erinnern, Benennen und Teilen von Erlebnissen stärkt ihre Kraft in unserem gegenwärtigen Dasein und für unser zukünftiges Leben. Erst durch das Würdigen von dem was war, können selbst kleine Ereignisse zu wahrhaftig heiligen Momenten für uns werden, die noch viele viele Jahre und Jahrzehnte lang unser Leben erleuchten.

Es scheint verrückt: Jedes Mal, wenn wir sie an die Oberfläche unseres Denkens zurückholen, verändern sie sich ein wenig. Das ist ganz natürlich und darin begründet, wie unser Erinnerungsprozess funktioniert. Denn alles was war, verbindet sich bei jedem Zurückschauen mit allem was jetzt gerade ist, und kann so immer wieder neu sinnvoll verknüpft werden.

Unser Erleben hier und heute, wie auch unser Gefühl zu dem früher Erlebten, beeinflussen die Bilder und Sinneseindrücke aus der Vergangenheit jeweils so, dass es gerade jetzt passt und Sinn ergibt. Deshalb ist es ein wichtiger Teil eines Erneuerungsprozesses, immer wieder hilfreiche Fragen zu stellen, durch die wir die Vergangenheit bewusst mit dem Jetzt und mit der Zukunft verbinden.

Die Kraft von Ritualen

Jede Jahreszeit bringt ihre eigenen Qualitäten und Grundstimmungen mit sich, das Rad der Zeit nimmt uns von ganz allein mit in diese „Felder“ hinein, in welchem bestimmte Denk- und Verhaltensweisen fast wie von selbst in uns entstehen können. So schlafen anscheinend viele Menschen rund um den Jahreswechsel länger, essen mehr, sind weniger draußen in der Welt unterwegs und treffen sich seltener mit Freund*innen oder Kolleg*innen und mehr mit ihren engsten Liebsten, und viele von uns sind in der Zeit frei von unseren alltäglichen Jobs.

Dadurch kann fast von selbst die Art von Innenschau erwachsen, die einen Erneuerungsprozess ausmacht. Noch wesentlich mehr Kraft können wir dem Ganzen jedoch verleihen, wenn wir die Zeit mit Ritualen beginnen und beenden. Die Kraft der Rituale ist wirklich erstaunlich, sie scheint sogar auf uns zu wirken, wenn wir gar nicht daran glauben, wie Francesca Gino und Michael Norton von der Harvard Business School seit einigen Jahren erforschen.

Hier findest du nun meine leckersten Zutaten für einen umfangreichen Erneuerungsprozess mit Fragen und Ritualen, mein destilliertes best practice aus den letzten 14 Jahren, für dich als Inspiration und zum Experimentieren damit, was deine eigenen leckersten Zutaten für einen gelungenen Erneuerungsprozess sein könnten.

Ich wünsche dir viel Freude beim Lesen und vielleicht selbst Ausprobieren!

Teil 1 – Die Jahreswechsel-Erneuerungszeit öffnen

Ich starte meine Erneuerungszeit gern zur Wintersonnenwende, dem Tag wo inmitten der längsten Dunkelheit das Licht „wiedergeboren“ wird.

Besonders nach einem hektischen Dezember oder einer Zeit der Anspannung kann es gut tun, die längste Nacht des Jahres, die Nacht vor der Wintersonnenwende, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang als Wach-Nacht zu verbringen, allein oder mit engen, vertrauten Menschen, an einem Feuer, mit einer Kerze oder auch in der Dunkelheit sitzend, und dabei ganz bewusst in der langen Stille zu sitzen, zu fühlen und zu sein.

Selbst wenn ich nicht die gesamte Nacht dafür nehmen mag, kann es wunderbar sein, zumindest ein, zwei Stunden innerhalb von ihr dafür zu nutzen, allmählich zur Ruhe zu kommen und mich einzustimmen auf den Zauber dieser besonderen Zeit im Jahreslauf.

So ein Besinnungs-Ritual kann besonders gut wirken, wenn ich am Anfang einlade, in dieser Zeit ganz zu mir zu kommen, mich geborgen, geliebt und genährt zu fühlen, Tiefe zu erleben und meinen inneren Wesenskern zu berühren und die Verbindung zu all dem deutlicher zu spüren, was für mich geistige Kräfte sind (beispielsweise Gott, Mutter Erde, die Kraft die Leben schafft, Geisthelfer, Engel, Ahn*innen, Elemente, mein Tiefenselbst oder Höheres Selbst oder was auch immer für mich vorstellbar und relevant ist).

Mit kleinen oder größeren Kindern gemeinsam kann man auch vor dem Schlafengehen nur ein bisschen die „Dunkelzeit“ würdigen, alle Lichter löschen und mit Psst und Shhh, so wie es die Kleinsten gerne mögen (vielleicht aneinander gekuschelt oder Hände haltend) ganz nah zusammensitzen und die Dunkelheit fühlen, die uns so weich umhüllt. Auch der Dunkelheit und Kälte zu danken kann schön sein, weil sie vielen Pflanzen und Tieren hier in diesem Teil der Erde ermöglicht, sich im Winter ganz tief auszuruhen, damit sie im Frühling in neues Leben starten können.

Es kann wunderbar sein auf diese Weise mit der Dunkelheit ein bisschen mehr Freundschaft zu schließen, auch zwischendurch kichern ist erlaubt – und dann nach einer Weile eine Kerze anzuzünden und damit die Wiedergeburt des Lichts auf eine ganz schlichte Weise zu feiern.

Mit oder ohne Wachnacht: Am Morgen des 21. Dezembers (in manchen Jahren ist es der 22. Dezember), bringe ich gern Dankes-Gaben in den Wald für die Lebewesen da draußen: Vogelfutter (aus heimischen Sämereien), (Bio-)Gemüse und Obst, und vielleicht auch etwas Fleisch (aus artgerechter, biologischer Tierhaltung) für meine fleischfressenden Nachbarn.

Besonders gern mag ich es, mit Kindern und Erwachsenen gemeinsam rauszugehen und für das Da-Sein all der anderen Lebewesen zu danken und auch für die vielen Begegnungen mit Tieren, Pflanzen, Pilzen, Elementen die wir im fast vergangenen Jahr hatten. Oft gibt es einen Ort in der Nähe, der sich hierfür besonders eignet, beispielsweise einen besonders großen, ehrwürdigen Baum, der das Ganze bezeugen kann.

Teil 2 – Einen Altar für die Lebens-Kräfte gestalten

Zurück aus dem Wald mache ich mich gern auf, um immergrüne Zweige zu holen, die wir später als Altar für die Kraft der Erneuerung in unserem Zuhause aufstellen. Wir schneiden keine extra dafür ab sondern suchen solange, bis wir welche finden, die von Herbststürmen oder Waldarbeiten liegen gelassen wurden.

Manchmal kaufen wir auch einen kleinen Baum bei Bauern hier in der Nähe und lassen uns dabei ganz davon führen welcher gern mit uns nach Hause kommen will? Manchmal ist es der für uns schönste und manchmal auch einer von dem wir vermuten, niemand anders würde ihm eine Chance geben wollen. Sobald er geschmückt ist, ist er immer zauberhaft!

Gemeinsam schmücken wir Strauch oder Baum mit vielen Sternen sowie anderen Symbolen für das Licht und die Kräfte der Natur, wie Äpfel, Zapfen oder Kugeln.

Wenn der Baum fertig geschmückt ist, laden wir die Lebens-Kräfte ein, für die kommenden Wochen durch ihn in unserem Haus zu leuchten für die kommenden Wochen, in denen das Licht langsam, ganz langsam zurück in die Landschaft kommen wird, und in denen wir das Bild der Hoffnung aufs Grün eines neuen Frühlings hier in unserem dunklen Zuhause so dringend brauchen können.

Teil 2 – Die leuchtenden Momenten feiern

Wenn du zurück schaust auf dein vergangenes Jahr…

  • Welche Erlebnisse waren für dich besonders schön und voller Freude?
  • Wann und wo hast du dich am stärksten verbunden gefühlt – mit dir selbst, mit der Natur, mit anderen Menschen in deinem Leben?
  • Welche faszinierenden Synchronizitäten haben sich ergeben?
  • Welche Momente oder Ereignisse waren so wundersam und besonders oder verrückt, dass sie sich magisch oder wie verzaubert anfühlten?

Diese besonders süßen Momente feiere ich gern auf gesellige Weise im allerengsten Kreis mit meinen Liebsten. Am Abend der Wintersonnenwende versammeln wir uns um ein üppiges und ausgedehntes Essen und erzählen schon währenddessen von den Ereignissen des Jahres, die unsere „Highlights“ waren, und danken für sie! Was oft schon ausgelassen und mit viel Heiterkeit beginnt, gipfelt im Auspacken der Weihnachtsgeschenke. Sie sind ein kleiner, anfassbarer Ausdruck der liebe-vollen Fülle, die wir empfangen haben und von der wir nun etwas weitergeben. Auch ganz ohne Geschenke zu feiern haben wir schon einmal gewagt, was noch mehr Aufmerksamkeit für all das ermöglicht, wofür wir ohnehin schon dankbar sein können.

Mit der spät-abendlichen Ruhe eröffnet sich ein Raum für tieferes, noch besinnlicheres Teilen, rund um die besonders kostbaren Momente, die wie Schätze golden hervorstrahlen aus diesem vergangenen Jahr, und auch die Wendepunkte, wo wichtige Weichen neu gestellt wurden und Veränderung entstanden ist.

(Das Teilen dieser und anderer Geschichten auch online stattfinden, oder sogar am Telefon. Es sind meiner Erfahrung nach vor allem die Absicht, die Verletzlichkeit und die Herzoffenheit, die die Qualität eines Gespräches viel stärker beeinflussen, als das Medium selbst. Auch wenn du bisher wenig Erfahrung damit hast, kann ich es dir wirklich sehr empfehlen mit technischen Hilfsmitteln in den Austausch mit anderen Menschen zu gehen, vor allem wenn die Alternative ist, ganz allein damit zu sein oder jemand anders ganz allein zu lassen. Hier findest du ein paar Anregungen für verbindungsförderndes Zoomen.)

Vor dem Schlafengehen oder am nächsten Morgen schreibe ich dann gern etwas darüber auf, auf einem großen Blatt Papier, mit bunten Farben, kreuz und quer mit Verbindungslinien zwischen aneinander, eine Art Mindmap der Schätze und Wendepunkte.

Diese Karte kann während der kommenden Tage und Wochen weiter ergänzt werden. Es ist oft erstaunlich, wie mit der Zeit mehr und mehr Erinnerungen auftauchen. Manchmal wandere ich bewusst durch meinen Kalender vom vergangenen Jahr, wo Spuren verzeichnet sind, die auf etwas hinweisen was war.

Nach dem ersten Sammeln und Festhalten der wundervollen Erlebnisse und Wendepunkte kommt für mich ein erster guter Zeitpunkt für ein 2er-Treffen oder einen (kleinen oder gerade zumindest online möglich auch größeren) Kreis mit Freund*innen, Ankern, Buddies oder anderen wichtigen Menschen in deinem Leben.

Manchmal ist es auch genau umgekehrt: Wenn es dir schwer fällt, für dich allein Sachen aufzuschreiben, kann es genauso wirkungsvoll sein, direkt mit anderen Geschichten auszutauschen und dann vielleicht hinterher dazu Notizen zu machen.

Teil 3 – Verbindungen & Zutaten

Im Teilen und Anhören dieser Geschichten rücken sich langsam aber sicher weitere Fragen in den Vordergrund. Manchmal sind diese und auch noch ganz andere Gedanken und Fragen auch von Anfang an schon dabei und wollen mit notiert sein. Der Zeitpunkt ist im Grunde nicht so wichtig, Hauptsache es ergibt sich ein guter Flow für dich.):

  • Warum und wie konnte dieses Erlebnis für dich so wundervoll sein?
  • Was waren die Zutaten, die es ermöglicht haben?
  • Welche Rahmenbedingungen haben es begünstigt?
  • Was davon kannst und möchtest du selbst für das neue Jahr wieder kreieren?
  • Was würdest du vielleicht im neuen Jahr anders machen?
  • Was sind die Orte, Menschen und anderen Wesen, oder auch Projekte und Organisationen, mit denen du dich besonders verbunden gefühlt hast? Und was war das Verbindende?
  • Was sind Theorien, Sichtweisen, (spirituelle oder Denk-) Schulen, Lern- oder Wirkfelder mit denen du dich besonders verbunden gefühlt hast? Und was daran war das Verbindende?

Diese Fragen lassen sich sowohl allein für mich, als auch im Gespräch mit anderen bewegen und erforschen. Auch hier schreibe ich gern auf, was mir als wesentliche Erkenntnis erscheint, mache mir Notizen über Ideen, die mir kommen, meistens nur ganz kurz, in wenigen, einzelnen Stichworten.

Für diese und die anderen Fragen kann es wichtig und sinnvoll sein, auch weiter zurück in die Vergangenheit zu schauen und sie für den Verlauf meines gesamten bisherigen Lebens beantworten. Dafür brauche ich natürlich ein bisschen mehr Zeit. Die Erkenntnisse jedoch und die Energie die durch das Wiederbeleben der längst vergangenen Schätze ins Hier und Heute kommt, sind ein großes Geschenk, dass ich mir selbst immer wieder machen kann.

Teil 4 – Verluste betrauern

Jedes Jahr bringt Herausforderungen mit sich – vielleicht waren es in diesem Jahr besonders viele! Es ist ein wichtiger Teil des Erneuerungsprozesses, das Schwierige und Leidvolle nicht unerwähnt zu lassen:

  • Was hast du in diesem Jahr verloren?
  • Welche schmerzlichen Erlebnisse und Erfahrungen hast du durchlitten?
  • Was bereust du?
  • Worin bist du gescheitert?
  • Welche Zukunftsvisionen und Wünsche haben sich zerschlagen?
  • Welche Erwartungen konnten sich nicht erfüllen, für dich und für deine Liebsten?
  • Welchen Groll hältst du in dir (gegen andere Menschen, Umstände, das Leben oder dich selbst?) Welcher tiefe und berechtigte Schmerz versteckt sich hinter diesem Groll?
  • Welche leidvollen Erfahrungen der Menschheit insgesamt und auch der Erde als großer Lebensgemeinschaft hast du in diesem Jahr mitbekommen und mit durchlitten?

Auch die Antworten auf diese Fragen halte ich in kurzen Schlüsselworten für mich selbst fest, und ich öffne mich für die Trauer über all diese Dinge, die meinen Schmerz darüber lindern und transformieren kann, in Medizin für meinen weiteren Weg und für die Gemeinschaft deren Teil ich bin. (Wenn du mehr über heilsames Trauern wissen möchtest, kannst du in unserem kleinen e-Büchlein hier viele Anregungen finden.)

(Selbst-)Mitgefühl schenken

Was wir vor allem brauchen, um schwierige Erlebnisse durchzustehen (sowohl unsere eigenen, als auch die von anderen Menschen) und dabei nicht verletzt, sondern verjüngt daraus hervor zu gehen, ist Mitgefühl. Gerade das Mitgefühl mit uns selbst (das gerade Menschen des westlichen Kulturkreises oft erst im Laufe ihres erwachsenen Lebens erlernen!) hilft enorm dabei, schlimme und sogar traumatische Erlebnisse so zu überstehen, dass wir an ihnen wachsen und reifen können, statt daran kaputt zu gehen.

Wenn ich in meiner Rückschau an schmerzhafte Punkte komme, hilft es mir sehr, mich selbst in den Arm zu nehmen, meine Hand zu halten oder mir selbst über den Kopf zu streicheln und dabei leise im Innen oder auch einfach laut vor mich hin mitfühlende Worte zu sprechen, wie beispielsweise: „das war wirklich schwer, schmerzhaft, schlimm…. Es ist ok, traurig oder verzweifelt zu sein, ich bin hier und für dich da.… mmh, das fühlt sich ganz ganz traurig an, und das ist völlig ok so.“

Selbst-Mitgefühl ist eine lebenswichtige Fertigkeit, die wir alle erlernen können, und die für mich einen wesentlichen Schlüssel für viele drängende Fragen unserer Zeit darstellt, allen voran dafür, wie wir lernen können, mit einander voller Mitgefühl umzugehen – nicht nur mit denen, die uns nah stehen, sondern auch mit denen, die wir als „die anderen“ ansehen und auch mit den vielen nicht-menschlichen Wesen auf der Erde.

Sinn verleihen

Oft sind es gerade die schwierigen Erfahrungen, die einen Freiraum für echte, tiefgreifende Veränderungen schaffen – welche wir zwar schon irgendwie ersehnen, doch oft auch gleichermaßen scheuen.

Die ihnen innewohnenden Schätze finden wir inmitten furchteinflößender Dunkelheit, wenn wir es wagen, genau hinzuschauen auf das, was uns so schreckt und schmerzt. Auch das Finden von Sinn und Bedeutung ist eine wesentliche Säule für das Verarbeiten schlimmer, traumatischer Erlebnisse. Dabei liegt der Sinn nicht in dem Erlebten selbst verborgen – es geht nicht darum, etwas zu finden was schon längst da ist. Denn Leiden ist an sich nicht sinn-voll. Es sind wir als Menschen, die aktiv und bewusst etwas Sinnvolles daraus machen können – indem wir auf eine besondere Weise auf das Geschehene schauen und dem Ganzen einen Sinn verleihen.

Und dieser Sinn liegt meines Erachtens nach nie in der Vergangenheit und selten in der Gegenwart, sondern fast immer in der Zukunft.

Eine der wichtigsten Fragen, um Schmerzliches auf diese Weise zu transformieren habe ich von Paul Raphael lernen können, einem Friedensstifter vom Volk der Anishinabe, der auch schon oft in Deutschland war. Sie lautet:

Wie kann dir das Erlebte ermöglichen und helfen, anderen zu helfen?

Die Frage verrät in sich bereits, dass ich den Sinn in den schlimmsten Erlebnissen oft erst dann finden kann, wenn ich nicht so sehr auf mich selbst und meinen eigenen Vorteil schaue, sondern das Wohl der Gemeinschaft in den Blick nehme.

Es kann sehr wohltuend sein, gerade auch diese Aspekte des Jahres mit anderen Menschen zu teilen und zu reflektieren, mit Partner*innen, Freund*innen, Gemeinschaft. Gemeinsam sind wir stärker und auch die schwerste Last lässt sich leichter tragen, wenn sie sich auf viele Schultern verteilt.

Die leidvollen Erlebnisse können wie ein besonders starker Kitt in einer Gemeinschaft sein: Sie helfen uns, die eigene Verletzlichkeit deutlich zu spüren, zuzulassen und auch zu zeigen, wodurch die Verbindung zwischen uns wächst und das Vertrauen ineinander gestärkt wird. Es ist ein großes Geschenk, in der eigenen Trauer von anderen Menschen gehalten zu sein, so wie es auch ein großes Geschenk ist, mich anderen mit meiner Trauer zu zeigen.

Nach den Weihnachtstagen und vor Silvester kann die günstige Gelegenheit sein, mit den engsten vertrauten Menschen für ein paar Stunden an einem Feuer zu sitzen. Egal ob es draußen inmitten der Kälte wärmend prasselt oder als Kreis von vielen Kerzen in einer gemütlichen Stube unsere Gesichter mit rotgoldenem Schein erhellt – das heiße Flackern der brennenden Flammen erinnert uns daran, dass auch die härteste Substanz transformiert werden kann.

Das Feuer kann ein wunderbares Gegenüber für unsere Trauer, Wut und andere Emotionen sein, und es leuchtet uns den Weg zum Einladen und Umarmen und Festhalten von dem Sinn, für den wir uns entscheiden, ihn unserem Leiden zu verleihen – zum Wohle anderer.

Mit kleinen Gaben an das Feuer kann ich dabei meine Absicht immer wieder bekräftigen, die Energie des Schmerzes in etwas Sinn-volles zu verwandeln, in Medizin für die Gemeinschaft des Lebens.

(Auch online kann dies gemacht werden, vor allem wenn jede Person sich selbst ein kleines (Kerzen-)Feuer vor Ort mit dazu holt.)

Teil 5 – Wer bin ich und wofür bin ich hier?

Wenn die oben aufliegenden Themen eines Jahres etwas abgeschöpft und verarbeitet sind, zeigen sich oft die darunter liegenden und damit verbundenen langen (vielleicht roten, goldenen oder ganz bunten?) Fäden unseres gesamten Lebenswegs.

Jetzt ist die Gelegenheit günstig, noch einmal ganz ganz weit zurück zu schauen und in den Raum einzuladen und zu würdigen, was schon lange her ist, doch immer noch bedeutsam und wesentlich für mich und meinen Lebensweg, meinen Seelenweg.

Mit wenigen wichtigen Menschen meines Lebens kann ich teilen (und/oder für mich selbst aufschreiben):

  • Wer bin ich?
  • Wo komme ich her, was sind meine Wurzeln, in meinem eigenen Leben und dem meiner Vorfahren?
  • Was waren wesentlichen Momente in meinem bisherigen Leben, in denen durch schlüsselhafte Entscheidungen und Begegnungen sich Weichen stellten, die den Verlauf der Dinge für immer verändert haben?
  • Welche Momente kann ich erinnern, in denen ich auf dem Gipfel meines eigenen Berges gestanden habe und einen weiten Überblick auf all das erhaschen konnte, was mein Leben, meine Persönlichkeit und Identität in der Welt, vor allem aber meine Seele ausmacht?
  • Welche Visionen/Ausblicke auf mein Leben habe ich in der Vergangenheit gescheit bekommen und wie haben sie sich bis jetzt verwirklicht?
  • Was sind die allertiefsten Sehnsüchte, die mich in diesem Leben im Innern bewegen und immer weiter und weiter ziehen?
  • Welche Früchte sind in diesem vergangenen Jahr durch mich in die Welt gekommen?
  • Welche Gaben, besonderen Eigenheiten und Qualitäten wirken durch mich in die Welt hinein? Wofür schätzen mich die Menschen, die mit mir zu tun haben?

Die letzte Frage können wir nicht für uns selbst beantworten – dafür brauchen wir den Blick und die Worte von anderen Menschen. Es ist wichtig und hilfreich den Mut aufzubringen (immer wieder) danach zu fragen:

  • Was magst du an mir?
  • Was schätzt du an mir?
  • Was tut dir gut wenn wir zusammen sind?
  • Welche Medizin glaubst du bringe ich mit in die Gemeinschaft?
  • Wie würdest du meine Gaben/ meine Essenz in Worte fassen und beschreiben?

Ich führe seit vielen Jahren ein kleines Büchlein in dem ich sammle, was mir an Wertschätzung ausgesprochen wird. Wenn ich zur Jahreswechsel-Erneuerungszeit allein bin, aber auch zwischendurch, wann immer ich es brauche, schaue ich in das Büchlein hinein wie in einen Spiegel, in dem ich besser wahrnehmen kann, was durch mich in die Welt kommt, welche Qualitäten.

Das jedem einzelnen Menschenkind innewohnende Genie oder die individuelle Gabe hat dabei selten mit einer konkreten Kunstform zu tun. Der Begriff trifft nicht nur auf die Meister-Musiker*in zu, vor der die ganze Welt sich verneigt, ganz im Gegenteil. In unserer Kultur hören wir oft unterschwellig oder sehr deutlich, dass nur wenige Personen wirklich begabt sind – und wir selbst und auch unsere Liebsten um uns herum vermutlich gar nicht dazugehören.

Dabei bringt jede Person ganz klar die Sorte von Gaben mit, die alle anderen in ihrem Kreis jeden Tag brauchen, einfach damit wir gemeinsam existieren und gedeihen können.

Unser „Genie“ ist dabei nicht das, was wir tun – sondern wie wir etwas tun, nämlich auf unsere ganz besondere, einzigartige Art und Weise.

Unsere Gaben sind nicht unsere Begabungen (wie musizieren zu können), sondern vielmehr eine Mischung aus unseren Talenten, unseren Sehnsüchten, die uns lenken, unserem einzigartigen Stil mit dem Leben umzugehen, und vielem mehr, was eine herrliche Wolke aus Worten, Geschmäckle und spürbarer Besonderheit ergibt.

Es ist ganz natürlich, dass wir unser inneres Wunderwerk nie ganz und gar (er)fassen können – dafür ist es viel zu komplex und geheimnisvoll. Doch uns ihm anzunähern ist wichtig dafür, uns selbst zu spüren und mit wachsendem Vertrauen und Zufriedenheit das hinschenken zu können, wofür wir in dieses Leben gekommen sind.

Für mich ist mit das allerwichtigste daran, mich mit meinen Gaben zu beschäftigen, dass es mir hilft, mit mehr Vertrauen, Hingabe und Freude wirklich für die andern da zu sein und zu handeln – für meine Liebsten, aber eben auch für die Gemeinschaft allen Lebens.

Teil 6 – Das Leben feiern

Mir all der Gaben bewusst zu werden, die ich in mir selbst und in anderen entdecken kann, füllt das für Glück bereitstehende Gefäß in meinem Inneren bis über den Rand mit Dankbarkeit und Freude. Das Ende des Jahres ist für mich eine stimmige Gelegenheit, das ganze Leben, das so viel Fülle schenkt, noch einmal besonders ausgelassen und energievoll zu feiern.

Silvester macht es möglich, die vielen Worte und Gedanken ruhen zu lassen und stattdessen den Körper zu bewegen, zu tanzen, zu spielen, und ganz besonders fröhlich zu sein.

(Auch das kann online gehen. Hier findest du Anregungen für eine Dance-Party über Zoom, von denen schon seit Monaten weltweit jede Menge stattfinden: https://medium.com/tixel/how-to-host-a-zoom-dance-party-970bea59b76.)

Wenn ich lange und intensiv zurückgeschaut habe, deutlicher wahrnehme und tiefer verstehe was war, kann ich das Jahr bewusster beschließen, abschließen, und die letzten paar Stunden und Minuten bewusst zelebrieren.

Ich mag es sehr, wach zu bleiben bis nach unserer Zeitrechnung mitten in der Nacht das alte Jahr endet und das neue Jahr beginnt.

Ich beginne das neue Jahr gern mit viel Stille und aufmerksamem draußen Sein, allein oder zusammen mit meinen Liebsten einen Spaziergang zu machen, um vor allem die nicht-menschlichen Wesen in unserer Umgebung im Neuen Jahr zu sehen und zu grüßen.

Am liebsten besuche ich ein natürlich ganz kaltes Wasser an einem Bach, Flüsschen oder See, um das lebensspendende Element zu segnen und um für mich und meinen Liebsten von den Kräften und Wesen in der Natur einen Segen zu erbitten, einfach für Gesundheit, Freude und Lebendigkeit für das neue Jahr.

Mich am Neujahrstag allein oder zusammen mit meinen Liebsten draußen in der Natur zu waschen (zumindest die Hände oder die Stirn) oder sogar komplett zu baden hilft mir, die Lebenskraft in eine neue Runde zu schicken und mich voll und ganz bis in die Tiefe erfrischt und erneuert zu fühlen.

Teil 7 – Der Nordstern

Ein Nordstern steht für etwas, das uns Orientierung für unseren weiteren Weg bietet, auch wenn wir es nie vollständig erreichen können. Die Jahreswechsel-Zeit ist eine wunderbare Zeit, um unseren Nordstern zu überprüfen und uns immer wieder neu auszurichten, nach dem was uns am Wichtigsten ist.

Statt mir konkrete, messbare Ziele für das kommende Jahr zu setzen, setze ich meinen Kurs auf Werte, die mir wirklich am Herzen liegen. Ich finde es hilfreich, diese Werte in jedem Jahr wieder neu abzuschreiben und für mich selbst dadurch festzuhalten. Sie könnten auch in Form von Gedichten, Liedern, Bildern oder Skulpturen, selbst symbolisiert von gefundenen oder gekauften Gegenständen eine (an)fassbare Form finden, die mich durch das kommende Jahr begleiten kann, wenn ich ihnen einen Platz in meinem Zimmer schenke.

Hilfreiche Fragen um ihnen auf die Spur zu kommen könnten sein:

  • Was sind die grundlegenden Werte in deinem Leben?
  • Was ist dir am wichtigsten und liegt dir wirklich am Herzen?
  • Was sind die tieferliegenden Bedürfnisse und großen Sehnsüchte, deren Erfüllung du dir immer wieder (neu) wünschst?
  • Mit welchen Intentionen möchtest du in das kommende Jahr gehen?
  • Welche Qualitäten möchtest du einladen, für dich selbst und für alle die mit denen du verbunden bist?

Zusätzlich zur Innenschau bitte ich am Neujahrstag gern irgendein Orakel, mir etwas über das zu verraten, was mich im neuen Jahr erwartet, zum Beispiel in dem ich Karten ziehe oder einen Spaziergang mache, bei dem ich eine Frage im Herzen trage.

Besonders hilfreich finde ich dabei diese Fragen:

  • Was wird durch mich kommen?
  • Was kann mich unterstützen?
  • Was brauche ich?
  • Worauf kann ich meine Aufmerksamkeit lenken, das besonders hilfreich wäre?

Oft entdecke ich durch die Symbolik der Karten oder die Ereignisse auf meinem Spaziergang weitere Qualitäten, Werte und Intentionen, die ich ebenfalls einladen möchte fürs neue Jahr.

Einladen und Bekräftigen

Indem ich die Werte in Worte fasse, sie denke oder ausspreche, hole ich sie bereits in den Raum. Auch wenn sie immer Ideale bleiben, die nicht vollkommen verwirklicht sein werden, stellen sie sich als Qualitäten schon ein Stückchen weit ein, sobald ich sie über die schöpferische Wirkkraft der Sprache berühre.

Einen Wert denken, sprechen, beten oder als Symbol in meine Hand zu nehmen ist für mich, wie eine Tür zu öffnen zu einem Raum voller Möglichkeiten, wo eben diese Qualitäten enthalten und lebendig sind. Insofern ist jedes Werte-Wort ein Zauberwort!

Wenn ich mich wage, es zu sprechen auch wenn andere Menschen dabei sind, kann ich seine Wirkkraft verstärken.

Deshalb mache ich gern am ersten oder zweiten Januar ein Bekräftigungsritual, wo ich (allein oder zusammen mit anderen), all das an Werten, Intentionen oder Qualitäten einlade, was ich mir für das neue Jahr wünsche, und zwar so allgemein wie möglich, ohne es mit konkreten Bildern in Verbindung zu bringen (beispielsweise würde ich um „ein geborgenes Zuhause“ oder um das „Gefühl, voll und ganz zuhause zu sein“ bitten, nicht um „ein Haus mit einem Holzofen und großen Fenstern“).

Für dieses Ritual braucht es eine oder mehrere Gaben, die ich mit meinen Wünschen zusammen verschenke. Ein großes oder kleines Feuer könnte einen guten Empfänger dafür bieten (mit brennbaren Gaben wie beispielsweise Haferflocken oder selbst gesammeltem getrockneten Beifuß), oder ich könnte die Gaben (biologisch leicht abbaubar wie getrocknete Kräuter oder auch Steine, die ich mag) einem fließenden Gewässer übergeben, mit Gebeten für ihre Erfüllung. Auch große Bäume sind manchmal geeignete „Empfänger*innen“ für Gebete und Gaben.

Es kann zutiefst berührend sein, hierbei neben den Gebeten für mich selbst vor allem auch für das Wohlergehen meiner Liebsten und für alle anderen Wesen zu beten und die Qualitäten einzuladen, die ich für die Welt ersehne.

Je mehr ich meine Zeit, Aufmerksamkeit und Lebenskraft zur Verfügung stelle, um das Wohl des größeren Lebensnetzes zu bedenken, desto stärker kann ich mich als Teil des Ganzen und auch selbst davon getragen fühlen.

Teil 8 – Zukunftsbilder

Indem ich Intentionen setze und Qualitäten und Werte einlade, stelle ich in meinem Innern eine Weiche, ich setze meinen Kurs in genau diese Richtung. Ich öffne ein Türchen einen Spalt breit, durch das nun Leben strömen kann. Man könnte auch sagen, ich setze mir eine ganz bestimmte Brille auf, durch die ich nachfolgend die Welt betrachte und leicht verändert oder auch ganz neu wahrnehmen kann.

Die Zeit nach dem rituellen Bekräftigen der Neujahrs-Intentionen, wenn im Januar immer noch tiefe Dunkelheit herrscht, die Landschaft kahl und eisig bleibt, während ab und zu die Misteldrossel wehmütig singt und in den langen dunklen Nächten die Füchse heiser bellen, ist für mich eine besondere Zeit des Nichtwissens-und-damit-gut-Seins.

Im Bauch der Erde ist nun alles Vergangene verdaut und bereit ein fruchtbarer Mutterleib für das Neue zu sein. Ich versuche den ganzen Monat soweit es möglich ist termin-frei zu halten, eine gute Portion Urlaub zu machen und danach auch noch zwei, drei Wochen lang nur meinem eigenen Arbeitsflow zu folgen, damit genug leerer Raum da sein kann, in dem die zarten kreative Funken der schöpferischen Kraft und Inspiration sich einfinden können.

Nach und nach zeigen sich in meinem Innern mehr Bilder darüber, was die Zukunft von mir brauchen könnte und wie sich die gesetzten Intentionen, Werte und Qualitäten in diesem neuen Jahr verwirklichen könnten. Auch konkrete Bilder für Projekte zeigen sich, sowohl für die Arbeit, als auch persönlicher Art. Diese Bilder nähre ich durch meine Aufmerksamkeit, mein Lauschen, mein Hineinspüren – wie würde es sich anfühlen, wenn…?

Erst wenn Anfang Februar das Licht sich verändert, die Knospen der Bäume anschwellen, im Innern ihrer Stämme das Wasser wieder strömt und tief in der Erde die Vorfrühlingskraft sich zu regen beginnt, ist bei uns die Zeit gekommen, unseren immergrünen Strauch- oder Baum-Altar zu schließen und aus dem Haus zu schaffen, meistens am zweiten Februar.

In kleine Stücke zerteile ich die meist schon ganz trockenen Zweige und Äste. Mit jedem Teilchen davon, das ich ins Feuer gebe, spreche ich die Wünsche und Widmungen für das Jahr, so konkret wie ich sie in meinen inneren Bildern sehen oder erahnen kann.

Prasselnd verbrennen sie und dies ist ein guter Zeitpunkt um auch für all die Einsichten und den Zauber der gesamten Jahreswechsel-Erneuerungszeit zu danken. Jetzt sind die dazugehörigen Rituale für mich abgeschlossen und gemeinsam mit meinen Liebsten feiern wir unser Frohlocken auf alles was kommt, meistens mit einem richtig leckeren Essen hinterher.

Das Drumherum: Einen lebendigen Rahmen gestalten

Tiefes Reflektieren ist anstrengend und fordernd für uns. Es fördert Emotionen an die Oberfläche, die einen Ausdruck finden wollen, und auch die mit ihnen verbundene Energie will umgesetzt werden.

Deshalb empfehle ich dir gerade in Zeiten intensiver Innenschau auch genau das Gegenteil bewusst mit einzuplanen: Oberflächliches, Lustiges, Albernes, Leichtherziges, Verspieltes und pure Unterhaltung.

Für mich sind schon seit vielen Monaten Komiker (beispielsweise dieser hier, auch vor allem dieser und manchmal auch noch der) fast lebenswichtig geworden – ihr frischer Blick auf die Widernisse unserer Zeit hat für mich zutiefst tröstliche Wirkung und lässt mich entweder weniger hilflos fühlen – oder zumindest nicht so allein mit meinem Frust.

Wenn du die Möglichkeit hast, life oder per Telefon mit Kindern in Kontakt zu sein, würde ich dir wärmstens empfehlen, sie zu nutzen. Gerade wenn es nicht deine eigenen Kinder sind, brauchen sie dich vielleicht besonders, weil sie sich in den Ferien vermutlich mit ihren eigenen Eltern und engsten Familienangehörigen ab und zu ziemlich langweilen! :-) Eine Liste kinderfreundlicher Witze, die du am Telefon oder life vor Ort mit ihnen teilst, könnte für euch alle einen Moment herrlicher Leichtigkeit ermöglichen.

Wichtig ist es in der Erneuerungszeit auch, ganz besonders intensiv für deine körperlichen und seelischen Bedürfnisse zu sorgen:

  • viel, viel Wasser trinken
  • lange schlafen 
  • an der frischen Luft bewegen, spazieren gehen
  • Sonne tanken wenn sie sich zeigt
  • kuscheln mit Haustieren, Menschen mit denen dies möglich ist, aber auch flauschigen Decken oder Kissen
  • Berührung schenken und empfangen, auch einfach von dir selbst für dich selbst 
  • leckeres Essen für dich zuzubereiten (oder auch die Gastronomie vor Ort durch Bestellungen zu unterstützen)
  • dir selbst Wärme spenden, um mehr Geborgenheit spürbar zu machen
  • mit großen oder kleinen Taten für jemand anders etwas Liebes tun
  • vor allem wenn du dich ängstlich oder angespannt fühlst und dein Nervensystem Unterstützung dabei braucht, sich selbst zu regulieren:
  • und was immer deinem Körperwohl noch gut tut!

 

Möchtest du mehr darüber lernen, wie du Menschen auf deren Lern- und Lebensweg unterstützen
und begleiten kannst? Dann könnte dir unser Online-Paket zum Thema Mentoring gefallen….

trauer mourning

Spontane Trauerprozesse sind ein Segen – aber was braucht es um sie zu begleiten?

…aufgeschrieben von Elke Loepthien-Gerwert

 

Kaum war die Frage „Wie geht’s dir denn eigentlich?“ ausgesprochen, fingen die Tränen schon an zu fließen. Der erste Satz, noch vor der eigentlichen Antwort wurde: „Ich weiß gar nicht, warum ich jetzt so weine.“

Wenn Menschen sich sicher genug fühlen (oder die Traurigkeit groß genug wird), wagt die in ihnen angestaute Trauer, sich zu zeigen. Oftmals kommen die ersten Tränen dann ganz überraschend, sogar für die Person selbst!

Je nachdem wie viel Trauer sich angesammelt hat, kann dies auch in Situationen passieren, die von außen betrachtet gar nicht besonders sicher erscheinen:

  • zwischen Tür und Angel wenn gerade keine Zeit zu sein scheint
  • trotz ungeduldigen oder strengen Blicken anderer Menschen im Raum
  • vielleicht geschieht es irgendwo mitten in der Öffentlichkeit…

Meistens jedoch zeigt sich Trauer praktischerweise in jenen Momenten, wo gerade Raum für sie da ist – oder zumindest da sein könnte.

Trotzdem kommt mit den Tränen einer anderen Person oft große Unsicherheit in den Raum. Viele von uns konnten die Kompetenz selbst zu trauern oft nur wenig entwickeln, aufgrund unserer Sozialisation inmitten von kulturellen, historisch entstandenen Tabus. Ebenso haben wir gesellschaftlich nicht (ausreichend) gelernt, wie wir mit dem Weinen anderer hilfreich umgehen können.

Um diese maue Ausgangslage noch schwieriger zu machen, umgeben uns in Filmen und Literatur jede Menge negative Vorbilder – wo leider eher gezeigt wird, was eben nicht hilfreich ist.

Trauerprozesse sind wichtig – auch als Teil unseres alltäglichen Lebens

Neben den intensiven Trauer-Räumen im Rahmen unserer Trauer-Feuer erleben wir auch bei allen anderen Veranstaltungen und im Alltag immer wieder, wie wichtig und wundervoll es ist, wenn Menschen sich gegenseitig beim Trauern beistehen können.

Spontane Trauerprozesse begleiten ist etwas, dass wir auch als psychologische Laien füreinander schenken können – eine alltagsrelevante Kompetenz, die unserer Ansicht nach nicht zu schwer zu erlernen ist. Gerade für Menschen, die mit Kindern arbeiten oder zusammenleben ist es essentiell, deren Trauer auf eine Weise begegnen zu können, die das im Körper angelegte Potential dabei unterstützt, sich zu entfalten.

Deshalb haben wir die für uns wesentlichen Punkte dazu gesammelt, wie wir möglichst hilfreich damit umgehen können, wenn jemand anders zu weinen beginnt?

Hier sind auf unseren persönlichen Erfahrungen mit Trauerarbeit basierende Zutaten: 

1. Ehrfurcht & Gelassenheit

Auch wenn es bisher nur wenig Forschung dazu gibt, was genau im Körper passiert, wenn wir trauern und dabei weinen – die Chancen stehen ziemlich gut, dass dieser „Gefühlsausbruch“, egal wie schmerzlich und leidvoll er erscheint, trotzdem eine befreiende und erleichternde Wirkung haben kann.

Wenn es los geht hilft es deshalb, sich daran zu erinnern, dass da gerade etwas besonderes passiert – eine geheimnisvolle Möglichkeit, wie sich die inneren Selbstheilungskräfte zeigen und einen wirklich wohltuenden Wandel bewirken können.

Wenn wir in dem Moment wo Trauer anklopft darüber Ehrfurcht oder sogar Dankbarkeit für das was bevorsteht in uns finden können, entsteht in uns eine innere Weite. Dadurch sind wir in der Lage, leichter den Raum für große Themen und Prozesse wie das Trauern zu halten – weil wir mit unserer eigenen Gelassenheit und entspannten Gefasstheit ein wenig mehr Sicherheit vermitteln.   

Hebamme für Trauerprozesse sein

Ein Bild das wir in unserer Arbeit oft nutzen, um eine hilfreiche innere Haltung zu erleichtern, ist das von einer Geburt:

Wenn wir jeden kleinen Trauerprozess als eine Art Neugeburt für ein zumindest ein bisschen gewandeltes, erneuertes Selbst ansehen, können wir auch trotz schwerer Emotionen die sich zeigen, doch wie eine Hebamme aufmerksam, mitfühlend und sogar vorfreudig da sein, bezeugen was passiert und einen schützenden Rahmen dafür halten.

Wenn du selbst in dir Unsicherheit fühlst, wenn jemand zu weinen beginnt, kann es helfen, deinen Vagus-Nerv bewusst anzuregen.  Der Vagus ist ein komplexes Organ, das sich fast durch unseren gesamten Oberkörper zieht und die Aktivität vieler anderer Organe beeinflusst. Der US-amerikanische Traumatherapeut und Autor Resmaa Menakem nennt ihn auch unseren „Seelen-Nerv“. Ihn zu stimulieren hilft unter anderem dabei, innere Gelassenheit zu finden, offen, aufmerksam und mitfühlend mit anderen Menschen kommunizieren zu können und auch angesichts schwieriger Emotionen handlungsfähig zu bleiben.

Wir können den Vagus jeden Tag stärken, auf ganz verschiedene Weisen, was sich auf unser allgemeines Wohlbefinden auswirkt. Wenn Trauer los geht, vor allem wenn wir ein wenig ängstlich und nervös darüber sind, brauchen wir einen schnellen Impuls für den Vagus-Nerv, beispielsweise ein paar tiefe Atemzüge bei denen wir bewusst unser Ausatmen verlängern oder auch ein Gebet, dass wir mit oder ohne Worte in Stille in uns sprechen oder fühlen, beispielsweise für Unterstützung bei dem was jetzt gerade geschehen will.

 

2. Aufmerksamkeit & Mitgefühl

Für die wohltuende oder sogar kathartische Wirkung des Trauerns ist es vor allem wichtig, dass Tränen & Weinen von der Person selbst angenommen werden können. Leichter geht das, wenn deutlich spürbar ist, dass es wirklich ok für die anderen Personen im Raum ist, dass das jetzt gerade passiert.

Das können wir als Gegenüber non-verbal signalisieren: mit offenem Blick, bestärkendem Nicken oder gerade auch wenn sich jemand wegdreht, mit ganz klaren einfachen Aussagen wie: „Es ist ok“ oder „ich habe Zeit“ oder „wir sind bei dir.

Trauerprozesse können eine große Kraft entfalten. Manchmal fühlt sich das dann an, als ob der Körper die Sache einfach in die Hand nimmt und man mit Verstand und Willenskraft fast nichts dagegen tun kann.

Dabei ist es in vielen gesellschaftlichen Kontexten völlig tabu oder ein Zeichen von Schwäche, einfach loszuheulen. Kein Wunder also, dass viele Menschen innerlich Scham empfinden und gegen ihre Tränen ankämpfen.

Nicht trauern wollen

Nicht wenige Erwachsene heute wurden als Kinder fürs Weinen bestraft oder isoliert, weggeschickt bis sie sich wieder „beruhigt“ haben. Für ein Kind, dessen Leben davon abhängt, die Beziehung zu den engsten Erwachsenen nicht zu verlieren, wird es dadurch schnell zur Überlebensstrategie, nicht oder möglichst wenig zu weinen. Strenge Regeln im Berufsleben oder auch im Freundeskreis können solche Strategien noch verfestigen.

Ein auf diese Weise verinnerlichter Druck, bloß nicht zu weinen, kann deshalb wenn Trauer anklopft sogar zu einer regelrechten Überlebensreaktion führen, durch die ein Mensch aus innerer Not heraus statt zu trauern beginnt zu kämpfen, flüchten oder in Starre zu verfallen. Über längere Zeiträume Trauer zu unterdrücken kann laut unserer Lehrerin Sobonfu Somé depressiv machen, zu Krankheiten, Aggressionen bis hin zu Selbstverletzungen oder Gewalt gegenüber anderen führen.

Auch wissenschaftliche Studien weisen darauf hin: Emotionen zu unterdrücken steht in Verbindung mit einem schwächeren Immunsystem, Herzerkrankungen, Bluthochdruck sowie mit seelischen Problemen wie Angstzuständen und Depressionen.

Je mehr Gelassenheit und großherziges Willkommen wir als Gegenüber ausstrahlen können, desto leichter kann es für die weinende Person werden, auch kritischen inneren Stimmen zum Trotz den psycho-biologischen Prozessen ihres eigenen Körpers doch zu vertrauen und die Trauer jetzt fließen zu lassen.

Damit wir hilfreich da sein können, müssen wir innerlich still werden können und in der Lage sein, alle Impulse uns einzumischen, die andere Person anzufassen, ihr Taschentücher hinzuhalten oder auf irgendeine andere Art und Weise den eigentlichen Prozess zu beeinflussen, innerlich beiseite schieben.

Herzenswunsch für Wohlergehen

Mitgefühl – so wie wir es meinen – bedeutet, eingestimmt das Leiden des anderen wahrzunehmen, während wir gleichzeitig unsere Aufmerksamkeit voll und ganz auf das Wohlergehen dieser Person richten und von Herzen einen tiefen Wunsch dafür halten, hilfreich da sein zu können, für das Wohlergehen dieses anderen.

Ein mitfühlender Blick auf das Leiden der anderen (und auch auf unser eigenes Leiden) hilft unserem Nervensystem dabei, gut reguliert zu bleiben während wir die Gefühle und Emotionen der anderen wahrnehmen. Damit dient Mitgefühl uns auch dafür, emotionalen Burnout zu vermeiden, selbst wenn wir andere unter schwierigen Umständen begleiten.

Wenn du in einer Situation bist, in der Zeit nur begrenzt zur Verfügung steht, kann es in diesem Moment hilfreich sein, allen im Raum (einschließlich der trauernden Person) zu signalisieren, dass es „ok ist, wir haben Zeit hierfür, das hier ist wichtig!

(Meiner Erfahrung nach ist immer genug Zeit für einen spontanen Trauerprozess. Denn was sich für die Person, die es durchlebt, manchmal schon vorher wie ein Fass ohne Boden und mittendrin dann wie eine kleine Ewigkeit anfühlen kann, eben weil es so intensiv ist, dauert tatsächlich eigentlich immer nur ein paar kurze Minuten.)

 

3. Einfühlen & Validieren

In dir kannst du mit-fühlen, was die andere Person durchmacht, die Emotionen der anderen werden auch in deinem Körper fühlbar. Wenn du dies zulässt kann dein Gegenüber sich „gefühlt fühlen“ – eine wesentliche Zutat dafür, dass der Prozess sich entfalten kann. Indem du gleichzeitig den Wunsch für das Wohlbefinden des anderen lebendig in dir hältst kannst du deinem eigenen Nervensystems beim sich selbst regulieren helfen.

Das Nervensystem deines Gegenübers kann dank dieser Mischung an der Gelassenheit in dir andocken und sich selbst auch regulieren. Deine Empathie zu schenken ist besonders wichtig wenn Menschen damit ringen, ihre Trauer überhaupt zuzulassen. Dein mit-empfinden kann ihnen dabei helfen, sich selbst intensiver zu fühlen während sie sich gleichzeitig von deiner Aufmerksamkeit sicher gehalten fühlen.

Validieren bedeutet, die Gefühle und Emotionen anzuerkennen und sie als „ganz menschlich“ und „normal“ zu bestätigen. Praktisch kannst du das beispielsweise durch Nicken vermitteln, auch durch gelegentliches zustimmendes Brummen, bestätigenden Augenkontakt und anderes non-verbales Ausdrücken deiner inneren Zustimmung zur Wahrhaftigkeit der Empfindungen, Bilder, Gefühle, Erkenntnisse und mehr die ausgedrückt werden.

(Selbst wenn die Person beim Trauern etwas äußert, dass dir inhaltlich nicht wirklich wahr erscheint, ist es trotzdem wichtig zu validieren, dass es geteilt wird, selbst wenn es nur darum geht das Sprechen an sich als einen essentiellen und vielleicht notwendigen Schritt für ein sich entwickelndes Verständnis der eigenen Situation zu bekräftigen.)

 

4. Ankern & Beschützen

Manchmal sind wir die einzigen Menschen, die einen Trauerprozess mitbekommen oder wenngleich auch viele ihn vielleicht bemerken manchmal die einzigen, die keine Angst davor haben. Je unruhiger die Umgebung ist und je intensiver eine Person ins Trauern kommt, desto wichtiger ist es, dass wir wirklich dabei bleiben, den Menschen nicht allein lassen.

Inmitten der turbulenten Emotionen können wir ein Anker sein, der Halt gibt auch wenn es gerade stürmt.

Manchmal ist es dafür auch wichtig, für physischen Schutz zu sorgen, beispielsweise Schatten zu spenden, eine warme Decke zu holen, Schaulustige weiterzuschicken oder zu beruhigen, oder auf eine andere Weise dafür zu sorgen, dass die trauernde Person keinen physischen Gefahren ausgesetzt ist.

Denn Trauern kann still und zart ablaufen, aber auch durchaus Aufsehen erregend daher kommen: Mit Schwitzen, Zittern, lautem Schluchzen und Beben, Jaulen und Wehklagen, ruckartigen Bewegungen oder auch Ausdrücken von Wut und Zorn.

Falls jemand im Trauern beginnt, sich selbst zu beschimpfen (oder auch anderen Menschen gegenüber Aggressionen zu äußern) kann es wichtig sein, schützend einzugreifen. Denn was wir uns Schlimmes sagen, ist schwer wieder zu vergessen. Auch hier können ganz einfache Botschaften helfen, die Selbstvorwürfen oder Selbsthass etwas entgegen setzen und zeigen, dass jemand einfach liebe-voll da ist, zum Beispiel: „Für mich bist du ein Mensch, der wie alle anderen Menschen verdient geliebt zu werden/ respektiert / akzeptiert / gleichwürdig behandelt zu werden…“

 

5. Raum & Fürsorge

Wenn die Welle der Trauer abgeklungen ist, ist es wichtig, dem Menschen noch ein bisschen Zeit zu lassen.

Oft fühlen Trauernde sich nach dem Weinen erstmal still und leer oder sogar erschöpft. Sie sind noch nicht gleich wieder ganz zurück von ihrer intensiven „Seelenreise“. Wichtig ist, hier mit der Aufmerksamkeit noch bei der Person zu bleiben, noch ein wenig Stille zusammen zu genießen, verbunden mit tiefem Atmen und vielleicht dem ein oder anderen Seufzer.

Wenn die Person langsam wieder „zurückkehrt“ kann ein guter Moment sein, um eine warme Decke, eine Umarmung, ein liebevolles Lächeln oder irgendetwas anderes anzubieten, das gerade nährend und stimmig für die Person und den Moment sein könnte.

(Mit der liebevollen Zuwendung kann es gut sein, dass eine zweite Welle des Trauerns losgeht. Denn oftmals können wir uns noch sicherer fühlen, noch mehr loslassen, wenn wir von einem anderen Menschen, dem wir vertrauen, gehalten werden.)

6. Bekräftigen & Würdigen

Bezeugt werden macht einen großen Unterschied für seelische Prozesse und hier geht es darum, dies deutlich erfahrbar zu machen. Für viele Menschen sind Worte der Dankbarkeit, Wertschätzung, Anerkennung und Bestätigung oder Bekräftigung für das was gerade passiert ist hilfreich. Zum Beispiel: „Wow, danke dass du diesen Moment jetzt gerade mit mir/uns geteilt hast und ich dich dabei bezeugen konnte.“

Diese Art von Willkommen heißen dessen, was gerade passiert ist, kann meines Erachtens auch helfen, manchmal noch rückwirkend einsetzenden Gefühle von Scham über diesen „emotionalen Ausbruch“ zu relativieren, indem eben nicht verurteilt, sondern auf eine Weise vielmehr gefeiert wird, dass er stattgefunden hat.

 

7. Bedeutungsgebung erleichtern

Manchmal haben Menschen auch ein Bedürfnis, mitzuteilen was da gerade in ihnen vor sich gegangen ist. Meine Empfehlung ist, ihnen eine Einladung dafür auszusprechen, beispielsweise „Würdest du gern etwas darüber erzählen, was gerade passier ist?“ oder „Ich würde gern mehr darüber hören, was das jetzt gerade für dich bedeutet hat, magst du ein bisschen darüber teilen?

Hier ist es sinnvoll auch zu benennen, dass es ebenfalls völlig in Ordnung ist, nichts zu sagen oder erst zu einem späteren Zeitpunkt.

Wichtig ist, sich hier nicht selbst einzumischen, also dem anderen eigene Interpretationen überzustülpen, sondern die Deutungshoheit bei der Person zu belassen, die den Prozess durchlaufen hat.

Beim Trauern ziehen wir uns ein Stück weit zurück aus dem Hier und Jetzt und erleben stattdessen im Inneren oft alles mögliche: Innere Bilder oder andere Sinnesempfindungen können aktiv sein, Erinnerungen mischen sich mit Vorstellungen auf eine sehr stark assoziative Weise, so wie wir es vielleicht am ehesten vom Träumen her kennen.

Dazu kommt die Intensität der schmerzlichen Emotionen, die oft bereits schon während des Weinens durchmischt sind auch von angenehmen Gefühlszuständen wie Dankbarkeit. Dank dieser Intensität kann das was während des Trauerns passiert als besonders reichhaltig und bedeutungsschwer erlebt werden. Oftmals werden im Trauerprozess neue Entwicklungsschritte vorweg genommen und auf eine Weise innerlich begonnen oder durchlebt.

In unserem Verständnis ist Trauern ein komplexer Integrationsprozess, der als Potential in uns Menschen biologisch angelegt ist und sich in der ganz frühen Kindheit, ermöglicht durch Unterstützung von unseren Bezugspersonen entfalten kann. Denn indem wir intensiv weinen und uns unserem inneren Erleben hingeben, ordnen wir neu, was in unserem Leben verloren gegangen ist oder unverbunden scheint. Dabei können wir ein Stück weit genau das verinnerlichen, was uns so schmerzlich fehlt.

 

8. Integration einladen

Je nach Situation kann dann ein günstiger Moment kommen, um eine Pause zu nehmen, um noch ein bisschen verdauen und integrieren zu können, was gerade passiert ist.

Gerade weil es so eine wunderbare Referenzerfahrung sein kann, beim Trauern begleitet zu werden, ist es richtig hilfreich, dieses Erlebnis nicht gleich wieder zu überdecken. Ein (gemeinsamer) Spaziergang kann hier schön sein, vor allem wenn dabei ein bisschen Natur sichtbar ist, auch zusammen etwas essen oder trinken kann gut tun.

Falls eine Pause gerade nicht möglich oder sinnvoll ist, kann es hilfreich sein, zusammen zumindest einen oder ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen, bevor es weitergeht.

Eine andere beliebte Methode um die Erfahrung quasi zu besiegeln ist es, die Person zu fragen, ob sie eine Umarmung von dir (oder von jemand anderem im Raum?) bekommen möchte, oder sich wünscht, dass noch jemand neben ihr sitzen bleibt?

 

9. Nochmal danken

Auch für dich als begleitenden Person ist es hilfreich, einen Abschluss für dieses sicherlich aufwühlende Erlebnis zu finden. Dies kann ein innerliches oder auch laut ausgesprochenes Danken sein, vielleicht für die Unterstützung die du ganz am Anfang eingeladen hattest, vielleicht für deinen Körper und deinen Geist, der dir da durchgeholfen hat, oder für was auch immer auf einer spirituellen Ebene für dich als Quelle von Unterstützung möglich erscheint.

Auch eine innere Widmung oder ein Gebet dafür, dass die Erfahrung zum Wohlergehen der Person weiterwirken soll, kann ganz am Ende helfen, für dich selbst das Erlebnis rund zu machen.

 

Was du ganz sicher lieber nicht tun solltest, wenn jemand beginnt zu weinen

 

…ignorieren was passiert

Auch und gerade wenn jemand sich der eigenen Tränen schämt ist es wichtig, eben nicht wegzuschauen und so zu tun als ob nichts wäre. Als Menschen sind wir zutiefst soziale Wesen. Unsere seelischen Heilungsprozesse sind davon abhängig, bezeugt zu werden. In unserem größten Schmerz unsichtbar oder unbemerkt zu bleiben oder nicht validiert zu werden wird oftmals schmerzhafter erlebt als das eigentliche Leiden.

Im Gegenzug scheint das Erleben von zwischenmenschlicher Unterstützung ein ganz wesentlicher Faktor dafür zu sein, trotz traumatischer Erlebnisse keine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln.

Wenn irgendwie möglich ist es also essentiell bedeutsam, sich einer trauernden Person zuzuwenden und mit deiner vollen Aufmerksamkeit bei ihr zu bleiben.

…beruhigen wollen

Ein Trauerprozess ist keine Panikattacke, auch wenn die Person beim Weinen heftig atmet oder laut schluchzt, zittert oder sich sogar schüttelt und zuckt. Im Gegenteil, unsere Erfahrung ist: Wer weint fühlt sich gerade sicher genug – sonst könnte das Trauern gar nicht beginnen. Hier zum Beruhigen aufzufordern setzt eine trauernde Person vielmehr unter Druck, den Prozess zu stoppen und die Trauer (wieder) runterzuschlucken.

So eine Erfahrung kann zu einer großen Last werden, es beim nächsten Mal noch schwieriger machen, überhaupt einen Trauerprozess wagen zu können und zudem auch inneren Zorn schüren – auf sich selbst oder auf andere.

…Taschentücher zücken oder anderweitig eingreifen

Auch wenn Menschen heftig weinen, noch mehr aber wenn die Trauer sich gerade erst sachte zeigt, wohnt jedem Trauerprozess etwas Zartes inne, das bei egal welcher Art von Unterbrechung schnell wie zurückweichen und sich wieder verschließen kann. Beim Trauern blenden wir das Hier und Jetzt ein Stück weit aus, wandern mit der Aufmerksamkeit tief nach innen. Auch eine wohl gemeinte Geste wird dabei letztendlich eine Ablenkung darstellen, die ausreichen kann um eine Person aus dem Trauern wieder herauszuholen – vielleicht bevor der Trauerprozess durchlaufen werden konnte.

Taschentücher gereicht zu bekommen signalisiert für viele Trauernde zudem, dass es nun Zeit ist, sich wieder zu „beruhigen“. Im schlimmsten Fall kann das dazu führen, dass schmerzhafte Emotionen einfach „runtergeschluckt“ werden und die wohltuende Wirkung des Weinens sogar ganz ausbleibt.

Ähnliches gilt auch für alle anderen Sorten von Maßnahmen, die wir gut meinen, die aber doch Eingriffe darstellen, z.B. ganz nah rangehen, räuchern, singen oder tönen, ein Getränk anbieten und alles, was eine Veränderung des Rahmens oder der Situation bewirken würde.

…blindlings umarmen oder berühren

Oft erkennen Menschen in Weinenden ein Bedürfnis danach, gehalten zu sein und körperliche Unterstützung zu erfahren, wie wir es von Kindern kennen. Auch wenn diese Wahrnehmung prinzipiell stimmen kann, ist es doch heikel, die Verletzlichkeit des Momentes zu nutzen um ungefragt körperlich zu berühren und anzufassen, oftmals sogar ohne die Person dabei überhaupt anzuschauen. Denn meist sind wir es selbst, denen es schwer fällt, jetzt gerade die leidende Person in Ruhe zu lassen, weil es ein Gefühl von Hilflosigkeit mit sich bringen kann, nicht einzugreifen.

Mit vorschnellem Körperkontakt machen wir es uns vielleicht selbst leichter – in der Regel aber nicht dem Menschen, der gerade begonnen hat zu trauern.

Berührung ist eine Form des zwischenmenschlichen Kontaktes die immer nur in bewusstem, gegenseitigem Einvernehmen stattfinden sollte.

Berühren ist auch eine Unterbrechung

Fassen wir eine trauernde Person an, kann dies dazu führen, dass der Prozess unterbrochen wird, weil das System nun statt mit dem eigentlichen Trauern damit beschäftigt ist, die Situation neu einzuschätzen. Im schlimmsten Fall jedoch verhindert die verletzliche Verfassung des trauernden Menschen, dass sie klar kommunizieren kann, welche Art von Berührung sie gerade gar nicht möchte – so dass ein gut gemeintes Umarmen als übergriffig oder sogar gewaltvoll erlebt werden kann und zusätzliches Leid erzeugt.

Wenn wir Menschen durch Trauerprozesse begleiten, die wir sehr gut kennen und mit denen wir eine Beziehung haben, die von körperlicher Nähe geprägt ist, dann ist es auch beim Trauern nicht so heikel, wenn wir berühren. Oft kommen insbesondere Kinder sogar auf uns zu um uns von sich aus zu umarmen, sich anzukuscheln oder halten zu lassen.

Für alle anderen Situationen empfehle ich ganz konsequent, erst einmal wirklich abzuwarten und die Person eher innerlich mit dem Herzen zu halten, statt sie anzufassen. Die liebevolle Aufmerksamkeit, die wir in uns fühlen, wird auch über Blicke und unsere Haltung übertragen werden können.

Wenn dann die erste Welle des Trauerns verklungen ist, kann danach der richtige Zeitpunkt kommen, um eine Umarmung oder Berührung anzubieten – denn für viele Menschen kann dies ein Element zum Abschließen des Trauerprozesses sein. Natürlich ist es dabei essentiell wichtig, auch hier nur anzubieten, nicht aufzudrängen, und ein „Nein“ oder „jetzt nicht“ zu akzeptieren.

 

Zusammenfassung

Wenn jemand anders zu trauern beginnt, dann lieber nicht:

  • ignorieren
  • versuchen zu beruhigen
  • Taschentücher zücken oder anderweitig eingreifen
  • schnell berühren oder umarmen

Stattdessen hilft bei Trauerprozessen:

1. Ehrfurcht & Gelassenheit

ein Wunder beginnt und ich darf es bezeugen!
Dabei Unterstützung für den Prozess einladen.

2. Aufmerksamkeit & Mitgefühl

volle Aufmerksamkeit auf den trauernden Menschen und
ein Herzensgebet für dessen Wohlergehen halten.

3. Einfühlen & Validieren

im Körper mitfühlen und bestätigen, dass es ganz
menschliche Emotionen sind, die die andere Person da durchmacht

4. Ankern & Beschützen

da bleiben, Rückversicherung schenken und Raum halten,
dabei physischen Schutz sichern

5. Zeit & Fürsorge

ein langsames Abebben der Trauer erlauben, danach,
wenn die Person wieder ganz ins hier und jetzt zurück kehrt,
Nährendes für Körper oder Seele anbieten

6. Bekräftigen & Würdigen

die Person „willkommen zurück“ heißen und bestätigen,
dass gerade etwas Wichtiges passiert ist

7. Bedeutungsgebung erleichtern

einladen, sich mitzuteilen darüber, was gerade innerlich passiert ist
und welche Bedeutung die Person dem gibt

8. Integration einladen

eine Pause ermöglichen, damit die Erfahrung sich setzen
und weiter verarbeitet werden kann

9. Danken

um selbst gut abschließen zu können, nochmals (innerlich) danken
und mit einem Segens-Wunsch für das Wohlergehen
der anderen Person das Ganze besiegeln

 

Die weitere Entwicklung

Manche Trauerprozesse, vor allem wenn sie bezeugt und begleitet werden, können regelrechte Meilensteine im Leben eines Menschen darstellen. Dabei werden auf einer seelischen Ebene grundlegende Weichen für die Zukunft neu gestellt.

Deshalb kann es besonders schön sein, wenn diese Momente nicht in Vergessenheit geraten, sondern wir nach ein paar Tagen, Wochen oder sogar Monaten noch einmal gefragt werden, wie sich dieses Thema, dieser Schmerz, dieser Verlust in unserem Leben weiter entwickelt hat? Und wie wir heute auf diesen Moment damals im Redekreis, im Büro, beim Spaziergang (oder wo auch immer der Trauerprozess sich ereignet hat) zurückschauen?

 

Meta-Ebene & Referenzerfahrungen für Trauerprozesse

Je mehr wir über das Trauern wissen, desto leichter, einfacher, selbstverständlicher können wir für uns selbst und für andere Raum dafür halten.

Vor allem hilft es, nicht nur kognitiv über das Trauern zu lernen, sondern auch durch Erlebnisse und Referenzerfahrungen in sicher gehaltenen Trauer-Räumen.

Heute erscheint es Tag für Tag notwendiger, die wundersame Fähigkeit unseres Körpers zu trauern und auch Trauern zu begleiten (wieder) zu einem Teil des menschlichen Zusammenseins werden zu lassen – denn es gibt so vieles zu betrauern, so viele Verluste, die wir schon erlitten haben und die uns noch bevor stehen.

Egal ob es die Lage der Welt ist oder ganz persönliche Trauer – so wie es in einem Trauerlied aus der Dagara-Kultur in Westafrika heißt, in der Sobonfu Somé beheimatet war: „Wir können dies hier nicht alleine schaffen“. Je größer die Trauer ist, die wir in uns tragen, desto wichtiger ist es, dass wir dafür Unterstützung bei anderen Menschen finden können.

Findest du auch, Trauern sollte (wieder) ganz normal sein dürfen?

Dann könnte dir vielleicht unsere Weiterbildung in Trauerprozessbegleitung gefallen.

Darin kannst du erfahrungsorientiert unseren trauma-sensitiven Ansatz zum sicheren Begleiten für Trauerprozesse erlernen und ausprobieren.… 

grieving

 

WICHTIG:

Dieser Artikel und die Empfehlungen darin ersetzten keine (psycho-)therapeutische Begleitung.

Solltest du selbst oder jemand den du kennst in akuter seelischer Not sein, kannst du beispielsweise bei der Telefonseelsorge erste Hilfe finden: Die TelefonSeelsorge® ist Tag und Nacht erreichbar, auch an Wochenenden und Feiertagen. 

Telefon: 0800.1110111 und 0800.1110222 oder online: https://online.telefonseelsorge.de/
Für psychotherapeutische Begleitung kannst du beispielsweise hier professionelle Anbieter*innen in deiner Nähe finden: https://www.somatic-experiencing.de/traumatherapeuten-finden/ 
angst vor dem krieg

So viel Angst vor dem Krieg und rund um den Krieg, die in vielen von uns und um uns spürbar ist –
wie können wir trotzdem klarkommen und irgendwie hilfreich sein?

Sieben mögliche Handlungsfelder, aufgeschrieben von Elke Loepthien-Gerwert…

 

Das Grauen über den Krieg schnürt vielen die Kehle zu. In einer Umfrage zu Beginn des Krieges sagten fast 70 % der Menschen in Deutschland, sie würden den Ausbruch eines dritten Weltkriegs befürchten. Doch auch ohne Atomraketen ist die Lage schlimm genug.

Lähmend ist die Hilflosigkeit angesichts des Leidens, das gerade jetzt und immerzu auf die Menschen hereinbricht, in der Ukraine und auf der Flucht, die gerade in diesem Moment mit Todesangst, Hunger und Kälte, mit Rassismus oder Menschenhandel konfrontiert sind, ebenso die Angst davor, was daraus noch weiter erwachsen könnte.

Es ist wie ein Erwachen in einer niemals gewollten Wirklichkeit, von der überhaupt nicht absehbar ist, wie sie sich entwickeln wird.

Der Angst begegnen

„Ein großer Unterschied zu anderen, irrationalen Ängsten ist, dass diese Angst real ist“, sagt Jörg Angenendt, Leitender Psychologe der Psychotraumatologischen Ambulanz des Uniklinikums Freiburg im Gespräch mit der ZEIT.

Wie können wir damit klarkommen? Wie können wir selbst gesund bleiben, für unsere Liebsten sorgen, hilfreich für die vielen Menschen sein, die unsere Unterstützung wirklich gut gebrauchen können UND dann auch noch dazu beitragen, dass die Klima-Katastrophe aufgehalten werden kann?

Diese Fragen haben wir uns oft gestellt in den letzten Tagen. Hier sind  sieben haltgebenden Handlungsmöglichkeiten, die wir finden konnten…

1. Nachrichten- & Medien-Konsum regulieren, aber nicht komplett vermeiden

Schlimme Nachrichten lösen Stress aus, und unsere Fähigkeit klar zu denken wird zunehmend eingeschränkt.

Die CIA-Analystin Cindy Otis beschreibt, was uns passieren kann, wenn wir tagtäglich so viel negative Nachrichten erfahren:

  • Gleichgültigkeit – wenn uns das Schlimme irgendwann ganz „normal“ erscheint.
  • Lähmung – wenn wir so überfordert und überwältigt sind, dass wir uns außerstande fühlen, irgendwas zu tun
  • Endzeitstimmung – wenn jede weitere Neuigkeit uns in Alarmbereitschaft versetzt, dass bald alles vorbei sein könnte
  • Depression oder Post-Traumatische Belastungsstörungen – selbst wenn wir gar nicht life dabei waren – schlimme Meldungen nur allein zu hören, genügt manchmal um beides auszulösen
  • Physische Symptome – Schwindel, Kopfschmerzen, Fieberschübe, Konzentrationsschwäche, Erschöpfung usw.

Doch unsere Wahrnehmung konzentriert sich nun einmal besonders auf alles was gefährlich sein könnte. Deshalb interessieren wir uns vorwiegend für negative Neuigkeiten, nicht nur in Kriegszeiten. Schon 1977 zeigten  71,4 Prozent aller TV-Nachrichten Hilflosigkeit.

Dabei kann gerade das wiederholte Betrachten von Hilflosigkeit regelrecht ansteckend sein. Wir lernen dabei quasi, uns selbst hilflos zu fühlen und unsere Bereitschaft, aktiv gesellschaftlich mitzuwirken, könnte sogar sinken – so dass wir weniger hilfsbereit handeln.

Den Teufelskreis durchbrechen

Wenn wir erstmal Angst haben, fühlen wir noch stärkeren Drang, immer mehr beängstigende Informationen zu sammeln. „Exzessiver Nachrichtenkonsum ist ein Versuch, die Kontrolle wieder herzustellen, die wir gerade aber nicht haben können“, sagt Ceylan Schuster, aus der Angstambulanz Frankfurt.

Sie empfehlt einen reduzierten Medienkonsum, warnt aber gleichzeitig davor, sich den Nachrichten komplett zu entziehen: „Durch Vermeidung wird die Angst nur größer.“

Menschen, die bewusst gar keine Nachrichten konsumieren, begründen ihre Entscheidung oft damit, dass die Meldungen ihre Stimmung schwer beeinträchtigen würden und sie nicht das Gefühl hätten, „irgendetwas tun zu können“.

Nach Tröstlichem und Ermutigendem suchen

Viele Menschen verspüren deshalb einen Wunsch nach mehr Berichten über Lösungen in den Medien. Dies ist nicht nur ein psychologisches Bedürfnis, sondern auch gesellschaftlich relevant.

Denn sehen zu können, wie jemand anders aktiv lebensförderlich handelt, wirkt ebenfalls ansteckend.

Tapferes oder menschenfreundliches Verhalten zu erleben oder darüber zu erfahren, hilft uns nachweislich dabei, uns selbst auch großherziger zu verhalten.

Deshalb sind es also berührende Meldungen über tapfere Taten, aktive Nächstenliebe und Solidarität, die jetzt gerade so wichtig für uns alle sind.

Oft ist es das Verhalten von Einzelnen, das vielen anderen Mut geben kann

Die Journalistin Ronja Wurmb-Seibel beschreibt, wie sie fast zerbrach an dem unermesslichen Leid, dass sie als Berichterstatterin in Afghanistan miterlebte. Sie suchte Wege, wie sie ihrer Arbeit nachgehen und dabei trotzdem seelisch gesund bleiben könnte.

Ihre Erkenntnis: Wir brauchen Geschichten, die Mut machen. Nicht weil sie problemfrei wären, sondern weil sie „Probleme plus X“ enthielten – entweder Lösungen oder zumindest „eine Person, die alles dafür gab, damit sich Dinge ändern, die damit anderen Zuversicht schenkte“

Einige solcher Geschichten, aktuell aus der Ukraine finden sich in dieser fortlaufend wachsenden Sammlung der ZEIT.

Humor kann alles leichter machen

Dmitro Chayka, ein 25jähriger Filmproduzent schreibt: „Humor ist ein Weg, mit dem Krieg umzugehen, ein coping mechanism. Die sozialen Medien sind voll von Witzen über den Krieg. Warte, ich scrolle mal kurz durch mein Handy. Ah, hier. Also: Die russische Propaganda behauptet gerade, dass die Ukrainer Biowaffen entwickeln, um Russen zu töten. ‚Biowaffen?‘, schreibt einer. ‚Meinen die Russen den Borschtsch, der seit zwölf Tagen in meinem Eisfach feststeckt?‘“

Der Dalai Lama, geistlicher Führer der Tibeter, hat selbst Flucht und fast den Genozid seines eigenen Volkes miterlebt. Er beschäftigt sich intensiv mit Leid und Missständen auf der Welt. Er beschreibt wie grundlegend es für unsere seelische Gesundheit ist, dem Leben immer wieder mit Humor zu begegnen.

Wo ausgelassen aus tiefstem Bauch heraus gelacht wird, kann auch die größte Angst zumindest kurz schmelzen und ein Raum entstehen, in dem Vertrauen, Liebe und Frieden erlebbar sein können.

2. Angst akzeptieren & uns daran erinnern, dass sogar positive Auswirkungen möglich sind

Im zweiten Weltkrieg wurde in Großbritannien der Slogan: „Keep Calm and Carry on“ verbreitet (=„Bleib ruhig und mach weiter“). Dabei zeigen viele Studien, dass es kaum möglich ist, Emotionen einfach wegzudrücken, im Gegenteil:

Gefühle können umso qualvoller werden, je stärker man sie abwehrt. „Akzeptieren Sie die Komplexität der Situation, anstatt innerlich gegen sie anzukämpfen„, rät Oliver Tüscher vom Leibniz Institut für Resilienzforschung.

Gerade langfristig sei es wichtig, einen Umgang mit der Angst zu lernen und sie als ganz normales Gefühl zu akzeptieren, sagt auch Ceylan Schuster:„Wichtig ist, dass man innehält und dieses Gefühl der Angst benennt, wenn es kommt. Was passiert gerade mit mir, wie fühle ich mich? Hilflos? Ohnmächtig? Es ist ganz wichtig, sich zu sagen: Es ist okay, sich so zu fühlen.“

Das aktive Akzeptieren einer Situation genauso wie sie ist (einschließlich unserer Emotionen dazu), kann uns aus einem festgefahrenen Zustand zurück in den Moment bringen. Erst dadurch wären wir frei, aktiv (statt nur reaktiv) zu handeln.

Dies ist nicht gleichbedeutend mit Resignieren oder Aufgeben. Es geht nicht darum zu akzeptieren, dass die Lage nie wieder besser werden könnte – nur, dass sie gerade jetzt einfach so ist wie sie ist.

„Es ist wie es ist“ – kann ein kurzes und echt tröstliches Mantra sein, von dem uns kürzlich jemand erzählt hat.

Angst kann positive Auswirkungen haben!

Wenn wir uns bedroht fühlen, löst das immer Stress in unserem Körper aus, vereinfacht gesagt: Unsere individuellen oder sozialen Anpassungs-Systeme sind überfordert mit (äußeren oder auch innerlichen) Anforderungen einer Situation.

Stress ist richtig anstrengend für unser gesamtes System. Er konnte laut einer Studie die Sterblichkeit deutlich erhöhen – aber erstaunlicherweise nur bei jenen Menschen, die diesen Stress selbst auch negativ bewerteten.

Ob wir es schaffen, dem unvermeidbaren Stress in unserem Leben etwas Positives abzugewinnen, scheint also eine wichtige Rolle zu spielen, um unsere individuelle (und vielleicht auch kollektive) Resilienz zu entwickeln.

Mit schweren Umständen halbwegs klar kommen oder dank ihnen sogar aufzublühen ist etwas, das uns Menschen besser gelingt, wenn wir in früheren Zeiten schon mal Schwierigkeiten überstanden haben. Was uns nicht umbringt kann uns also resilienter machen.

Einfach nur über positive Wirkungen von Stress zu wissen, kann schon enorm helfen

Eine Studie der Stanford Universität konnte in Experimenten nachweisen, dass eine positive Einstellung gegenüber Stress sich entscheidend auswirkte: Personen erlebten stressvolle Erfahrungen als angenehmer, hatten mehr Aufmerksamkeit für positive Reize und handelten kognitiv flexibler.    

Das ist bedeutsam, weil wir eben im Leben oft mit Stress durch Umstände konfrontiert sind, an denen wir nicht direkt etwas ändern können. Umso wichtiger ist es also zu wissen, dass allein unsere Einstellung dazu einen echten Unterschied machen kann – dafür wie wir die Situation erleben und wie sehr wir in der Lage sein werden, uns hilfreich zu verhalten.

Sogar lebensbedrohliche Situationen können positive Auswirkungen haben

Tatsächlich existieren positive Auswirkungen von Stress und bedrohlichen Situationen: Sie können uns darin stärken, selbst die Initiative zu ergreifen und allgemein produktiver zu sein sowie eine Art physiologisches „Aufblühen“ (engl. „thriving“) auslösen.

Sogar heftigster Stress durch lebensbedrohliche Ereignissen kann zu etwas Gutem führen: Dazu gehören eine größere Wertschätzung für das Leben, mehr Bewusstheit für eigene Stärken und gestärkte Beziehungen – Phänomene die oft unter dem Begriff „post-traumatisches Wachstum“ zusammengefasst werden.    

Der über 90jährige Benediktiner-Mönch David Steindl-Rast erzählt (immer mal wieder), dass mit die glücklichste Zeit seines Lebens während des Kriegs war – weil er aufgrund der beständigen Bedrohung intensiv jeden Moment erleben konnte.

3. Immer wieder im Hier und Jetzt verankern

„Das Gegenteil von Unsicherheit ist nicht Sicherheit – es ist Präsenz,“ schreibt Christine Carter. Wenn wir uns in erschreckenden Gedanken verlieren, kann unser Körper einen Ausweg ermöglichen, über die Sinne:

„Was kann ich jetzt gerade auf meiner Haut spüren? Was kann ich jetzt gerade riechen? Was hören und was sehen, wenn ich mich umschaue? Wie fühlt sich mein Körper innen drin an, von den Zehen bis zum Scheitel?“

Fragen und (Selbst-)Beobachtung können helfen, im Moment anzukommen, immer wieder.

Atem

Ein anderer wirkungsvoller Anker kann unser Atem sein: Ihn einfach nur wahrzunehmen und zu beobachten, wie er von ganz allein in uns ein und aus strömt.

Der Atem, oder auch unser Herzschlag, können uns helfen zu lernen wie es ist, etwas aufmerksam und liebevoll wahrzunehmen, ohne zu versuchen, es zu kontrollieren.

Mit der Aufmerksamkeit wird sich Ruhe von ganz allein einstellen, oder wir können nach einer Weile bewusst das Ausatmen verlängern, zum Beispiel indem wir durch einen leicht geöffneten Mund ausatmen, oder mit einem langgezogenen „w“ oder „f“, und dabei den Luftstrom bewusst spüren, danach wieder frei und recht kurz durch Nase oder Mund einatmen.

Längeres Ausatmen kann dem Körper dabei, mehr Entspannung zuzulassen. (Wichtig: Den Atem wieder frei fließen lassen, falls dir schwindlig oder unwohl wird!)

Bewegung

Ist das Gefühl von Unsicherheit groß, kann auch Bewegung helfen, vor allem mit beiden Körperhälften: Zappeln mit beiden Füßen oder mit allen Fingern an beiden Händen, rhythmisches hin und her Schwingen der Arme oder sogar ein Hampelmann.

Auch Balancieren oder Hüpfen auf einem Bein kann über das Gleichgewichtsorgan im Gehirn helfen, angstvolle Starre abzuschütteln.

Spazieren gehen, vor allem in der Natur, ist eine der besten Aktivitäten überhaupt um „runterzukommen“. Es hilft auch Auswege aus Konflikten zu finden, klarer zu denken und besser zu entscheiden.

4. Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge

Wir können nicht 24h am Tag die Welt retten. Den größten Dienst können wir dann schenken, wenn wir für unsere eigenen Bedürfnisse sorgen und genährt und fit sind, um etwas zu geben.

Kristin Neff erforscht das Selbstmitgefühl: Uns selbst so liebevoll zu behandeln, wie wir dies mit guten Freund:innen tun würden.

Wie kann eine Selbstmitgefühl-Übung und Praxis aussehen?

Kleine Selbstmitgefühl-Übung

1. Spüren was du fühlst und anerkennen: Es ist gerade schwer, schlimm, schmerzlich für mich.

2. Dich erinnern, dass schlimme Gefühle und Emotionen zu erleben ein ganz natürlicher Teil vom Mensch-Sein ist: „Alle Menschen fühlen sich manchmal so oder so ähnlich.“

3. Dir bewusst und aktiv Trost und Zuwendung schenken, beispielsweise durch eine Berührung (Hand aufs Herz, oder dich selbst umarmen) und auch durch ein paar liebevolle Worte (gedacht oder gemurmelt), wie: „Möge ich mitfühlend mit mir sein.“ oder „Möge ich den Trost finden, den ich brauche.“

(Link zur ganzen Übung)

(Wir haben auch einen Online-Kurs zum Thema: „Verbindung durch Selbstmitgefühl“)

Selbstfürsorge ist nicht Selbstbezogenheit

Manchmal würden wir Selbstfürsorge vermeiden, weil wir sie als Selbstbezogenheit verurteilen, schreibt Christine Carter. Aber Selbstbezogenheit sei eine ängstliche Fixierung darauf, wer wir glauben sein zu müssen. Sie könne zu Stress, Ängsten, Depressionen und körperlichen Problemen führen.

Selbstfürsorge dagegen dreht sich um das, was wir wirklich brauchen – egal was jemand anders darüber denkt.

Besonders wichtig sind Schlaf, ausgewogene Ernährung, Bewegung, vor allem in der Natur, und natürlich Kontakt zu Menschen (oder anderen Säugetieren), einschließlich Berührungen.

Aber auch alles andere, was uns ein Gefühl von Halt, Geborgenheit, Sicherheit und versorgt sein vermitteln kann, ist wichtig, in den Alltag einzuplanen, damit wir nicht körperlich oder emotional ausbrennen. 

5. Trauern wenn es möglich ist & die Verbindung zu anderen Menschen suchen

Über emotionale Tränen scheiden wir Stress-Hormone und Toxine aus und Weinen kann die Produktion von Endorphinen anregen, Glückshormone, die auch Schmerzen lindern. Wir fühlen uns häufig besser, wenn wir geweint haben, sogar wenn ein Problem weiterhin besteht.

Doch gerade in angstvollen Lebensphasen kann es schwierig sein, überhaupt zu trauern.

Damit die Trauer sich nicht in uns anstaut, wir innerlich immer härter werden, kann es helfen, extra Zeiten einzuplanen, um den Emotionen freien Lauf zu lassen und zu weinen.

In relativ sicheren, geborgenen Momenten voller Selbstfürsorge zeigt sich unsere Trauer vielleicht doch.

Denn wir verlieren so viel jetzt gerade: Vertrauen in den Frieden innerhalb Europas, Hoffnung auf wachsenden Frieden in der Welt, ein Gefühl von Sicherheit für uns selbst, für die Kinder… und wir sind konfrontiert mit dem Leiden des Krieges und unserer Hilflosigkeit darüber.

Damit was in uns erstarrt ist, wieder ins Schmelzen kommen kann

Oft brauchen wir einen stillen, sanften, weichen Raum, damit das, was wir nun seit Wochen halten und halten und halten, sich wieder lösen kann.

Manche Menschen können leichter weinen, wenn sie allein sind – vielleicht mit trauriger Musik, einem Film oder Fotos von früher.

Als der erste Lockdown in 2020 begann, habe ich in einem kleinen e-Büchlein Tipps gesammelt, die es erleichtern können, alleine zuhause zu trauern. Besonders wohltuend ist es aber, gemeinsam mit anderen Menschen trauern zu können oder zumindest nach dem Weinen mit jemand darüber zu sprechen, wie es mir gerade geht und was das alles für mich bedeutet.

Geteiltes Leid ist halbes Leid

Wenn es um Weltschmerz oder Ängste geht, kann es manchmal lebensnotwendig sein, dass wir einander zuhören und gegenseitig Halt geben können.

Manchmal braucht es einen Türöffner: „Sag mal, wie geht es dir eigentlich gerade mit allem was so los ist?“ (Und vielleicht: „Ich mag es wirklich gerne hören und auch selbst erzählen.“)

Gerade wenn wir nicht nur zu zweit, sondern mit mehreren sind, kann es hilfreich sein, nichts einzuwerfen, nicht zu unterbrechen, sondern jede Person einfach viele Minuten lang, immer weiter solange reden zu lassen, bis es erstmal gut ist.

Auch wenn dabei Tränen ins Fließen kommen, kann das richtig gut tun!

Es hilft, nicht einzugreifen, nicht sofort die Taschentücher zu zücken, sondern ganz ruhig dabei zu sein, aufmerksam und mitfühlend.

Hebamme sein wenn die Trauer ins Fließen kommt

Denn jedes kleine Trauern ist wie ein mini-Geburtsprozess: Etwas sortiert sich neu im Inneren, wir verändern uns durch das was da in uns vor sich geht. Danach sind wir ein wenig wie neugeboren, oft noch zart und etwas dünnhäutig – und wenn es gut läuft, wieder bereit und innerlich gestärkt dafür, mit unserem Leben weiterzugehen.

Damit wir gut da durch kommen, brauchen wir keine Chirurg:innen, die mittendrin irgendwie eingreifen, sondern eher Hebammen, die einfach nur nach außen beschützend, geduldig und aufmerksam da sind.   

Beim Bezeugen hilft es, nicht nur emphatisch mitzufühlen, sondern dabei einen Herzenswunsch für das Wohlergehen der anderen Person fest im Herzen zu halten, wie einen Anker.

Gerade angesichts von heftigen Emotionen kann Mitgefühl uns helfen, nicht wie fortgespült zu werden, sondern präsent und auch Halt vermittelnd dabei zu bleiben. (Es kann uns auch vor emotionalem Burnout schützen.)

Auch Erinnerungen wollen betrauert werden

Für viele ältere Menschen hier, die selbst Kriegskinder waren, ist es besonders belastend, die Bilder aus der Ukraine zu sehen. Es kann aber auch eine Chance sein, endlich nach so vielen Jahren von den eigenen Erfahrungen zu erzählen und auf diese Weise Erleichterung zu finden.

Wichtig ist es gerade für Gespräche über traumatische Erlebnisse, sich gemeinsam gut im Hier und Jetzt zu verankern, damit das Gefühl von so viel mehr Sicherheit in diesem Moment einen Ausgleich für die Ängste bieten kann.

Sich versorgt und sicher genug fühlen sind oft eine Voraussetzung fürs Trauern

Auch inmitten von Krieg und Flucht können zwischendurch Räume entstehen, in denen es möglich ist zu trauern und die Geschehnisse zu verarbeiten. Manchmal geschieht das dann, wenn ein Moment der Sicherheit entsteht und ein anderer Mensch da ist und zuhört.

Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Trauer erst fließen kann, wenn Menschen irgendwo angekommen sind, wo sie sich physisch und seelisch wirklich in Sicherheit fühlen – also zum Beispiel wenn sie hier bei uns angekommen sind, ihre Grundbedürfnisse für sich und vor allem auch für ihre Kinder und hilfebedürftige Angehörige versorgt wissen.

In einem ausführlichen Artikel der ZEIT finden sich viele Tipps dafür, wie man ein hilfreiches Gegenüber für geflüchtete Menschen sein kann: „Einfache Zuwendung kann wirkungsvoll sein (…). Halten, stützen, da sein, man müsse dabei nichts hoch Bedeutendes sagen oder tun, versichern Experten. Hauptsache, die Geflüchteten und Kriegsopfer haben Hilfe – und jemanden zum Reden. Das muss zunächst auch keine professionelle psychologische Unterstützung sein, sondern einfach jemand, der zuhört. Und dem Betroffenen das Gefühl vermittelt: Ich darf meine Geschichte so oft erzählen, wie ich möchte.

Neben Grundbedürfnissen wie Essen, Trinken, Wärme und Wohnraum zählt für Geflüchtete jetzt das Gefühl, uneingeschränkt willkommen zu sein und vor allem: geborgen.“

Gehört werden kann Traumatisierung lindern

Wie stark traumatisierend Kriegserfahrungen sind, ist sehr verschieden: Je länger und mehr Bedrohung, Gewalterfahrungen auch gegen Angehörige, Erleben von Hilflosigkeit und Ohnmacht und je jünger ein Mensch ist, desto schlimmer können sich Kriegserlebnisse auswirken.

Viele Traumatherapeut:innen sprechen wie beispielsweise der Arzt Gabor Maté davon, dass nicht allein was uns widerfährt darüber entscheidet, ob wir eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln, sondern ob jemand da ist, der uns zuhört, eine Person mit der wir uns sicher genug fühlen, dass wir uns ihr anvertrauen können.

In einer Studie mit Kriegs- und Folterüberlebenden aus Afrika, dem Nahen Osten und vom Balkan lies sich nachweisen, dass die traumatischen Erlebnisse zwar Immunzellen deutlich schädigten, diese Zellen sich aber im Anschluss an eine Traumatherapie wieder erholten. In einer anderen Studie erwiesen sich sogar durch Trauma verursachte Schädigungen an der DNA als teilweise reversibel.

Dennoch hinterlassen Kriegs-Traumata Spuren, nicht nur beim einzelnen Menschen, schreibt die ZEIT: „Das ist wie bei einem Haus, das ein Erdbeben überstanden hat“, zitiert sie Areej Zindler, ärztliche Leiterin einer Flüchtlingsambulanz. „Das Haus kann repariert und wieder bewohnbar sein, trotzdem werden feine Risse bleiben.“

Letzendlich gehe es darum, die Erlebnisse ins Leben zu integrieren und diese Integration wirkt sich weit in die Zukunft hinein aus: Die Nachkommen von Überlebenden der Bombardierung Hamburgs haben selbst vielfach pazifistische Haltungen entwickelt.

Eine Auseinandersetzung mit dem Grauen eines Krieges könnte also Nährboden werden, in dem neuer Frieden gedeihen kann.

Nach dem Trauern tut Fürsorge gut

Nach dem Trauern tut Fürsorge besonders gut: Wärme, Augenkontakt, eine Umarmung, etwas heißes zu Trinken, Schokolade oder gemeinsam ein paar Sonnenstrahlen genießen.

Nach dem Weinen kann Erleichterung fühlbar werden und manchmal sogar ein bisschen Humor und Freude, jedenfalls oft Dankbarkeit – für einander, für alles was noch da ist, für das Leben.

Gerade wenn man allein für sich selbst trauert, weil gerade niemand anders da ist, kann es hilfreich, dieses „zurück ins Leben“ kommen bewusst zu zelebrieren.

6. Sich fürs Handeln entscheiden – am besten zugunsten von anderen

Es war eine kleine Sensation: Im Jahr 2000 veröffentlichte die Psychologin Shelly Taylor, dass nicht nur Flucht- oder Kampfverhalten durch Stress ausgelöst werden, sondern oft ganz andere Verhaltensmuster, die sie „Tend and Befriend“ nannte (=„Fürsorgen und Freundschaft“).

Dabei suchen wir die Nähe und Verbindung zu anderen Menschen und verhalten uns ihnen gegenüber fürsorglich.

Wir brauchen einander, schon immer

Der Ursprung von Tend & Befriend wird darin vermutet, dass es für Menschen schon immer die Überlebenschancen vergrößerte, sich nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen vor Gefahren zu schützen.

Außerdem war und ist es notwendig um Menschen-Kinder, Älteste und andere geliebte Personen zu schützen, vor allem wenn sie körperlich eingeschränkt sind.

Menschen aller Geschlechter sind dazu fähig und man kann die Tend & Befriend Strategien auch bewusst erlernen und üben.

Beispielsweise wenn wir in stressvollen Situationen bewusst fragen: Wie kann ich jetzt gerade für andere da sein, oder mich so verhalten, dass es für meine Liebsten gut wäre?

Viele First Nations leben uns Tend&Befriend als Teil von Kultur vor, beispielsweise die Völker der Haudenosaunee-Konföderation, für die eine aktive Ausrichtung auf das Wohlergehen für die kommenden sieben Generationen ein Grundwert ist.

Um nicht in die Fallen von Nationalismus zu tappen ist es wichtig, unsere eigene Zugehörigkeit möglichst weit zu fassen, oder wie der Dalai Lama es ausdrückt: Wir sind alle einfach nur einer von sieben Milliarden Menschen.

Jetzt gerade eben nicht russische Menschen zu verurteilen, sondern auch unser Mitgefühl und Solidarität mit den vielen dort zu üben, die den Krieg nicht aufhalten können, weil sie nicht wissen oder nicht glauben können, was geschieht, oder weil sie den Repressionen des Regimes machtlos gegenüber stehen.

Unserem Sein und Handeln einen Sinn verleihen

Als würden wir härter, länger und besser arbeiten und seien glücklicher dabei, wenn wir wissen, dass wir jemand anderem damit etwas Gutes tun, schreibt Christine Carter.

Wahrscheinlich wird die Krisenzeit in der wir uns befinden, noch lange weitergehen.

Aber mit all dem vielen was in der Welt gerade gebraucht ist – was davon ist denn jetzt das richtige für mich zu tun?

Vielleicht kann diese Frage helfen: Welche der vielen vielen Notlagen der Welt berührt dich jetzt gerade am meisten und wie könntest du einen echten (egal wie kleinen) Beitrag dazu schenken, dass irgendetwas ein bisschen besser wird?

Die Hilflosigkeit überwinden

„Angst hat etwas mit dem Erleben von Hilflosigkeit zu tun. Wir haben das Gefühl, nichts entgegensetzen zu können“, sagt Jörg Angenendt. Doch wir sind nicht völlig hilflos – auch wenn wir als einzelne Menschen immer nur begrenzt Einfluss nehmen können, gibt es trotzdem immer irgendetwas, das wir tun können.

Damit können wir auch wichtige Schritte heraus aus dem passiven Erleben einer beängstigenden Situation gehen.

Nur wenn wir nach Ideen zu helfen suchen, können uns auch welche einfallen. Und nicht selten kann eine kleine gute Idee doch sogar einen großen Unterschied machen.

Helfen ist möglich

So hatte jemand in Litauen die Idee zu einer Initiative, um die erstickende Zensur-Politik der russischen Regierung zu umgehen. Unter dem Motto „Call Russia“ sind russisch-sprechende Menschen weltweit eingeladen, per Zufallsgenerator ausgewählte Nummern in Russland anzurufen und von Mensch zu Mensch zu erzählen, was gerade in der Ukraine vor sich geht.

Und auch ohne Russisch-Kenntnisse gibt es viele Möglichkeiten, zu helfen. So haben unzählige Menschen seit Beginn des Krieges über Airbnb Unterkünfte in der Ukraine gebucht, ohne hinzufahren, einfach nur um an konkrete Menschen vor Ort direkt Geld zu spenden – und Airbnb hat alle Gebühren für Gastgebende in der Ukraine ausgesetzt.

Friedensdemonstrationen schaffen natürlich nicht direkt Frieden. Aber sie ermöglichen ein Gemeinschaftsgefühl und können Rückhalt geben. Wenn hunderttausende Menschen auf die Straße gehen, zeigen wir damit Politiker:innen deutlich sichtbar, wie wichtig es uns ist, dass sie ihrerseits alles für den Frieden tun.

Demos hier sind auch für protestierende Menschen in Russland, die inzwischen zu Tausenden verhaftet werden, ein wichtiges und unterstützendes Zeichen, sagt Sebastian Haunss vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung.

Auch in den kommenden Tagen finden in vielen Städten Friedensdemonstrationen statt. Auf der Website https://standwithukraine.live sammelt eine Gruppe von Klimaaktivisten, wo und wann diese stattfinden.

Sorgfältig auswählen

Gerade in den sozialen Medien oder auch per Phishing-Emails würden inzwischen Betrüger die Hilfsbereitschaft von Menschen ausnutzen. Deshalb kann es Sinn machen, lieber direkt über große Organisationen Geldspenden auf den Weg zu schicken.

Für Berlin und die größtenteils von Ehrenamtlichen organisierte Ankommens-Hilfe dort scheint diese Plattform hier auch gut zu funktionieren, über die gezielt auch nach bestimmten Sachspenden gefragt wird: https://www.adiuto.org.

In vielen Orten wurden rund um die Geflüchtetenbewegung 2015 Vereine gegründet, die sich um die ankommenden Menschen kümmern. Eine Internetsuche nach „Flüchtlingshilfe“ und dem Namen der Stadt oder des Landkreises kann helfen, an regionalen Hilfsstrukturen anzudocken.

7. Vermeintlichen Rettern widerstehen

Uneindeutiges oder jede Form von Nichtwissen aushalten ist für uns Menschen extrem schwierig, vor allem wenn es um existenzielle Fragen und echte Bedrohungen geht:

Menschen hungern nach Informationen über die Zukunft ebenso wie es uns nach Nahrung, Sex und anderen Grundbedürfnisse verlangt. Unser Gehirn nimmt Uneindeutigkeit als Bedrohung war, und es versucht uns zu beschützen: Indem es vereitelt, dass wir uns auf irgend etwas anderes fokussieren, als in dieser wichtigen Angelegenheit zu Klarheit zu finden,“ schreibt die Psychologin Christine Carter.

In Experimenten zeigten Menschen heftigere Stress- und Angstreaktionen, wenn ihnen gesagt wurde, dass sie mit 50%iger Wahrscheinlichkeit einen Elektroschock kriegen könnten – als Personen die davon ausgingen, mit Sicherheit einen schmerzhaften Stromschlag zu bekommen.

Suchen nach etwas das Halt gibt

Wir suchen also in komplexen Situationen manchmal wie besessen nach einer Meldung, einem Puzzle-Stück, was uns endlich zu beruhigender Klarheit und Orientierung verhelfen könnte.

Es braucht deshalb umso mehr Disziplin, nicht auf Stories herein zu fallen, die wir in „normalen“ Zeiten ganz schnell als absurd vom Tisch gewischt hätten.

Was wir brauchen, um Verschwörungsnarrativen widerstehen zu können, ist dass wir uns selbst liebevoll und mitfühlend zur Seite stehen, wenn wir mit Uneindeutigkeit und Nicht-Wissen konfrontiert sind, und sich Ungeduld und Verzweiflung in uns regen, darüber wie es mit dem Krieg (oder der Klimakatastrophe!) jetzt weitergehen wird.

Desinformation nicht glauben

Haben wir in unserem Blog-Artikel im Januar noch ausführlich vor den Folgen von Verschwörungserzählungen gewarnt, sind diese nun angesichts des Krieges noch wesentlich greifbarer:

„Ich bin Putin-Fan“ sagte jemand erst vor wenigen Tagen zu uns. Die Sicht auf Putin als Befreier oder Retter ist im Grunde eine Fortsetzung der Desinformationskampagnen der letzten Jahre.

Die Amadeu-Antonio-Stiftung schreibt: „Weil russische Medien außerhalb Russlands auch in der Pandemie Zweifel an der Existenz des Virus gesät und Narrative der Querdenken-Bewegung verbreitet haben, erfreuen sich die staatseigenen russischen Medien nach wie vor großer Beliebtheit in der verschwörungsideologischen Szene. (…)

Der Schweizer Rechtsextreme Ignaz Bearth spricht von einer angeblich notwendigen Demilitarisierung der Ukraine und hält Putin für einen Befreier von ‚den Marionetten eines Tiefen Staates‘.(…) passend zu Putins ‚Besatzungs-‚ und ‚Entnazifizierung’-Narrativ, das jeglicher Realität entbehrt. All diese Narrative dienen dazu, den Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine zu rechtfertigen.“

Verschwörungs-Narrative sind heimtückisch: Aus Studien ist bekannt: Menschen sind besonders anfällig, wenn sie sich ohnmächtig, chancenlos, machtlos fühlen. Die Ideologien locken indem sie an Frustration, Ängsten, Ohnmachtsgefühlen oder Sehnsüchten andocken. Dabei funktionieren sie wie eine Fisch-Reuse: Man rutscht so leicht hinein – aber ist man erstmal drinnen im Weltbild, ist es fast unmöglich, wieder raus zu kommen.

Denn der einzig mögliche Rückweg ist versperrt: Indem Misstrauen in demokratische gesellschaftliche Institutionen gesät wird, insbesondere gegenüber Medien und Wissenschaft, ist der Zugang gekappt zu allem, was einem ermöglichen könnte, die Aussagen wieder zu relativieren, mit Abstand zu betrachten.

Man ist quasi gefangen in einem Netz, aus dem es (fast) keinen Ausweg mehr gibt. Nur wenige schaffen es, da nochmal den Absprung zu finden – und das oft dank nicht abgerissener persönlicher Beziehungen.

Putin selbst rechtfertigt seinen Angriffskrieg im eigenen Land mit Verschwörungsnarrativen.

„Es ist dringend notwendig, die Gefahren, die von Verschwörungsideologien ausgehen, ernst zu nehmen und bereits bei den Anfängen ihrer Verbreitung entgegenzuwirken“, schreibt die Amadeu Antonio Stiftung und hat Tipps als soziales und politisches Basiswerkzeug für uns:

1. Verschwörungsideologien müssen als solche verstanden werden

Viele glauben, dass Verschwörungsideologien harmlose oder dumme Geschichten seien. Dabei vermitteln sie gefährliche, dogmatische Weltbilder, beschwören eine Notlage gegen die man etwas unternehmen müsste und rechtfertigen und entfesseln Gewalt und sogar Kriege. 

2. Verschwörungsideologien deshalb nicht unwidersprochen stehen lassen

Egal in welchem Kontext: Es braucht demokratischen Widerspruch. Dazu ist es manchmal ausreichend, dass man das Gesagte als Verschwörungsideologie oder schlicht als gefährlichen Sachverhalt markiert. 

3. Umfeldpersonen brauchen manchmal Unterstützung

Es kann sehr fordernd sein, den Kontakt mit Menschen zu halten, die Verschwörungsnarrativen verfallen sind. Aber der persönliche Kontakt zu Freunden oder Familie ist oft das einzige, was einen Ausweg ermöglichen kann. Ein Liste empfehlenswerter Beratungsangebote für Angehörige oder Menschen, die selbst aussteigen möchten, gibt es hier auf Belltower.News, auch einen ausführlicheren Artikel darüber, was man tun kann.

 

DISCLAIMER:

Die Empfehlungen in diesem Text ersetzen keine therapeutische Begleitung.

Wenn du das Gefühl hast, unter Angstzuständen, Depressionen oder anderen schwer auszuhaltenden seelischen Zuständen zu leiden – wisse, du bist nicht allein! Hilfe bekommst du bei zugelassenen Psychotherapeut*innnen, beispielsweise den hier im Verzeichnis aufgeführten Personen, vielleicht auch in deiner Region: https://www.somatic-experiencing.de/traumatherapeuten-finden/

In dringenden Fällen kann man sich auch direkt an ein psychiatrisches Krankenhaus wenden oder den Notruf 112 wählen. Auch die Telefonseelsorge ist 24 Stunden kostenlos erreichbar (auch anonym): (0800) 1110111 oder (0800) 1110333 (für Kinder/Jugendliche) Im Internet: www.telefonseelsorge.de

 

Wenn du mehr darüber lernen magst, Menschen beim Trauern zu begleiten, kannst du hier in unserem (englischen) Online-Kurs oder in unserer Präsenz-Weiterbildung Orientierung, Hintergründe und Werkzeuge finden oder bei unserem Trauer-Feuer-Workshop das Trauern in Gemeinschaft erleben.

… unsere Gedanken zur politischen Lage rund ums
Thema Impfen und die Anti-Corona-Maßnahmen-Proteste,
von Elke Loepthien-Gerwert & Aaron Gerwert
(You can read this article in English here.)

Lernen aus der Vergangenheit

Als ich in der Grundschule das erste mal über die NS-Zeit hörte, war meine Oma Gertrud fast 80 Jahre alt. Für mich war sie eine tolle Großmutter, die oft stundenlang mit mir spielte. Die „alte Trude“ war eine zierliche, zähe Selbstversorgerin auf dem Land und wurde von den andern Kindern im Dorf oft “die Hexe“ genannt.

Denn sie sprach und benahm sich „verrückt“ – auf eine auch von Psycholog*innen diagnostizierte Weise. Mit ihren schrägen, manchmal lustigen und oft erschreckenden Aktionen ließen sich viele Bücher füllen (zum Beispiel wie sie einmal ihren Spaten schnappte und über Nacht eine gesamte Apfelernte vergrub, damit niemand anders die Früchte klauen könnte).

Was mich aber besonders verstörte: Oma Gertrud war eine glühende Verehrerin von Hitler.

Trotz ihrer kauzigen Art liebte ich meine Großmutter inniglich, und ihre unverschämt rosarote Sicht auf eine der wohl schrecklichsten Phasen der Menschheitsgeschichte beunruhigte mich schon damals zutiefst.

Dabei leuchteten ihre Augen so unschuldig und froh, als sie über die „beste und schönste Zeit“ ihres Lebens sprach – während derer ihre Landsleute schätzungsweise 17 Millionen Menschen grausam ermordeten.

Die Erfahrung mit der Blauäugigkeit meiner Oma angesichts der unfassbaren NS-Gräueltaten entzündete für mich zwei glühende, drängende Fragen, die auch heute noch in mir wirken und in den letzten Monaten immer schmerzlicher und dringlicher in mir brennen:

Was um alles in der Welt kann dazu führen, dass Menschen zu Rädchen im Getriebe einer absolut lebensverachtenden Diktatur werden und es noch nicht mal merken?

Und vor allem: Wie können wir solch eine Dynamik frühzeitig genug erkennen (in anderen und in uns selbst) und das Ganze verhindern?

Die Bedeutung von Fakten

Hannah Arendt, die jüdisch-stämmig und überzeugte Sozialdemokratin war, 1933 vor den Nazis aus Deutschland floh und bis zu ihrem Lebensende in New York lebte und publizierte, beschäftigte sich sehr intensiv mit diesen Fragen.

Eines ihrer bekanntesten Zitate aus ihrer Erforschung des Nationalsozialismus war: „Die idealen Personen für ein totalitäres System sind nicht der überzeugte Nazi oder die überzeugte Kommunistin. Sondern es sind alle die Menschen, denen es überhaupt nicht mehr möglich zu sein scheint, zwischen Fakten und Fiktion (also dem, was real erlebbar ist) sowie zwischen wahr und falsch (als Standard für unser Denken) unterscheiden zu können.

Dabei scheint hier und heute genau das einzutreten. Denn immer wieder höre ich in letzter Zeit in Gesprächen die eine oder andere Variation der Aussage: „Man kann ja gar nicht mehr wissen, was man glauben soll. Jede*r hat seine eigene Sicht auf die Wirklichkeit und die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen oder ganz woanders.“

In unseren Kursen und Artikeln sprechen und schreiben auch wir oft darüber, wie wichtig es ist, die Bedürfnisse und Weltsicht von anderen anzuerkennen, um friedvoll miteinander existieren zu können. Dabei geht es jedoch um persönliche Bedürfnisse und Meinungen.

Dies geht aber immer nur dann, wenn wir genug gemeinsame Basis haben, auf deren Grundlage wir ein Gespräch führen können.

Wir brauchen eine gemeinsame Basis

Genau diese gemeinsame Basis ist gesellschaftlich betrachtet gerade extrem gefährdet.

Denn ausgelöst durch die Pandemie sind wir auf einmal deutlich konfrontiert mit nicht nur all dem, was an altbekannten Themen langsam über Jahrzehnte oder Jahrhunderte entstanden ist, sondern da sind plötzlich hochkomplexe Vorgänge, die für einzelne Personen von vornherein unüberschaubar sind und für die Menschheit insgesamt ganz neu.

Deshalb konnte Corona so rasant verstärken und vervielfachen, was als unterschwellige Entwicklung schon länger zu beobachten ist: die Zerstörung einer gemeinsamen Basis von Fakten, die durch wissenschaftliche Methodik möglichst objektiv gewonnen wird und glaubhaft für alle Menschen eine gemeinsame Grundlage für Gespräche, Verhandlungen und ein friedvolles Miteinander bildet.

Echte Fakten sind essentiell für eine demokratische Gesellschaft

Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder, der sich ebenfalls intensiv damit beschäftigt, wie totalitäre Regime entstehen können, beschreibt es in einem Interview (ab 03:00 min) folgendermaßen:

„Die Deutschen, die Sowjets und andere Nationen, die einen Zusammenbruch der Demokratie erlebten, waren nicht weniger schlau, als wir es heute sind, vielleicht sogar schlauer. Deshalb ist es vielleicht an der Zeit, dass wir von ihnen lernen, was wir tun können, um unsere Demokratie zu schützen. (…) Fakten aufzugeben bedeutet, die Wahrheit aufzugeben. Wenn nichts wahr ist, dann kann niemand Machtausübung kritisieren, weil keine Basis mehr da ist, auf der wir dies tun könnten.

Wenn nichts wahr ist, dann ist alles nur ein Schauspiel. (…) Was ist die Verbindung davon zu ,Post-Truth‘ (= im Deutschen zur„post-faktischen“ Demokratie)?

Das hat damit zu tun, was Faschismus tut: Faschismus suggeriert dir, dass gar nichts wahr ist: Dein tägliches Leben ist nicht wichtig. Tatsachen, die du dachtest zu verstehen, sind nicht mehr wichtig. Das einzige was zählt, ist der Mythos – der Mythos einer vereinten Nation (…).  Wir glauben vielleicht, eine Gesellschaft voller offenkundiger, geduldeter Lügen ist etwas Neues, oder es würde keinen Unterschied machen. Aber was Post-Truth in Wirklichkeit macht, ist, den Weg zu bahnen für einen Systemwechsel.

Denn wenn wir keinen Zugang mehr zu Fakten haben, können wir einander nicht vertrauen. Ohne Vertrauen gibt es keine Gesetze. Ohne Gesetze gibt es keine Demokratie. Wenn du also einer Demokratie ihr Herz herausreißen willst, wenn du sie direkt vernichten willst – dann vernichtest du als erstes die Fakten.“

Die Frage ist also: Gibt es gerade überhaupt echte Fakten und wenn ja, wie können wir sie finden?

Die Macht von Falschmeldungen und Lügen durchschauen lernen

Unser Gehirn ist wie Teflon für Positives und wie Klettverschluss für Negatives“, sagt der Psychologe Rick Hanson. Damit ist auch klar, warum jede Lüge oder Falschmeldung, die wir hören, eine grundsätzliche Wachsamkeit oder Voreingenommenheit erzeugen kann, so nach dem Motto: „Ein Körnchen Wahrheit wird schon dran sein.

Dem ist aber oft überhaupt gar nicht so. Viele öffentlich verbreitete Lügen sind einfach nur komplett falsch. Aber weil Falschmeldungen so intensive (emotionale) Reaktionen auslösen können, verbreiten sie sich auf Twitter etwa sechsmal schneller als echte Nachrichten.

Es scheint außerdem oft regelrecht unmöglich, einmal gehörte Falschnachrichten später vollständig durch andere Tatsachen zu ersetzen – sie scheinen regelrecht in unseren Köpfen festzustecken.

Facebook und Instagram haben 2018 ihren Algorithmus umprogrammiert, von „zeig den Leuten das, was sie am längsten online hält“ zu „zeig ihnen das, was sie zu den stärksten Reaktionen provoziert“.

Die Folge davon ist (wie die Whistleblowerin Frances Haugen im ausführlichen Interview erklärt), dass Menschen in diesen Netzwerken bombardiert werden vor allem mit Nachrichten, die intensive Emotionen auslösen, allen voran Wut. Und was sind das für Nachrichten?

Nicht der Wut verfallen

Natürlich nicht die, die angesichts einer komplexen weltweiten Krise überlegt und sachlich nach Lösungen suchen. Sondern solche, die unsere Entrüstung wecken – beispielsweise also Falschmeldungen, die Wut schüren und meist eine Wut, die wir gegen andere Menschen richten können.

Dazu kommt dann noch, dass wir dazu tendieren, etwas für umso wahrer zu halten, je öfter wir es hören – SOGAR, wenn wir am Anfang eigentlich dachten, dass es nicht stimmt.

Besonders besorgniserregend ist daran: Sogar wenn wir selber weder Facebook noch Instagram, noch andere soziale Medien benutzen, spüren wir doch deren Auswirkungen, durch Ansichten und Verhalten der uns umgebenden Menschen (und Organisationen), die sich in diesen Räumen aufhalten. Laut den veröffentlichten internen Studien ist dies auch bei Facebook allen bekannt und wird in Kauf genommen.

Denn Menschen, die sich in Social Media tummeln (drei Milliarden Menschen allein bei Facebook), werden seit nun fast drei Jahren systematisch darauf konditioniert, mehr Reaktionen zu bekommen, indem sie selbst auch Posts und Kommentare abgeben oder zumindest weitergeben, die Wut provozieren, ein Phänomen, das die Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen auch anspricht.

Verschwörungserzählungen – die folgenschwerste Sorte von Falschmeldungen

Schauen wir zurück zum Nationalsozialismus und der Frage, wie die Menschen der NS-Zeit den Hass und die Gewalt vor sich selbst rechtfertigen konnten?

Wir als Circlewise Institut beschäftigen uns ja sonst sehr viel mit den Forschungen darüber, wie viel Gutes in uns Menschen von Geburt an steckt, und sammeln beglückt seit vielen Jahren die wachsende Zahl von Belegen und Erklärungen dafür, dass wir eigentlich eine zutiefst kooperative und altruistische Spezies sind.

Dass trotzdem das Gegenteil passiert, hat viel mit dem Phänomen von „Entmenschlichung“ zu tun. Dabei wird Personen vereinfacht gesagt ihr „Wie-wir-Sein“ aberkannt.

Und kaum etwas eignet sich besser für das Entmenschlichen von anderen als Verschwörungserzählungen.

Was sind Verschwörungserzählungen?

Zusammengefasst aus der Sammlung der Amadeu Antonio Stiftung und utopia.de geht es um:

  • eine Gruppe von als mächtig wahrgenommenen Personen (den Bösen),
  • die heimlich Geschehnisse steuern und manipulieren würden.
  • Die „Wirklichkeit“ sei also ganz anders als die gängige/öffentliche Meinung zu dem Thema/Ereignis.
  • Damit würden diese Superschurken allen anderen Menschen (den Guten) schaden,
  • und zwar oft mit einem immensen Aufwand an Energie, Technik, Raffinesse u.v.m.
  • Für die Verschwörung werden jede Menge Indizien/Beweise herangezogen (die oft unterhaltsam und auch überraschend, weil scheinbar zufällig sein können).
  • Eingeweihte können diese vermeintlichen Indizien lesen und interpretieren lernen,
  • zum Beispiel durch die Frage danach, wem das Unglück eigentlich am meisten nützt.
  • Verschwörungstheorien lassen sich (anders als wissenschaftliche Theorien) nicht durch Argumente aus dem Weg räumen – egal was man sagt, es kann keinen endgültigen Gegenbeweis geben.

Warum glauben wir sie so leicht?

In ihrer Buchreihe „Fake Facts“ und „True Facts“ erörtern Pia Lamberty und Katharina Nocun ganz ausführlich die Auswirkungen von Verschwörungserzählungen auf Menschen und betonen, wie anfällig wir alle für solche Geschichten sein können.

Je unsicherer eine Situation ist, desto leichter würden Menschen einen gewissen Trost in Verschwörungsnarrativen suchen. Diese bieten uns in einer echt komplizierten Situation etwas ganz Einfaches. Deshalb tauchen sie auch oft direkt im Anschluss an große, verstörende Ereignisse auf – wie beispielsweise nach dem Massaker an der Sandy-Hook-Grundschule in den USA. Hier wird den Eltern und Angehörigen der Kinder noch heute unterstellt, dass sie bezahlte Schauspieler seien, die das Massaker nur inszeniert haben, um Argumente dafür zu konstruieren, dass das Waffengesetz der USA geändert wird.

Die ersten Verschwörungstheorien rund um die Pandemie und damals schon zum Thema Impfen begannen auch direkt nach dem Auftauchen des Corona-Virus zu kursieren.

Auch wenn Verschwörungserzählungen inhaltlich oft verzwickt, verschachtelt und kompliziert sind, bieten sie gleichzeitig doch genau die Form von Einfachheit, nach der wir uns in Momenten der Verunsicherung sehnen: Sie definieren für uns, wer gut und wer böse ist, und natürlich sind wir die Guten.

Damit ist eines unserer Hauptbedürfnisse, nämlich uns selbst auf der Seite der Guten zu wissen, gestillt und versorgt.

Der Hunger nach Erkenntnis und Bestätigung lockt uns weiter

Zusätzlich können sie dafür sorgen, dass unser Körper Dopamin freisetzt, wenn wir uns tiefer und tiefer in die verschlungenen Wege der Verschwörungsgeschichte und der darunterliegenden größeren und älteren Verschwörungsmythologie hineinarbeiten (denn alle Verschwörungsgeschichten können nebeneinander existieren, sogar obwohl sich manche logisch eigentlich ausschließen sollten).

Jedes Puzzle-Teil, das wir finden, setzt Glücksgefühle frei und stärkt nach und nach in uns die Gewissheit, dass wir nicht nur zu den Guten gehören, sondern bald auch zu den Eingeweihten, zu denen, die die Sache erkennen, verstehen und durchblicken, wie sie wirklich ist – im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung.

Das vermeintlich Böse im andern zu sehen begründet Radikalisierung

Ein wichtiger Aspekt für die gesellschaftlich schädigende Wirkweise von Verschwörungserzählungen ist die Mächtigkeit oder eigentlich Übermächtigkeit, die den Verschwörer*innen zugesprochen wird:

In dem Moment, wenn wir uns selbst als schwach und wie ausgeliefert gegenüber einem absolut übermächtigen Gegner empfinden, kann in uns ein echter Überlebensmodus erwachen.

Das bedeutet, was auch immer notwendig ist, um uns selbst und unsere Liebsten zu beschützen, erscheint dann gerechtfertigt.

Die Nazi-Gräuel begründeten sich auf jahrzehntelangem Anfeuern von teilweise jahrhundertealten Verschwörungsmythen gegen Menschen jüdischer Abstammung.

Wenn alle Mittel wie Notwehr erscheinen

Seit fast zwei Jahren radikalisieren sich in vielen Ländern weltweit immer mehr Menschen im „Widerstandskampf“ gegen eine vermeintliche übermächtige „Elite“ und deren „Handlanger“.

Ein Grund, warum die Verschwörungs-Narrative rund um Corona und das Impfen sich so rasant verbreiten konnten, ist aus meiner Sicht die Beteiligung der rechten Szene von Anfang an.

Medien und Menschen, die den Holocaust leugneten oder verharmlosten, wurden zur Plattform und nutzten die Anfangszeit, als große Unsicherheit selbst unter den Expert*innen bestand, um Halbwahrheiten oder Lügen eine Bühne zu geben und damit selbst ein größeres Publikum zu erreichen.

Auch die entstehende Querdenker-Bewegung hatte von Anfang an Verbindungen in die rechte Szene. Immer wieder gab es Redner*innen von rechts außen, eine sich immer noch verstärkende Nähe zur AfD.

Wenn man sich nicht klar gegen rechts abgegrenzt

Anders als viele Protestbewegungen der letzten Jahre (Ende Gelände, Hambi bleibt, Friday’s for Future u.v.m.) grenzt sich die Querdenker-Bewegung nicht von rechtsextremem Gedankengut und Akteur*innen ab. In ihrem Manifest heißt es vielmehr: Wir sind überparteilich und schließen keine Meinung aus.“

Wir vermuten, dass dies unter anderem daran gelegen haben könnte, dass in den Querdenker-Kreisen Menschen zusammenkamen, die sich schon viele Jahre lang kaum oder gar nicht für Politik interessierten – einfach weil es nicht notwendig war.

Politikwissenschaftler*innen haben immer wieder gezeigt, dass man rechte Propaganda oft schwerer erkennen kann, wenn man nicht weiß, worauf man achten muss. Der Grund dafür ist, dass rechtsextreme Parteien und Organisationen eben populistisch agieren, also öffentliche Ängste, Stimmungen und Meinungen aufgreifen und instrumentalisieren, so wie es ihnen gerade passt, einfach um so viele Menschen wie möglich auf ihre Seite zu ziehen.

Wenn Wut blind macht

Die gut erforschte Grund-Strategie rechtspopulistischer Gruppierungen ist es, Reiz-Themen, die viel Wut-Potential in sich tragen, aufzugreifen, hierzu die öffentliche Stimmung weiter und weiter anzuheizen und sich dann als einzige Rettung zu präsentieren – eben so wie die AfD dies seit letztem Jahr praktiziert, leider erfolgreich: In einer Studie zu Querdenker*innen in Baden-Württemberg zeigte sich, dass 2021 doppelt so viele von ihnen die in Teilen vom Bundesverfassungsgericht als rechtsextrem eingestufte AfD wählen wollten.

Von den aktuellen „Spaziergängen“ sind viele von Rechten mitorganisiert, und diese sind präsent dabei. Der Rückenwind der vielen Teilnehmenden wird von einzelnen genutzt, um öffentlich Journalist*innen zu bedrohen und anzugreifen.

Gewalttätige Parolen, Symbole und Forderungen werden durch die intensive Beteiligung von Rechtspopulisten zu einer neuen Normalität gemacht, die von den Anwesenden in diesem emotional aufgeladenen Raum oft anscheinend widerspruchslos akzeptiert wird.

Wenn Gewalt normalisiert wird

Rechtsextreme Gruppierungen schrecken nicht vor Gewalt zurück und immer mehr Menschen aus der bürgerlichen Mitte, die eigentlich Frieden und Gemeinschaft wollen, radikalisieren sich mit ihnen.

Es bricht mir das Herz mitzubekommen, wie Journalist*innen, Politiker*innen, Ärzt*innen und einfach Bürger*innen auf den Demos und in der Zeit dazwischen bedroht oder angegriffen werden.

Viele von ihnen berichten über Wellen von Drohungen, ihre Privatadressen und Fotos werden in den sozialen Netzwerken veröffentlicht, mit der Aufforderung, ihnen das Leben schwerzumachen, gerade Journalistinnen bekommen Vergewaltigungsdrohungen geschrieben oder zugerufen.

Politiker*innen wird gedroht, sie zu hängen oder zu erschießen – und mitlesende, mitlaufende Menschen nehmen das einfach hin. Wenn diese Art von verbalen Wutausbrüchen und Drohungen so massenhaft akzeptiert wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Taten folgen.

Und auch das wurde in den letzten Monaten schon sichtbar, wie viel tätliche Gewalt bei den Anti-Masken-/Anti-Impf-Demos geduldet wurde.

Wenn Gewalt weiter mobilisieren soll

Mich hat es bis in die Knochen erschüttert, als eine Gruppe von Menschen sich mit brennenden Fackeln vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin versammelt hat. Solche schrecklichen, verstörenden Bilder kenne ich nur aus der Geschichte, von der SA, der „Sturmabteilung“ der NSDAP, die im Dritten Reich durch solche Aufmärsche (Fackelaufmärsche und auch Vorbeimärsche) Macht demonstrierte. Der Historiker Daniel Siemens sagt in einem Interview: „Die SA war eine Art Werbetruppe für die NS-Bewegung, die ja im Parlament lange Zeit gar nicht vertreten war. Man nutzte die Gewalt der Straße, um auf sich aufmerksam zu machen. Zugleich war die SA wichtig, um durch gemeinsame Erlebnisse wie Aufmärsche, paramilitärische Lager und auch gewaltsame Überfälle Gemeinschaft zwischen den Nationalsozialisten zu stiften.“

Seit dem ersten Aufmarsch dieser Art ist unzählige Male zu weiteren „Hausbesuchen“ aufgerufen worden, und einige andere wurden auch gestartet (und glücklicherweise vorher gestoppt).

Mordpläne, Anschläge auf Impfzentren, Grabkerzen vor Arztpraxen, Drohbriefe gegen Medien oder Politiker*innen  und tägliche Tötungsaufrufe – das alles zu dulden, sich nicht explizit und vehement dagegen auszusprechen, erwächst in meinem Verständnis einer zutiefst menschenverachtenden und skrupellosen Demonstrationskultur.

Wenn sogar Töten legitim erscheint

Selbst der Mord an einem Studenten wurde von vielen Querdenker*innen nicht verurteilt, sondern unfassbarerweise vielmehr gefeiert. Er hatte als Tankwart einen Kunden auf die Maskenpflicht hingewiesen, woraufhin dieser eine Pistole holte und dem 20-Jährigen in den Kopf schoss, um, wie er der Polizei später sagte, „ein Zeichen zu setzen“.

Wenn du das alles liest und denkst, dass das weit, weit weg von uns ist, lass mich dir erzählen, dass auch Menschen aus unserem größeren Netzwerk im Dunstkreis von Querdenken unterwegs sind und sogar auf uns zugekommen sind, uns einladen haben, doch auch Teil dieser angeblichen Protestbewegung für „Frieden und Freiheit“ zu werden.

Da war bei einigen Menschen, die selber schon Verbindungskultur-Veranstaltungen erlebt haben, vielmehr eher Verwunderung oder sogar Erschrecken darüber, dass wir nicht von vornherein Teil des Ganzen sein wollen und sind.

Woran liegt es, dass Menschen aus unserem Umfeld sich zu Querdenken zugehörig fühlen können?

Wir sind nicht automatisch „die Guten“

Immer wieder erleben wir, wie verbreitet es in naturverbundenen, spirituellen Kreisen ist, sich selbst und die Peergroup als „irgendwie einfühlsamer, bewusster, gesünder, vernünftiger, aufgeklärter, wissender“ und vieles mehr zu empfinden und zu präsentieren.

Seit vielen Jahren setzen wir uns dafür ein, dieses im Kern regelrecht selbstherrliche Bild durch mehr Demut zu ersetzen – weil es einfach nicht trügerischer sein könnte und, wie wir jetzt gerade erleben müssen, unendlich viel Leid in die Welt zu bringen vermag!

Denn leider haben Geschichte und Sozialforschung gezeigt, dass die Prioritäten in naturverbundenen, esoterisch-spirituellen Kreisen schon öfter eben überhaupt gar nicht besonders menschenfreundlich gesetzt wurden und werden.

Mich beschäftigt dabei seit langem die Lebensreform-Bewegung der vorletzten Jahrhundertwende, ein buntes Sammelsurium aus Menschen, die für naturnahes Leben, Einfachheit, spirituelle Erfahrungen, Tierrechte und biologische Landwirtschaft, alternative Heilkunde und körperliche Freizügigkeit und Wohlergehen sowie Gemeinschaft eintraten – also eigentlich für das Gute im Menschen, oder?

Eine verbreitete Version der Geschichte ist, dass die Nazis diese wundervolle Bewegung auslöschten.

Nicht nur für was wir einstehen zählt, sondern auch was tabu ist und bleibt

Tatsächlich aber sind viele der Menschen aus der Lebensreformbewegung im Nationalsozialismus regelrecht aufgegangen, wurden zu Akteur*innen innerhalb der NSDAP und bereiteten den geistigen Boden für die nationalsozialistische Ideologie.

Einer der prominenteren Vertreter der Lebensreform gründete beispielsweise schon 1919 den Hakenkreuz-Verlag als ein „Geistesbollwerk für kultur-völkische Ziele“.

Ebenso erschreckend sind die rassistischen und antisemitischen Wurzeln der Anthroposophie, auch wenn Rudolf Steiners eigene antisemitischen Äußerungen laut Waldorf-Verbänden von anderen Äußerungen relativiert werden, in denen er sich deutlich gegen den Antisemitismus aussprach.

Viele Historiker*innen sehen einen klaren Zusammenhang zwischen der Natur-Romantik in deutschsprachigen Ländern und latenten Vorurteilen gegenüber allen möglichen Formen der Moderne, unter anderem eben auch gegenüber der oft explizit als „jüdisch“ angesehenen Schulmedizin“ (ein Begriff, der vom Homöopathie-Begründer Hahnemann geprägt wurde).

Für uns ist ganz klar die Hauptfrage hierbei: Wenn Naturheilkunde-Fanatismus historisch solide dokumentiert schon einmal den Steigbügel für ein totalitäres Regime gehalten hat – wie können wir verhindern, dass das wieder passiert?

Vor allem scheint es sehr deutlich, dass wir unsere Werte nicht nur auf eine positive Weise nutzen sollten, – als das, wofür wir uns einsetzen -, sondern auch als ein Standard-Maß, mit dem wir überprüfen können, wofür wir uns auf keinen Fall einsetzen wollen, selbst wenn es uns Vorteile bieten würde.

Die Rolle des Themas Impfen

Besonderen Aufwind bekam die alternative Heilkunde in der NS-Zeit, unter anderem aufgrund eines polarisierenden Umgangs mit dem Thema Impfen (denn damals gab es bereits mehrere Jahrzehnte lang eine Impfpflicht und 1930 auch das größte Impfunglück des 20. Jh., als in Lübeck 77 Säuglinge aufgrund von verunreinigten Tuberkulose-Präparaten sterben ).

Reichsärzteführer Gerhard Wagner betonte 1933 die ‚Überlegenheit‘ der Alternativmedizin gegenüber der ‚verjudeten Schulmedizin‘. Um dieser die Homöopathie entgegenzusetzen, gründeten die Nazis 1935 die ‚Reichsarbeitsgemeinschaft Neue Deutsche Heilkunde‘. Deren Mitglieder waren unter anderem der ‚Deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte‘, der ‚Reichsverband der Naturärzte‘ und die ‚Vereinigung anthroposophischer Ärzte‘. 1933 zeigt das NS-Propagandablatt ‚Der Stürmer‘ die Karikatur einer Mutter mit Baby im Arm. Daneben steht ein ’naturferner und verirrter Mediziner‘ mit einer Spritze in der Hand. Mit der Hakennase des Arztes erfüllt die Karikatur klar antisemitische Klischees. Skeptisch blickt die Mutter auf den Mediziner: ‚Es ist mir sonderbar zumut, denn Gift und Jud’ tut selten gut.‘

Im Zusammenhang mit Impfungen habe der Antisemitismus eine lange Geschichte, sagt der Medizinhistoriker Malte Thießen, der am Institut für Regionalgeschichte Münster und an der Universität Oldenburg forscht. Das Impfen werde teils als ‚Verschwörung einer Elite‘ begriffen, ‚die in den Körper eingreift‘.

Wenige Menschen hätten voraussehen können, dass heute ausgerechnet das Thema Impfen wieder (und vermutlich sogar in stärkerem Maße) so eine prominente und potente Rolle im gesellschaftlichen Diskurs bekommen würde. Es ist jetzt dreißig bzw. vierzig Jahre her, seit die Pocken-Impfpflicht in Deutschland aufgehoben wurde.

Ein altes Thema, das sich gut zum Polarisieren eignet

Wer hätte geglaubt, dass sich das Thema Impfen tatsächlich anbieten würde, von Rechten genutzt zu werden, um derart zu polarisieren und Menschen zu mobilisieren, die vorher in der gesellschaftlichen Mitte oder sogar mit eher linken Einstellungen unterwegs waren?

Aber das ist genau das, was im Moment geschieht – somit ist dieses Thema, das persönliche Aspekte hat, aus unserer Sicht gerade einfach kein neutrales oder rein persönliches Thema mehr.

Ein rein persönliches Thema war das Impfen zu Beginn der NS-Zeit eben auch nicht. Schon seit dem Aufkommen der allerersten Impfungen (gegen die Pocken) gab es eine Scheu vor dem Impfen.

Von den Nazis wurde diese ganz gezielt weiter angestachelt und für Propaganda genutzt. In einem mdr-Beitrag hierzu wird zitiert: Durch ,Einimpfen von Krankheiten‘ solle die Menschheit der ,jüdischen Geldherrschaft unterworfen‘ werden. Und Julius Streicher, der Gründer und Herausgeber des Hetzblatts ,Der Stürmer‘, fabulierte, dass ,Impfungen von den Juden als Rassenschande in die Welt gebracht worden seien‘, so der Medizinhistoriker Thießen.“

Das änderte sich übrigens bald wieder, als erkannt wurde, dass fehlende Impfungen die Wehrmacht im Kampf gegen die anderen Nationen schwächen würden. Der NDR schreibt: „Am Ende setzt sich jedoch das Reichswehrministerium mit seinen Argumenten durch, eine Abschaffung der Impfpflicht könnte der Schlagkraft und Wehrfähigkeit des Deutschen Reiches schaden. Die Diphtherie-Impfung bleibt allerdings freiwillig. Aber der soziale Druck ist hoch, denn die Impfung wird als Dienst an der Volksgemeinschaft verstanden. Propagandafilme sollen die Impfwilligkeit in der Bevölkerung stärken. Die Nationalsozialisten arbeiten mit Parolen, die überzeugender sind als jede Impfpflicht.“

Das alles sind Zusammenhänge, die heute in unserem alternativen Umfeld kaum jemandem bewusst zu sein scheinen.

Die Fallstricke der Esoterik

Für mich ist im Kern des Ganzen, was da passiert, ein tiefer Zynismus wahrnehmbar – den ich aus der Esoterik kenne, und der manchmal unter dem Sammelbegriff „Spiritual Bypassing“ läuft – wenn ich mir das Unbequeme in der Realität durch pseudo-spirituelle Konzepte quasi weg-erkläre, Mit-Verantwortung oder auch ganz natürliche Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit einfach wegschiebe.

In der Esoterik-Szene ist es beispielsweise sehr verbreitet, Kranken die Schuld für ihr Leiden selbst zuzuweisen. „Schandtaten in einem früheren Leben“ werden da genauso genannt wie „falsche Ernährung“ oder „zu viel Negativität im Denken“.

Ähnliche menschenverachtende Aussagen habe ich auch immer wieder über die Corona-Toten gehört: „Die wären sowieso gestorben.Wer krank wird oder stirbt, hat einfach irgendwas falsch gemacht, vielleicht einfach zu viel Angst vor dem Virus gehabt?

Warum sind wir „alternativen Leute“ so anfällig für Verschwörungs-Ideologien?

In der alternativen Szene, zu der wir uns (zumindest bis jetzt noch!) auch zählen, ist die Fixierung auf ein ideales Leben, ein echtes, wahrhaftiges, bestes Leben so groß, dass die Sehnsucht danach manchmal wohl den gesunden Menschenverstand beim Denken und Entscheiden behindert.

Vor allem aber scheint die Gefahr groß, sich selbst zu überhöhen und in Arroganz zu verfallen.

Eine Studie vom letzten Sommer für Baden-Württemberg hat gezeigt, dass die gesamte Querdenken-Bewegung hier zu einem Großteil aus Personen besteht, die dem alternativen Milieu und/oder dem anthroposophischen Milieu angehören.

Es heißt darin: „Die beiden Milieus weisen strukturelle und ideelle Gemeinsamkeiten und Überschneidungen auf. Unter anderem Ganzheitlichkeit, Individualität, Selbstbestimmung und Naturverbundenheit stellen geteilte Bezugspunkte (dar). (…) Es führt aber kein direkter Weg vom (ehemaligen) linksalternativen Milieu zum ,Querdenkertum‘ im 21. Jahrhundert.

Es handelt sich gerade um die Transformation dieses Milieus, in der von den linken Politikformen und linken Werten wie Solidarität und Gleichheit im Grunde nichts mehr übrig ist.“ (Hervorhebung von mir)

Wenn Selbstverwirklichung und individuelle Freiheit im Zentrum stehen

In der Studie heißt es weiter: „Geblieben sind vor allem Lebensstile der Körperpolitik und der Selbstverwirklichung, die Idee der Ganzheitlichkeit, häufig (aber nicht immer) eine spirituelle und vor allem anthroposophische Überzeugung und ein libertäres Freiheitsverständnis.“ 

Besonders verstörend ist dabei, dassdie Bewegung durch eine tiefe Entfremdung von Kerninstitutionen der liberalen Demokratie gekennzeichnet ist. 

Der parlamentarischen Politik und den Parteien, der Wissenschaft und den Medien – allen öffentlichen Institutionen schlägt großes Misstrauen entgegen. Die von uns analysierten Wählerwanderungen legen die Grunddynamik der Querdenken-Bewegung offen, die sich auch für Baden-Württemberg zeigt: Es ist eine Bewegung, die teilweise eher von links kommt, sich aber nach rechts bewegt.“

Auch die Zahlen sprechen hier eine klare Sprache: Während es im Herbst 2017 nur 8 % der Befragten waren, die die AfD wählten, wollten das im Herbst 2021 etwa 20 % Prozent der Personen in der Studie.

Wenn kein Interesse für Politik besteht

Auch andere kommen zu dem Schluss, dass ein Hauptproblem der Mangel an politischem Interesse (und damit auch Kenntnissen und Orientierung) der Menschen ist, die aus der Esoterik-Szene nun im Querdenken gelandet sind.

Wer nicht weiß, wie rechter Populismus funktioniert, kann dem, was man Volksverhetzung nennen kann, so viel leichter zum Opfer fallen. Dies ist vermutlich ein Grund dafür, warum Rechtsextreme schon seit Jahren gezielt die Esoterik-Szene als Brücke ins bürgerliche Milieu nutzen.

Die Illusion, selbst und von alleine die besten Entscheidungen treffen zu können

Ein weiterer Stolperstein gerade jetzt und heute ist sicherlich die irrige Annahme, alle Entscheidungen immer am besten „nach meinem eigenen Gefühl“ zu treffen.

Dies ist vermutlich oft richtig, wenn ich an Entscheidungen denke, die nur mich ganz allein, persönlich betreffen.

Wenn „mein Gefühl“ zu befragen nicht reicht – bei einer Entscheidung, die viele betrifft

Aber es könnte nicht falscher sein, wann immer es um Entscheidungen geht, die Konsequenzen für andere Menschen haben, wie das eben auch beim Thema Impfen ist.

Und ich halte es auch für höchst fragwürdig, wenn es um Entscheidungen geht, bei denen Informationen, Fakten, Kenntnisse eine Rolle spielen, die ich selbst einfach nicht haben, nicht wissen kann.

So ein Fall ist für mich die Frage, ob ich mich gegen Corona impfen lassen sollte oder nicht.

Diese Frage haben wir jedenfalls nicht nur „nach Gefühl“ beantwortet. Sondern uns Wissen, Informationen, Hintergründe und Fakten von vielen Expert*innen angeschaut, die sich seit fast zwei Jahren (und manche schon viele Jahrzehnte lang) damit beschäftigen.

Dabei zeigt sich für uns eine ähnliche Situation wie rund um das Thema Klimawandel: Eine große Mehrheit der Wissenschafts-Community wie auch der Mediziner*innen weltweit sind sich in den meisten Punkten einig.

Eine kleine Anzahl von Personen redet voll dagegen, und beharrt auch auf der Richtigkeit ihrer Argumentation.

Wie also können wir mit all dem umgehen?

Sich trauen, mit Fakten-Checks althergebrachte Vorannahmen zu hinterfragen

Manche Falschinformationen oder Verschwörungstheorien sind so absurd, dass man sie leicht erkennen kann. Andere klingen so unauffällig und sind schon so lange im Umlauf, dass es echt schwer ist, sie überhaupt zu bemerken.

Ich habe auch erst im letzten Jahr herausgefunden, dass die von vielen Menschen in meinem Umfeld wie selbstverständlich vertretene Meinung, dass Impfen an sich gefährlich ist, im Grunde auf jahrhundertealten Verschwörungsmythen basiert.

Seit ich selbst Mutter wurde, habe ich kritische Stimmen zum Impfen gehört und mit so ähnlicher Vehemenz und Souveränität weitergegeben wie die ganz klare Empfehlung, dass man Kindern eben keinen Alkohol zu trinken geben sollte.

Es gibt auch heute jede Menge Heilpraktiker*innen und sogar Ärzt*innen, die grundsätzlich vom Impfen abraten.

Es zeigt sich: Alle grundsätzlichen Impfbedenken sind schon lange widerlegt

Dabei wurden und werden die einzelnen der dramatisch klingenden „Kritikpunkte“ gegen das Impfen schon seit langer Zeit untersucht und ganz klar widerlegt, beispielsweise eine vermeintliche Studie vom britischen Arzt Andrew Wakefield, der 1998 behauptete, die Masern-Mumps-Röteln-Impfung würde Autismus auslösen. Seine These wurde vielfach weitergegeben, obwohl Wakefields Studie (für die er, wie später herauskam, einen hohen Geldbetrag von den Anwälten der Eltern der zwölf in der Studie untersuchten Kinder erhielt) schon in sich so fehlerhaft und/oder regelrecht betrügerisch war, dass sie von der Fachzeitschrift zurückgezogen wurde und er sogar sein Recht verlor, als Arzt zu praktizieren.

Die gesamte Geschichte rund um Wakefield und die unfassbar weiten Kreise, die seine Falschbehauptungen heute noch ziehen, wurde kürzlich investigativ aufbereitet und dokumentiert in einem sehr sehenswerten Dokumentarfilm die online auf arte zu finden ist: „Impfgegner – wer profitiert von der Angst?“.

Vieles von dem, was überliefert ist als Risiken für das Impfen überhaupt, hat also bei genauerem Hinschauen gar keine Grundlage.

Und weil das jetzt vielleicht für dich ganz persönlich oder für andere, die diesen Artikel lesen, ein echter Schock ist, schreibe ich es nochmal langsam:

Vieles von dem, was überliefert ist als Risiken für das Impfen überhaupt, hat bei genauerem Hinschauen gar keine Grundlage!

Hier gibt es einen kurzen und knappen Fakten-Check zu den verbreiteten Behauptungen übers Impfen, mit Erklärungen und Links und hier auch einen noch kürzeren Faktencheck auf deutsch.

In diesem Artikel hier sind einige der wenigen bisher aufgetretenen Fälle von tatsächlichen Impfschäden aufgeführt – die keineswegs vertuscht wurden, sondern allesamt öffentlich durch die Medien gingen. (Zu den möglichen Nebenwirkungen der Corona-Impfung später noch mehr.)

Wie geht ein Fakten-Check?

Es ist zum Glück so viel leichter als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, Falschinformationen zu entlarven.

Für mich ist eine oft sehr fruchtbare und sehr einfache Strategie: eine Online-Suche nach dem Begriff, um den es geht, ODER mit einer bestimmten Behauptung aus einem Fake-News-Beitrag – UND dazu einfach „Faktencheck“ einzugeben.

Oft dauert es nur wenige Tage oder sogar Stunden nach der Veröffentlichung von Beiträgen, bis jemand anders sich die Mühe gemacht hat, sorgfältig den Wahrheitsgehalt zu prüfen oder eben aufzuzeigen, welche Teile der Behauptung oder Argumentation fehlerhaft oder irreführend sind.

Aufdecken, was alles nicht stimmt

Zum Glück gibt es inzwischen einige Menschen, die viel Zeit investieren, um potentielle aktuelle Falschmeldungen und auch althergebrachten Quark direkt aufzudecken. Sie finden und überprüfen Meldungen und zeigen einfach und nachvollziehbar auf, was daran einfach wirklich gar nicht stimmt.

Richtig viele Faktenchecks finden sich auf Plattformen wie https://correctiv.org oder https://faktencheck.afp.com, Faktenfuchs vom BR oder beim „Volksverpetzer“-Team. Hier lohnt es sich auch, einfach mal durchzustöbern und so vielleicht mehr zu erfahren über die eine oder andere Nachricht, die in den letzten Wochen durch die sozialen Medien Verbreitung fanden.

Eine andere Möglichkeit, die ich oft nutze, wenn ich für unsere Blog-Artikel recherchiere: die Autor*innen eines Beitrags oder auch den Titel und die Urheber einer bestimmten News-Plattform oder Webseite einzugeben und dazu „Kritik“ als Stichwort.

So finde ich schnell Beiträge darüber, welche hier vorgetragenen Meinungen oder Vorgehensweisen als kritikwürdig angesehen werden und von wem.

Einen umfangreichen Fundus an Informationen über medizinische Themen gibt es auf dieser Seite: https://medwatch.de:Das Team von MedWatch scannt das Netz nach gefährlichen und unseriösen Heilungsversprechen. Einen Schwerpunkt bilden Recherchen aus der Grauzone des Netzes, in der vermeintliche Heiler ihre Wunder anbieten. MedWatch berichtet und klärt auf.“

(Übrigens konnte ein Großteil der Falschkampagnen rund ums Impfen im englisch-sprachigen Facebook-Raum auf nur ein Dutzend Urheber*innen zugeordnet werden, die diese über diverse Accounts verbreitet haben.)

Kann ich das auch irgendwie abkürzen?

Fakten zu überprüfen ist immer aufwendig, vor allem am Anfang, wenn man selbst überhaupt noch gar nichts über ein Thema weiß.

Es gibt aber eine Menge Kommunikations-Strategien, die als Grundmuster in vielen Falschnachrichten gleich auf den ersten Blick erkennbar sind, beispielsweise falsche Behauptungen als Fragen zu formulieren, eine Technik, die in Boulevard-Medien schon seit langem genutzt wird.

Je besser ich diese Grundstrategien kenne, desto leichter und schneller kann ich Desinformation erkennen.

Hier ist eine umfangreiche Liste von correctiv.org, die ich sehr hilfreich finde, oder auch diese hier vom Landesmedienzentrum Baden-Württemberg.

Und wie steht es um deine Nachrichtenkompetenz? Hier gibt es einen Selbst-Test, der einen Einblick darin ermöglicht, wie gut man im Dschungel der Meldungen und Plattformen zurechtkommt.

Insgesamt kann ich öffentlich-rechtliche Medien sehr empfehlen, oder auch alteingesessene private Medien wie beispielsweise „Die Zeit“ und gerade für investigative Themen auch die „taz“.

Ein Vorteil all der genannten ist, dass deren Berichterstattung zwar auch nicht perfekt ist, sie aber bei Fehlern sogar Richtigstellungen hinterherschicken. Das ZDF hat beispielsweise eine eigene Seite extra dafür.

Die Zukunft braucht, dass wir wissenschaftlichen Erkenntniswegen vertrauen – nicht nur zum Thema Impfen

Wir verfolgen Studien und wissenschaftliche Veröffentlichungen zu allen möglichen Themen und eben auch rund um das Corona-Virus und Covid-19. Natürlich sind auch Wissenschaftler*innen Menschen und können sich somit immer auch irren, Daten falsch interpretieren oder sich von egoistischen Interessen leiten lassen.

Doch der fortlaufende wissenschaftliche Austausch, in den sich unzählige Menschen verschiedenster Institutionen weltweit einbringen, ist für uns einer der inspirierendsten Lernräume überhaupt und ein unglaubliches Geschenk unserer Zeit.

Hier beispielsweise gibt es eine Webseite, auf der Wissenschaftler*innen aus aller Welt sich Medienberichte vornehmen und danach durchsieben, welche Behauptungen wirklich stimmen: https://healthfeedback.org.

Denn so, wie sie es im Titel ihrer Webseite aussprechen, sehen wir es auch:

Korrekte Informationen sind die Grundlage für gelingende Demokratie.

Die Bedeutung dieses offenen, freien und dadurch sehr schnellen Austauschs von Wissenschaftler*innen, öffentlich geteilt mit jedem Menschen, der Zugang zum Internet hat, ist für mich einer der größten Hoffnungsschimmer in der heutigen Zeit. Denn gerade wenn wir an die Klimakatastrophe denken, und an den Umgang mit den vielen Herausforderungen, die sich daraus ergeben werden, wird unser Überleben als Menschheit entscheidend davon abhängen.

Im Grund ist die Frage, wie viel Einflussnahme wir denjenigen Menschen ermöglichen können, die daran interessiert sind herauszufinden, was wirklich hilfreich ist – statt primär politischem oder unternehmerischem Kalkül zu folgen.

Angesichts der Klimakatastrophe, die weltweit schon lange stattfindet und vorhersehbar auf weitaus heftigere Weisen sich weiter ereignen wird, halten wir es für absolut essentiell, den Wissenschaftler*innen zu vertrauen, die dem Aufzeigen echter Fakten verpflichtet sind und ihr Bestes geben, um hilfreiche Strategien zu entwickeln.

Wir stehen dafür ein, dass diese echt tapferen Leute Wertschätzung, Zuspruch und Rückenwind durch unser Handeln und Kommunizieren bekommen, statt wie in den letzten 1,5 Jahren aufgrund ihres Einsatzes für das Impfen und andere unbeliebte aber wichtige Maßnahmen mit Shitstorms und grauenvollen Drohungen bombardiert zu werden.

Warum wir uns für die Impfung entschieden haben

DISCLAIMER: Wir sind offensichtlich beide keine Medizin-Spezialisten! Alles, was wir hier geschrieben haben, ist unser persönliches Verständnis der Situation, sind nur unsere Meinungen und Interpretationen. Wir teilen sie hier, weil verschiedene Menschen uns in den letzten Wochen angesprochen und gefragt haben. Vielleicht können sie eine Anregung sein, selber die aufgelisteten Quellen zu studieren und dort fachlich fundiertere Aussagen zu finden. 

Covid-19 ist eine gefährliche Krankheit

Auf eine Weise ist es tragisch dumm gelaufen, dass Covid als erstes den Ruf einer „Grippe-ähnlichen“ Erkrankung bekam. Denn tatsächlich handelt es sich eher um eine Multi-System-Erkrankung. Neben den akuten Gefahren wie Organschäden und Tod durch Lungenversagen oder Herzstillstand, werden schon seit Sommer 2020 die potentiell verheerenden Langzeitfolgen in Studien immer sichtbarer, beispielsweise eine andauernde Entzündung von Hirnzellen.

Nach einer Studie mit 250.000 ungeimpften Erwachsenen und Kindern in den USA litten mehr als die Hälfte der Erkrankten auch noch sechs oder mehr Monate später unter Langzeitfolgen, von denen viele die Lebensqualität stark beeinträchtigen können (wie der anhaltende Verlust des Geruch- und Geschmackssinns, Konzentrationsschwäche, Gedächtnisstörungen oder Lungenschwäche).

Schäden wurden bei Untersuchungen häufig überall im Körper gefunden, auch an Geweben und Organen, wo die Betroffenen selbst keinerlei Beschwerden feststellen konnten.

Auch Kinder leiden an Long-Covid, selbst wenn die eigentliche Infektion bei manchen völlig symptomlos verlief. Wie viele davon betroffen sind, variiert stärker als bei Erwachsenen, in manchen Studien war aber ebenfalls die Hälfte der infizierten Kinder betroffen.

Im Moment ist es nicht absehbar, welche wirklich langfristigen Folgen die Erkrankung nach sich ziehen wird.

Anfang Januar warnte der finnische Gesundheitsminister, dass Long-Covid die häufigste chronische Krankheit im Land werden könnte und sprach dabei insbesondere die Gefahr einer Vervielfachung von Alzheimer und Parkinson-Fällen aufgrund der neurologischen Auswirkungen im Gehirn an.

Impfen hilft, auch wenn es Ansteckung nicht verhindert

Leider ist Covid keine Krankheit wie die Pocken, die durchs Impfen fast wie völlig ausgeschlossen werden kann. Deshalb wäre es sachlich auch falsch zu sagen, „wer Angst hat, könne sich ja selber impfen und damit schützen“. Vielmehr ist es umso wichtiger, dass so viele Menschen wie möglich solidarisch sind und sich impfen lassen, um mit der Zeit kollektiv eine allmählich wachsende Immunität zu kreieren.

Jetzt mit der Omikron-Variante kann man sagen: Dreifaches Impfen schützt immer noch signifikant vor Ansteckung (und damit auch davor, selber andere Menschen anzustecken). Vor allem aber schützt es deutlich vor schweren Verläufen und damit vor der Notwendigkeit ins Krankenhaus zu kommen, davor an Lungen- oder Herzversagen zu sterben, und es schützt vermutlich (zumindest zeigt sich das in einigen Studien) auch vor Long-Covid-Symptomen.

In einer Studie in Südafrika verringerte selbst eine nur zweifache Impfung den Anteil schwerer Verläufe um 70 %.

Für Schwangere, die an Covid erkranken, besteht ein erhöhtes Risiko, ihr Kind zu verlieren oder selbst einen schweren Verlauf zu haben – gerade für sie wird eine Impfung also besonders empfohlen.

Nicht nur die Impfungen wollen zumindest bis jetzt immer wieder aufgefrischt werden: Am Anfang der Pandemie nahm man noch an, eine Infektion könne vielleicht sogar zu vollständiger Immunität führen. Inzwischen ist jedoch sicher, dass jemand, der schon eine Covid-Infektion durchlitten hat, eine Neu-Infektion erleben kann, sogar schon drei Monate nach der ersten Erkrankung, schätzen einige Forscher*innen.

Impfen hilft, auch wenn es einen Impfdurchbruch gibt

Dabei war der Verlauf in einigen Fällen sogar noch schwerer. Bis jetzt sei es deshalb nicht sicher, aber auch nicht auszuschließen, dass beispielsweise die Antikörper von der ersten Infektion eine zweite sogar verschlimmern könnten. In den frühen Fällen von Re-Infektion sind die Verläufe weniger schlimm gewesen. Insgesamt ist die Datenlage hier aber noch ziemlich dünn. Impfdurchbrüche scheinen auf jeden Fall durchweg milder zu verlaufen.

Dass mehrfaches Impfen einer der bestmöglichen Wege ist, um sich und andere zu schützen, ist aber unangefochten, auch wenn nicht klar ist, wie oft das notwendig sein wird, um beständiger geschützt zu sein.

Deshalb bin ich und sind wir dreimal geimpft. Und deshalb beschäftigen wir uns weiter mit dem Thema – weil auch die Expert*innen beständig dazulernen und sich mit neuen Varianten und vielem mehr die Rahmenbedingungen beständig entwickeln und verändern.

Bei allen diesen Punkten wird deutlich: Nichts verspricht gegenwärtig eine schnelle und endgültige Lösung. Die Krankheit ist eine riesige Herausforderung und es gibt bisher wenig verbindliche Erkenntnisse, und wenn ja, können diese sich auch weiter verändern.

Vor allem sind wir auch aus Solidarität geimpft und für die Freiheit – nicht für unsere persönliche, sondern für die kollektive Freiheit, vor allem auch für diejenigen Menschen, die sich wirklich nicht impfen lassen können, beispielsweise die Jüngsten in unserer Gesellschaft.

Denn auch wenn Kinder insgesamt meist mildere Verläufe haben, breitet gerade Omicron sich so rapide aus, dass an vielen Orten Kinder vermehrt in die Krankenhäuser kommen. Auch leiden sie wie schon geschrieben unter Umständen hinterher an Long-Covid-Symptomen, die ihr Leben wirklich einschränken könnten.

Was wir noch tun können

Gleichzeitig ist es immer noch ganz klar relevant und wirkungsvoll, Schutzmasken zu tragen. Die Ansteckung findet nicht ausschließlich über Tröpfchen-Infektion statt (was nur möglich ist, wenn wir in enger räumlicher Nähe sind), sondern auch über Aerosole (das sind auch Tröpfchen, aber mini-kleine), die sich unter Umständen lange in der Luft eines geschlossenen Raumes halten können.

Umso klarer ist daher die Empfehlung, in Innenräumen Masken zu tragen, vor allem wenn diese nicht gut durchlüftet sind (beispielsweise auf öffentlichen Toiletten, in Gängen usw.).

Schmierinfektionen (durch das Berühren von Oberflächen) sind außerhalb des Gesundheitswesens nicht nachgewiesen und somit zwar nicht ausgeschlossen, vermutlich aber eher selten.

Hände zu waschen und Flächen zu desinfizieren ist also wichtig – Maskentragen, Abstandhalten und Lüften scheint aber wesentlich dringlicher und relevanter.

Impfen hilft – wir alle haben von den Impfungen der Geschichte profitiert

In meiner Lebenszeit konnte ich frei von Impfpflicht leben. Weil viele, viele Jahrzehnte lang Menschen in unterschiedlichen Teilen der Welt für viele der verheerendsten Krankheiten der Geschichte Impfungen entwickelt und verbreitet haben, deren Auswirkungen die Menschen von heute immer noch schützen, zum Beispiel was die berüchtigten Pocken betrifft.

Im 20. Jahrhundert allein starben schätzungsweise 500 Millionen Menschen an Pocken, 30-40 % der Nicht-Geimpften. Manche Forscher*innen gehen davon aus, dass die von weißen Siedlern eingeschleppte Viruserkrankung in Nordamerika je nach Region sogar zwischen 50-90 % der nordamerikanischen Ureinwohner*innen tötete.

Dank der Impfungen jener unzähliger Menschen, die vor allem während des letzten Jahrhunderts ihre persönlichen Zweifel überwanden, bin ich mit dem Privileg aufgewachsen, mich zu meinen Lebzeiten nie um die Pocken kümmern zu müssen, nie auch nur einen Schimmer von Angst davor haben zu brauchen, dass ich selbst oder meine Liebsten von ihnen betroffen sein könnten.

Eine Möglichkeit, die zumindest nicht unwahrscheinlich ist: dass Covid-19 mittelfristig endemisch bei uns werden und dann auch deutlich entspannter für alle Menschen verlaufen könnte.

Damit die Pandemie eine Chance sein kann

Für mich hat die Pandemie viele Prozesse ausgelöst, die ich sonst nicht in dem Maße durchlaufen hätte:

  • der Kontakt mit Falschmeldungen und Verschwörungsgeschichten und mit der Zeit das immer deutlichere und ernsthafte Hinterfragen von Informationen und ihren Quellen,
  • mehr Wissen und Hintergrundinformationen über rechtsextreme Gruppierungen und Personen in Deutschland und Europa,
  • eine ganz neue Wertschätzung für Medien, die ihren Auftrag für sachliche und wahrheitsgemäße Berichterstattung ernstnehmen,
  • Hochachtung für Virolog*innen und andere Expert*innen, die vom Start der Pandemie an im Kreuzfeuer von Erwartungen, Ungeduld, Forderungen, Beschimpfungen, Drohungen standen und trotzdem weiterhin ihr Wissen geteilt haben,
  • eine echte und anhaltende Freude darüber, dass die absolute Mehrheit der Bevölkerung in diesem Land bereit war und ist, Einschränkungen auf sich zu nehmen, jetzt ja schon über einen langen Zeitraum, um vor allem andere Menschen zu schützen.

Gleichzeitig haben die Kontakt-Einschränkungen und anderen Maßnahmen vielen Menschen unsägliches Leid gebracht, was in keinster Weise beschönigt werden kann:

Häusliche Gewalt hat sich vervielfacht, vor allem gegen Kinder und Frauen, angefeuert unter anderem von Quarantäne-Zeiten und Geldsorgen. Depressionen und Angstzustände gerade auch bei Kindern und Jugendlichen haben stark zugenommen.

Jede siebte Firma bangt schon allein in Deutschland um ihr Überleben (so wie wir auch) – wo auch Menschen dran hängen, deren Familien unter der Existenzangst leiden.

Weltweit wurden und werden Millionen von Menschen in den Hunger getrieben.

Gerade weil die Kontaktbeschränkungen vielen Menschen so an die Substanz gehen, sehen wir es jedoch umso mehr als Chance, hier möglichst schnell Linderung zu ermöglichen, wenn viele Leute sich impfen lassen.

Eine andere wichtige Frage ist es, inwieweit wir zusätzlich Verantwortung für unsere Mitmenschen übernehmen können, indem wir selbst auch weniger privilegierte Personen in unserem Umfeld aktiv unterstützen, und eben auch durch unser Verzichten auf individuelle Privilegien dazu beitragen, dass die Lage sich ein klein wenig entspannter weiterentwickeln kann.

Für sonst privilegierte Menschen können Impfen und andere Maßnahmen eine Übung im Verzichten sein

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Unannehmlichkeiten von Maskentragen, Abstandhalten, Kontaktbeschränkungen und Sich-impfen-Lassen vergleichsweise harmlos erscheinen könnten – verglichen mit den Einschränkungen, dem Verzicht oder sogar Leiden, den die weiter fortschreitende Klimakatastrophe für uns bereithält.

Mit all dem, was schon jetzt unwiderruflich aus dem Gleichgewicht geworfen ist, und den Folgen, die das in den kommenden Jahren mit sich bringen wird, werden wir in der Zukunft sicher nicht nur Mobilität neu denken und anders konsumieren müssen als bisher.

Vielleicht wird es vielmehr darum gehen, unseren westlichen Wohlstand und unsere meistenteils durch Jahrhunderte der Ausbeutung entstandenen Privilegien mit dem Rest der Weltbevölkerung zu teilen. Platz zu schaffen für Klimaflüchtlinge, Ressourcen-Knappheiten auszuhalten.

Mir liegt für diese uns bevorstehenden Jahre und Jahrzehnte am Herzen, dass nicht nur meine Liebsten, sondern auch die Gesellschaft im Ganzen sich auf mich verlassen kann – auf meine Solidarität und auf mein aktives Mit-Wirken.

Krisen können das Beste aus Menschen rausholen – aber nur, wenn wir uns auch solidarisch verhalten

Was wir in der Zukunft wohl am dringendsten brauchen werden, ist Zusammenhalt! Dabei schaut die Menschheit auf wenige Jahrtausende voller Zerwürfnisse und gewalttätiger Feindschaft zurück, manche Anthropolog*innen gehen aber davon aus, dass dahinter viele Jahrzigtausende liegen könnten, die von einer Abwesenheit von Krieg geprägt waren.

Viele Sozialforscher*innen vertreten schon seit vielen Jahren die immer besser belegte These, dass wir das Potential und die Vorliebe für friedvolles Miteinander als quasi biologische Grundausstattung mitbringen. Auch insbesondere in schweren Krisenzeiten können unsere Fähigkeiten zur Nächstenliebe regelrecht aufblühen und die Gemeinschaften tragen.

Für uns haben die Monate mit Corona gezeigt, dass Milliarden von Menschen bereit sind, Opfer zu bringen, um zuallererst andere zu schützen. Gerade in der Anfangszeit der Pandemie war das deutlich, als man noch davon ausging, dass die Krankheit vor allem für Ältere und gesundheitlich beeinträchtigte Menschen schwerwiegend verlaufe und für fitte Menschen fast nur glimpflich bleibe.

Es war und ist wunderbar, einen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu spüren, der in den Jahren vor der Pandemie kaum vorstellbar gewesen wäre. An diesem echten und aufrichtigen Zusammenhalt wollen wir teilnehmen, denn wir brauchen einander jetzt – und werden einander in Zukunft immer noch stärker brauchen.

Und was, wenn wir uns trotzdem einfach nicht impfen lassen wollen?

Uns ist natürlich bewusst, dass viele Menschen in unserem Umkreis nicht geimpft sind UND gleichzeitig Gewalt ablehnen und sich selbst niemals als politisch rechts einordnen würden.

Das Tragische gegenwärtig ist jedoch, dass viele dieser Personen, mit denen wir im Gespräch zu diesen Themen sein konnten, sich trotzdem (und zwar ohne es zu wissen) auf Quellen beziehen, die ganz klar rechte Verbindungen hatten oder sogar selbst in der Vergangenheit als Holocaust-Leugner*innen oder Antisemit*innen in der Öffentlichkeit sichtbar waren.

Wenn wir zurückschauen in die NS-Zeit, sehen wir, dass die NSDAP in ihrem ersten Jahr nur 1.700 Mitglieder hatte. Während der gesamten Dauer der Diktatur war es nur ein geringer Anteil der Bevölkerung, der selbst aktiv Gewalt-Taten ausübte. Aber diese Taten wurden getragen, gedeckt und mit stiller Zustimmung legitimiert von vielen Millionen Menschen, die einfach grob dieselbe Ideologie vertraten.

Es ist nicht nur bezüglich Impfen wichtig, wofür wir unsere Zustimmung geben und wofür nicht

Das Impfen gegen Corona ist zu einem Thema geworden, das uns allen die Chance bietet, ganz genau hinzuschauen, welche Quellen wir nutzen, wem wir vertrauen.

Für mich sind das ganz klar jene Akteure der liberalen Demokratie, die laut der Querdenker-Studie gerade so viel Misstrauen ernten, vor allem die wissenschaftliche Community und die freien und öffentlich-rechtlichen Medien. Auch die wissen nicht alles, machen Fehler und verhalten sich oft eigennützig. Aber sie haben ein Auge aufeinander und sind bereit, sich zu korrigieren, aus ihren Fehlern dazuzulernen.

Das Greater Good Science Center der Universität in Berkeley, Kalifornien hat in empirischen Studien ermittelt, dass eben diese Bereitschaft die vielleicht wichtigste Kernzutat dafür sein könnte, eben nicht den Desinformationen rund um die Pandemie zum Opfer zu fallen.

Sie nennen dieses Bündel von Kompetenzen „intellektuelle Demut“ und schätzen ihre Bedeutung als so zentral ein, dass sie gerade in dieser Woche sogar Stipendien ausgeschrieben haben für journalistische Arbeiten, die sich mit dem Thema beschäftigen.

Die Bedeutung von intellektueller Demut

Diese Aspekte werden dazugezählt:

  • Ein Bewusstsein für die eigene Ignoranz und Fehlbarkeit und das Zugeben davon, dass das so ist: „Ich akzeptiere, dass meine Überzeugungen und Einstellungen falsch sein könnten, und ich gebe es zu, wenn ich etwas nicht weiß.“)
  • Ein Bewusstsein dafür, dass die Sichtweisen anderer Menschen wertvoll sind, diese anzuhören und auch korrigierendes Feedback anzunehmen: „Ich höre anderen zu und erkenne einen Wert in ihren Meinungen, auch wenn sie anders sind als meine eigene.“)

Demut macht also nicht nur nachweislich glücklicher, wie in unserem Blog-Artikel vom letzten Jahr beschrieben.

Sie hilft uns auch dabei, Nachrichten zu sortieren und einzuordnen, und somit auch beim Entscheidungentreffen – insbesondere wenn diese nicht nur uns selbst, sondern die gesamte Gesellschaft betreffen, wie eben beim Impfen.

Angesichts der vielen hörbaren Stimmen in unserer Gesellschaft kann das anstrengend und nervenaufreibend sein. Vor allem wenn es um ein Thema geht, bei dem sich dann auch ganz schnell und dauernd wieder irgendwas verändert – wie das rund um das Impfen und Corona im Allgemeinen der Fall ist und sicherlich noch eine ganze Weile sein wird.

Aber gerade wenn sich Müdigkeit zeigt, sich mit einem umstrittenen Thema weiter zu befassen, kann es umso sinnvoller und wichtig sein, zwar Pausen einzubauen, aber insgesamt doch dranzubleiben.

Denn wie es in einem bekannten Spruch so gruselig heißt: „Mit der Politik ist es wie mit der Zahnpflege: Wenn man sich länger nicht wirklich drum kümmert, wird am Ende alles braun.“

Was können wir also tun?

Es ist extrem wichtig, angesichts von falschen Fakten und Verschwörungserzählungen nicht stillzubleiben. Denn diese sind nicht und werden auch nicht dargestellt als persönliche Meinungen.

Vielmehr gehen sie mit einem Wahrheitsanspruch einher, der sie wirklich zerstörerisch macht.

Deshalb raten Pia Lamberty und Katharina Nocun dazu, sie nicht einfach stehenzulassen, sondern direkt anzusprechen (wenn auch vielleicht erstmal zu zweit statt vor versammelter Familie).

Denn viele Menschen sind sich überhaupt nicht bewusst, dass dieser Video-Clip, dieses Interview, dieser Artikel, der sie gerade so inspiriert hat, tatsächlich nur die Spitze von einem gewaltigen Verschwörungsideologie-Eisberg ist.

Dieser Rat hat uns an die Lehre von Karl Popper erinnert, einem Philosophen, der in Wien geboren wurde, in der NS-Zeit floh, aber sechzehn Familienmitglieder durch Mord durch die Nazis verlor. Später wurde er in England für sein Werk über Totalitarismus und andere Themen zum Ritter geschlagen.

Das Toleranz-Paradoxon

Popper beschrieb mit klaren Worten sein sogenanntes Toleranz-Paradoxon:

Ein Toleranz ermöglichender Raum könne nur dauerhaft tolerant erhalten werden, wenn dieser (auf intolerante, also nicht duldende Weise) geschützt bliebe vor Intolerantem. Als intolerant definierte Popper dabei Menschen oder Gruppen mit folgenden Eigenschaften:

  1. Verweigerung eines rationalen Diskurses
  2. Aufruf zur und Anwendung von Gewalt gegen Andersdenkende und Anhänger anderer Ideologien

Beides sind ganz klar Aspekte von Verschwörungserzählungen bzw. Mythen. Deshalb geschehen immer wieder Gewaltverbrechen, die motiviert sind von Verschwörungstheorien und terroristische Vereinigungen (wie damals eben die NSDAP) beziehen in der Regel Verschwörungsgeschichten in ihr Training mit ein.

Zusammengefasst

  • Die Nazis in Deutschland kamen historisch nicht an die Macht, weil von Anfang an eine Mehrheit der Bevölkerung hinter ihnen stand.
  • Sie schaffen es zunächst, einzelne Bevölkerungsgruppen zu überzeugen.
  • Menschen der naturverbundenen, spirituellen, esoterischen Lebensreform-Bewegung waren hierbei eine (von mehreren) Zielgruppen, von denen viele sich frühzeitig hinter die nationalsozialistische Agenda stellten.
  • Erst im Verlauf konnten die Nazis immer mehr Menschen überzeugen, vor allem indem sie in der krisengebeutelten Zeit nach der Spanischen Grippe und der Weltwirtschaftskrise heftige Kritik an der Regierung übten.
  • Dabei nutzten sie Populismus – sie griffen die in der Bevölkerung vorhandenen Reizthemen und Verschwörungsmythen auf, übertrieben, polarisierten, demonstrierten ihre Gewaltbereitschaft in den Straßen, und stellten sich als einzige Retter*innen dar.
  • Erst als die Nazis 1933 an der Macht waren, schafften sie es, durch fortlaufende Propaganda, Gewalt, Unterdrückung und Auslöschung ihrer Gegner*innen, die politische Macht voll und ganz an sich zu reißen.
  • Rechtsextreme befeuern auch heute Verschwörungsmythen und Erzählungen, welche Menschen in kürzester Zeit enorm radikalisieren können.
  • Damit sorgen sie auch insbesondere in den letzten zwei Jahren dafür, dass immer mehr Menschen Gewalt nicht nur dulden, sondern sogar als richtig ansehen, als den einzig möglichen Weg, und schließlich sogar bereit sind, selbst Gewalt anzuwenden. Sie normalisieren Gewalt.

Die Corona-Pandemie und Impfen ist seit zwei Jahren das zentrale Thema, das die rechtsgerichteten Parteien und Gruppierungen dafür missbrauchen, Menschen gezielt zu radikalisieren, Gewalt zu normalisieren und sogar ursprünglich links-orientierte Menschen auf ihre Seite zu ziehen.

Das bedeutet für uns: Nicht jede*r Mensch, der Impfen und insbesondere die Corona-Impfungen kritisch sieht, ist ein Nazi.

Aber jede Art von Falschinformation und Verschwörungs-Erzählung (zum Thema Corona oder Impfen, aber auch zu anderen Themen, wie Klimakatastrophe, Migration, Terrorismus uvm.) spielt gerade heute unweigerlich rechtsextremen Kräften in die Hände.

Als Menschen sind wir alle (mehr oder weniger) anfällig für Verschwörungsdenken.

Heute werden wir über soziale Medien regelrecht in Falschmeldungen gebadet. Während diese wie von allein auf uns einprasseln ist es ist zeitaufwendig und nervenaufreibend, diese immer wieder zu relativieren und zu entkräften.

Deshalb brauchen wir einander umso mehr dafür, Geschichten und Meldungen gemeinsam und füreinander sorgfältig zu hinterfragen, immer wieder den eigentlichen Fakten auf den Grund zu gehen.

Es ist wichtig, dabei uns selbst und andere nicht für unsere „Leichtgläubigkeit“ zu verurteilen. Denn die falschen Fährten, denen wir gefolgt sind, wurden ja eigens dafür entwickelt, zu täuschen.

Gemeinsam können wir es schaffen

Die Verschwörungs-Expert*innen Pia Lamberty und Katharina Nocun beschreiben in ihren Büchern („Fake Facts“ und „True Facts„), dass ein sich Abnabeln von Verschwörungs-Erzählungen und den darauf aufbauenden Bewegungen für Menschen oft ähnlich schwer erlebt würde, wie der Ausstieg aus Sekten.

Das was vielen ermögliche, den großen schweren Schritt zu wagen, sich einzugestehen, dass sie inmitten ihrer radikalen Überzeugungen schlichtweg falsch gelegen haben könnten, seien laut der Forscher*innen – du wirst es raten – persönliche Beziehungen.

Am meisten können wir also bewirken, wenn wir uns klar und deutlich von Verschwörungsgeschichten und Hetz-Kampagnen abgrenzen – und gleichzeitig den Menschen selbst weiter liebevoll, mitfühlend und willkommen heißend begegnen.

Dabei gelte laut Lamberty und Nocun: Steter Tropfen höhlt den Stein. Oft ließen sich Personen nicht innerhalb eines oder sogar mehrerer Gespräche direkt überzeugen.

Was solche Gespräche aber leisten könnten: Zweifel säen, die mit der Zeit einen neuen, kritischeren Blick auf die Verschwörungs-Narrative ermöglichen können und damit auch andere Einsichten und Standpunkte.

Möglichst solche, die unsere (ganz sicher mehr als ausbaufähige!) Demokratie erhalten und auf eine lebensfreundliche Weise weiterentwickeln helfen.

 

Ein wichtiger Teil von Verbindungskultur ist das, was wir oft Willkommens-Kultur nennen. Diese ist aber nur möglich, langfristig zu erhalten, wenn Räume geschützt werden gegen Stimmen und Kräfte, die eben dieses Willkommen als eine Basis für Verbindung beschädigen.

Wie wir Räume gestalten kannst du hier in unserem Circlewise Leadership Training lernen.

Möchtest du mehr darüber lernen, wie wir Menschen auf ihrem Lern- und Lebensweg unterstützen
und begleiten? Dann könnte dir unser Online-Paket zum Thema Mentoring gefallen.

naturverbindung für zuhause

…eine laaaaaange(!) Sammlung über mögliche wohltuende Auswirkungen unserer Verbindung zur Natur, aufgeschrieben von Elke Loepthien-Gerwert.

Leben im Ausnahmezustand ist anstrengend und ernstlich zehrend – unglaublich viele Menschen litten in den letzten 1,5 Jahren unter seelischem Dauerstress und der damit verbundenen zunehmenden emotionalen und körperlichen Erschöpfung.

Die Natur, die uns umgibt kann uns ein ganzes Stück weit auffangen, wie Forschende seit Jahren dokumentieren. Vieles kann sogar mitten in der Stadt funktionieren!

Hier unsere 31 wichtigsten Aspekte & Zutaten dazu:

1. Natur macht streifenfrei entspannt

Allein der Ausblick aus dem Fenster in eine natürliche Landschaft oder der Anblick von Naturfotos lassen uns schon wohler fühlen und beispielsweise nach Operationen schneller wieder gesund werden. Dies könnte unter anderem daran liegen, dass unsere lebendige Mit-Welt hat eine bestimmte räumliche Struktur aufweist, die wie Forschende es nennen „beliebig skalierbar“ ist. Das bedeutet: Egal wie weit wir herauszoomen oder hineinzoomen: Immer erkennen wir dieselbe Anzahl von Details – das können Blätter an einem Baum sein oder wenn wir ganz nah herangehen die feinen Linien, Poren und Unebenheiten auf einem einzelnen Blatt oder die winzigen Gliedmaßen einer Blattlaus.

Um diese zu verarbeiten würde unser Gehirn nur wenig Neuronentätigkeit brauchen, es gehe also leicht, schreibt der Neurologe Richard E. Cytowic. Im Gegensatz dazu zeigten unnatürliche Bilder in großer Vergrößerung kaum noch Details. Je weniger skalierbar ein Bild ist, desto unangenehmer ist es zu betrachten – sogar messbar! Auch starke Farb-Kontraste sind anstrengend zu verarbeiten.

Dabei scheinen Streifenmuster besonders unerträglich. Und wo finden die sich? Überall um uns herum: Gebäude, Straßen, Treppenstufen, Gänge, Türen, Fenster und nicht zu vergessen: Text, der fast immer in Zeilen geschrieben ist und dessen Wahrnehmung besonders erschöpfend sein kann.

2. Natur spielt die Lieder des Lebens

Auch die Geräusche der Natur können Stress reduzieren, beispielsweise weist eine Studie darauf hin, dass wir uns bei natürlichen Geräuschen, in diesem Fall dem Sprudeln einer Quelle verbunden mit Vogelgesang, nach aufregenden Aktivitäten schneller beruhigen könnten.

Eine mögliche Begründung dafür, die in einer anderen Studie beschrieben wurde, sei es, dass unsere Aufmerksamkeit ins Außen wandern würde, wenn wir Geräusche aus der Natur hörten. Dagegen würde sich die Aufmerksamkeit vorwiegend nach Innen richten, wenn wir Menschengemachtes anhören – und diese Art des nach Innen wanderns käme dem nahe, was Menschen im Zustand von Depressionen erleben.

Interessant zu bemerken war hier die ausgleichende Wirkung von Naturgeräuschen: Menschen die gestresst ins Experiment gingen, entspannten sich am stärksten. Wohingegen Menschen, die in einem sehr entspannten Grundzustand die Naturgeräusche anhörten, davon sogar angeregt wurden.

In einer Auswertung von 18 einzelnen Studien wurde festgestellt, dass Anzeiger für Stress und Genervtsein abnahmen, Schmerzen weniger wurden, der Puls sank und der Blutdruck abnahmen, außerdem die Laune und kognitive Fähigkeiten sich verbesserten.

3. Grün tut gut  

Wir nehmen Farben wahr, wenn Licht unterschiedlicher Wellenlängen in unser Auge eindringt. Rot hat die längste Wellenlänge, und sei deshalb aufwendiger anzuschauen – Grün dagegen könnten wir vollkommen mühelos wahrnehmen, weshalb es sich entspannend auf uns auswirke, schreiben Wissenschaftler in einer Studie über die Auswirkungen von Farben auf Studierende. Neben der individuell ganz verschiedenen Bedeutung, die Menschen bestimmten Farben geben, gäbe es bestimmte physiologische Auswirkungen, die sich verallgemeinern lassen: Grün wird zu den emotional beruhigenden Farben gezählt und würde insbesondere dabei helfen, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen, weswegen in öffentlichen Gebäuden wie Restaurants oder Hotels häufig Grün verwendet würde.

In anderen Studien wurde festgestellt, dass Grün die Angst vor Versagen mindern konnte, sich ausgleichend auf die Stimmung beim Sport auswirkte und vor allem, dass ein kurzer Blick auf etwas Grünes vor einer Aufgabenstellung die Kreativität beim Lösen derselben erhöhte.

   

4. Die Aussicht darauf, versorgt zu sein  

Eine Vermutung für die Ursache dieser Effekte ist, dass das Vorhandensein von viel Grün in der Umgebung für uns als ursprünglich nomadisch herumziehende Menschen schon immer ein klares Signal dafür war, dass ein Ort grundsätzlich ausreichend Wasser und Nahrung bieten könne – er sich also zum Verweilen eignen würde.

Vielleicht könnte dies auch der Grund dafür sein, warum wir uns in artenreicher Natur wohler fühlen – faszinierender Weise aber nur dann, wenn wir diese Artenvielfalt auch selbst wahrnehmen und erkennen können!

Eine wertvolle Fertigkeit ist es also, feine Unterschiede wahrnehmen zu lernen – wofür der nächste Punkt hilfreich sein kann:

5. In der Natur unterwegs sein weckt die Katze in uns  

Aufgrund der menschlichen Ausstattung mit Betonung des Sehsinns ist unsere natürliche Art der Fortbewegung kein einförmiges Trotten mit gesenktem Kopf, wie wir es von Hundeartigen kennen, oder von unserem eigenen eiligen, unaufmerksamem Laufen entlang alltäglicher Wege.

Eher laufen wir wie eine Katze von A nach B, die sich unterwegs Zeit lässt, viel umherschaut, oft stehen bleibt, sich umdreht oder sogar hinsetzt und ihre Umgebung sorgfältig betrachtet.

Durch die Natur laufend, besonders wenn wir länger draußen sind oder an einem neuen Ort (oder eben mit Neugier-Blick an einem bekannten Ort), ergibt es sich leichter, in Ruhe und genüsslich in alle Richtungen zu schauen, stehen zu bleiben, uns umzudrehen, den Boden unter uns und den Himmel über uns zu betrachten und dabei wahr zu nehmen, was wir sehen: Formen, Farben, Bewegung, Licht und Schatten und Details, die wir identifizieren können (Bäume, Blüten, Blätter, Wege oder was auch immer wir entdecken können).

Bei dieser Art des Umherschauens, die beispielsweise in manchen Formen der Trauma-Therapie genutzt wird, beruhigt sich unser Nervensystem, denn die Handlung des sich ganz in Ruhe Orientierens an sich signalisiert schon, dass alles in Ordnung ist, ebenso versichern wir uns, dass reale Gefahren gerade nicht zu entdecken sind, und wir betrachten  lauter Sachen, deren Anblick uns zusätzlich gut tut, vor allem wenn wir dabei etwas „Besonderes“ entdecken, das unser natürliches Belohnungssystem aktiviert…

6. Genau die richtige Menge Dopamin  

Wann immer uns etwas gelingt, das unser Überleben fördert, belohnt uns unser Körper dafür: Beim Jagen oder Sammeln, wenn wir neue Erkenntnisse haben, oder uns frisch verlieben, schütten wir Dopamin als Botenstoff aus und spüren dabei freudige Erregung, Motivation und Glücksgefühle.

Was in unserem natürlichen Lebensraum ein ausgefuchstes System zur Förderung eines selbstbestimmten, erfüllten Lebens voller Lernen und Wachstum ist, macht uns in unserem technisierten Alltag eher zu Sklaven der Konsumgesellschaft:

Werbespots und Billboards, Computerspiele und schnell zugängliche Informationen, lockende Schaufenster mit buntem Spielzeug oder den allerneusten Handys, erotische Fotos von heißen Models – tagein tagaus werden wir bombardiert mit Zeugs, das unsere Dopaminausschüttung stimuliert, wodurch der auslösende Reiz abgenutzt wird und wir in ein suchtartiges Mehr-und-Mehr-davon-Wollen hineinverlockt werden.

In der Natur warten auch Dopamin-Momente:

Wenn wir eine sich gerade öffnende Blüte im Park entdecken, Himbeeren am Waldrand sammeln, endlich den Vogel erspähen, dessen Gesang wir schon länger neugierig gelauscht hatten, wenn sich ein Großstadt-Fuchs im Vorbeigehen zu uns umdreht, wir es schaffen, ein Feuer zu entzünden oder wir am Rande der Pfütze eine winzig kleine Tierspur entdecken.

Dabei bringen diese Erlebnisse ganz andere Qualitäten mit sich, als die menschengemachten Dopamin-Kicks:

  • das auslösende Erlebnis passiert viel seltener – oftmals ist es einzigartig

  • Wiederholungen sind nicht oder nicht lange kontrollierbar

  • für viele davon braucht es energieintensive Vorbereitung und ein geduldiges daraufhin Arbeiten

  • wenn wir uns überreizt fühlen, können wir selbst leicht dosieren, wie viel wir wahrnehmen wollen, entsprechend unseres Neugier-Levels in dem Moment (während wir in der U-Bahn, beim Einkaufen und vor dem TV meistens keine Wahl haben)

Mit Natur interagieren macht es also leicht, die für uns gerade richtige Menge Dopamin auszuschütten, in einem Takt, der unserer körperlichen und seelischen Verfassung entspricht und den wir selbst regulieren können.

7. Fokus-Kraft (wieder) finden  

Technologie macht unser Leben vor allem eines: Schneller!

Vieles wird dank ihr wesentlich leichter und einfacher – doch die frei gewordene Zeit scheint sich oft direkt neu zu füllen mit einfach mehr, so viel mehr.

Indem wir wissen, was überall auf der Welt los ist und dank unserer Gadgets beständig nebenbei Informationen aufnehmen und kommunizieren können, läuft unser Gehirn auf Hochtouren – bis an die Belastungsgrenze.

Wir überfordern uns selbst und das was wir gleichzeitig mit noch irgendetwas anderem tun, machen wir nicht mehr ganz so gut – wie beispielsweise Autofahren während wir jemand anderem zuhören, was in einer Studie die Hirnaktivität im Areal zum Verarbeiten des Streckenverlaufs um ganze 37 % verminderte.

Tatsächlich waren in Multitasking geübte Personen in einer anderen Studie sogar weniger gut darin, das zu tun, was sie eigentlich am besten können sollten: Von einer Aufgabe zur nächsten zu wechseln. Vermutet wurde dabei, dass ihr überlasteter Denkapparat einfach nicht so gut herausfiltern konnte, welche Aspekte eigentlich relevant waren und welche nicht.

Dauerndes mediales Multitasking (also das Konsumieren von mehreren Medien gleichzeitig) scheint außerdem eine sichere Zutat für Depressionen und soziale Ängste zu sein, und in einer besonders alarmierenden Studie wurde aufgezeigt, dass Menschen, die besonders viel medial multitasken tatsächlich eine verminderte Dichte in einem Bereich des Gehirns aufweisen, der wesentlich zur Verarbeitung gedanklicher und emotionaler Prozesse und zum sich innerlich motiviert fühlen beiträgt.

Multitasking kann im Grunde also einen regelrechten Teufelskreis erzeugen, indem es uns noch leichter ablenkbar machen kann – so dass wir weniger in der Lage sind, angesichts einer herausfordernden Situation überhaupt zu bemerken, was wichtig und was unwichtig ist.

Deshalb brauchen wir umso dringlicher Zeiten, wo unser Gehirn und unser Nervensystem sich von den vielen gleichzeitigen, oder sich sehr schnell abwechselnden Inputs und Aufgaben erholen können.

Genau das passiert, wenn wir uns mit der Natur verbinden!

„Attention Restoration Theory“ ist ein wissenschaftliches Konzept, das die positiven Auswirkungen von Zeit in der Natur auf unser Denkvermögen beschreibt, insbesondere auf unser Kurzzeitgedächtnis, auf die Beweglichkeit gedanklicher Prozesse und auf unser Vermögen, unsere Aufmerksamkeit willentlich zu fokussieren.

Indem sich unser System in der Natur entspannt, können wir uns mental und emotional erholen, unser Stress-Pegel sinkt, wir können wieder klar denken und leichter bessere Entscheidungen treffen und uns kreativer verhalten.

In einer Studie der Universität Michigan konnte schon ein kurzer Spaziergang in der Natur oder selbst das Betrachten eines Natur-Fotos die Leistung des Kurzzeit-Gedächtnisses um etwa 20% verbessern .

Die Wirkung der „Attention Restoration“ merken wir vor allem, wenn wir länger draußen sind: Nach mehreren Tagen draußen in der Natur konnten Menschen verstandesmäßig lösbare Probleme um fast 50% besser bewältigen.

In einer anderen Studie wurde gezeigt, dass sich der Zugang zu Naturräumen auf die Fähigkeit von Großstadt-Kindern auswirken kann, verschiedene Aspekte von Selbst-Disziplin zu erleben, beispielsweise ihre Aufmerksamkeit auch angesichts von Ablenkungen oder Frustration willentlich fokussieren zu können.

Überhaupt haben sich Aktivitäten draußen als wirkungsvolle „Medizin“ gegen Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen erwiesen – und das völlig unabhängig von Alter, Geschlecht, Einkommen, Lebensort und anderen Faktoren.

Aber warum ist das so?

Ist die Welt unserer Mit-Wesen nicht voll mit unzähligen ebenfalls gleichzeitig laufenden Ereignissen, die wir über Geräusche und visuellen Eindrücke in uns aufnehmen, und die unsere Aufmerksamkeit mindestens genauso herausfordern und regelrecht stressen müssten?

Ich glaube, dass die Komplexität des vollen Lebens im Ökosystem für uns entspannend sein kann, weil es sich dabei nicht um lauter voneinander losgelöste einzelne Teile handelt, jedes mit einer eigenen „Agenda“, sondern alle Vorgänge in ein sinnvolles Ganzes eingebunden sind – und wir selbst, indem wir da draußen sitzen oder herumlaufen, ganz genauso.

Demnach wären wir in der Natur vielleicht nicht mit vielen Gegenübern und Aufgaben gleichzeitig konfrontiert, sondern nur mit einer einzigen Sache: Einfach mit unserem Da-Sein inmitten der Erdengemeinschaft hier an diesem Ort.

8. Bedingungsloses Willkommen – fernab von Karrieredruck & Konventionen  

Im Erleben oder auch nur Betrachten von Natur erlischt der Stress in unserem Körper, schon innerhalb von wenigen Minuten.

Ich glaube ein wesentlicher Grund dafür könnte die Abwesenheit der unglaublich vielen, komplexen und teilweise einander sogar widersprechenden sozialen und gesellschaftlichen Anforderungen sein, die sich insgesamt kaum jemals erfüllen lassen.

In der Natur können wir all das vielleicht ein Stück weit hinter uns lassen und wieder in Verbindung mit uns selbst kommen, mit dem was uns persönlich wirklich wichtig ist.

Begegnen wir unseren natürlichen Mit-Wesen, kann etwas von dem destruktiven und oft völlig sinnlosen Druck von uns abfallen, der uns im Alltag so stark belastet: Um mit Bäumen, Wiesenblumen oder Schnecken zusammenzusein, brauchen wir keine guten Noten, keine erfolgreichen Projekte, keine den Idealen der Zeit entsprechenden Körperformen, keine besonders witzigen oder geistreichen Gedanken, nicht mehr Geld auf dem Konto oder noch mehr Likes in den sozialen Medien… wie und wer auch immer wir gerade sind, ist es genug.

Vielleicht fällt es uns leichter, das anzunehmen, wann immer wir in Kontakt sind mit anderen Lebewesen, die sich nicht um gesellschaftliche Konventionen und Leistungsdruck scheren, sondern einfach ihr Leben leben.

Eine wichtige Grunderfahrung

So helfen sie uns dabei, eine wichtige Grunderfahrung nachzuholen und weiter zu stärken, die vor allem in den allerersten Lebensjahren essentiell für eine gesunde seelische Entwicklung ist: Dass wir willkommen sind, wie auch immer wir (gerade) sind oder nicht sind, unabhängig von unserem Aussehen, unserer Leistungsfähigkeit, unserer Bereitschaft uns anzupassen und vielem anderen mehr (etwas das selbst die liebevollsten Eltern nicht immer für ihre Kinder schaffen können).

Wenn wir uns draußen außerdem gewahr werden, dass unsere gesamte Nahrung, alle unsere Kleidung, unser Wasser, unsere Behausungen, unser gesamter Körper und alles was wir besitzen von der Erde stammt, docken wir an das in Europa mindestens 200.000 Jahre alte Verständnis von der Erde als unserer „Mutter“ an – aus der beständig alles Leben geboren wird und die auch uns als Menschen immerfort nährt.

Egal wie erwachsen wir schon sind oder gern sein wollen, ob unsere leibliche Mutter noch lebt oder nicht – die Möglichkeit mit einer immer präsenten „Mutter Natur“ in Kontakt treten zu können, die überhaupt gar nichts von uns einfordert, kann (in Psychotherapie-Sprache) eine enorme Ressoure für unsere seelische Gesundheit sein.

Wenn wir uns mit der „großen Mutter“ verbinden, bekommen wir Rückenstärkung um unsere inneren kindlichen Anteile zu nähren und liebevoll zu halten – und uns dadurch insgesamt geborgener in der Welt zu fühlen, ohne dass wir beständig etwas für unsere Sicherheit tun oder leisten müssten.

Mit dieser „Grundversorgung“ fällt es auch leichter, ganz wie von selbst auf eine der destruktiveren menschlichen Angewohnheiten zu verzichten:

https://www.ml-monalisa.com

9. In der Natur kann Grübeln verblassen

Grübelei („rumination“) wird als über lange Zeiträume fehlgeleitete Konzentration auf mögliche Ursachen und Konsequenzen von Emotionen beschrieben, wobei es sich meist um als negativ erlebte Emotionen in Beziehung zu sich selbst handelt. Tritt Grübelei auf, kann sie ein Frühanzeichen für depressive Episoden und andere seelische Störungen sein.

In einer Studie in der Umgebung der Stanford University wurde festgestellt, dass ein 90minütiger Spaziergang in der Natur bei den Teilnehmenden Personen Grübeleien deutlich reduzierte.

Was kann der Grund dafür sein?

Beim Grübeln reisen wir mental dauerhaft oder wechselnd in die Vergangenheit oder Zukunft – während der Aufenthalt in der Natur uns scheinbar immer wieder in den Moment zurückholen kann.

Wie weiter oben schon besprochen kann sich so ein Moment in der Natur subjektiv viel sicherer und geborgener anfühlen als beispielsweise bei einem Spaziergang durch die Stadt möglich wäre, so dass es leichter möglich sein könnte, in diesem viel tröstlicheren Hier und Jetzt zu bleiben.

Zusätzlich könnten auch die intensiven physischen Empfindungen, die in der Natur oft leichter möglich sind, uns helfen ganz im Moment zu bleiben,

10. Den Körper spüren – aufmerksam

Die Sinneseindrücke, die unser Körper draußen geschenkt bekommt, können uns dabei helfen, uns selbst bewusster zu spüren, v.a. wenn wir unsere Aufmerksamkeit beständig darauf ausrichten, mehr und intensiver wahrzunehmen – eine wichtige Praxis für Naturverbindung.

Den Wind zart unser Gesicht streicheln zu fühlen, die Textur des Bodens unter uns, wenn wir barfuß oder mit dünnen Sohlen über Wiesen, feuchte Stellen, Waldboden laufen, Moose, Kräuter, Baumrinden und vieles mehr mit unseren Händen bewusst zu berühren, in kaltes Wasser einzutauchen und dabei den feuchten Sand des Bachbetts zwischen unseren Zehen zu spüren – all das und noch viel mehr kann es so viel leichter machen, nicht nur unsere Umgebung sondern automatisch auch unseren eigenen Körper viel stärker und aufmerksamer wahrzunehmen – ein Grundelement vieler Meditationspraxen.

Meditation allgemein hat zahlreiche bereits wissenschaftlich nachgewiesene Auswirkungen auf unsere seelische (und körperliche) Gesundheit: Höhere Resilienz gegen Stress, verbesserte Impuls- und Selbstkontrolle, verringerte Anfälligkeit für Süchte, ein insgesamt „beweglicheres“ Gehirn das in der Lage ist, besser auch im Alter neue Neuronen-Verbindungen aufzubauen und Linderung von belastenden körperlichen Schmerz-Zuständen. (Im Artikel wird auch auf mögliche negative Effekte eingegangen, und Empfehlungen gegen wie diese verhindert werden könnten.)

Vereinfacht könnten wir sagen, dass Meditation unserem Gehirn dabei hilft, zu reifen. In Studien über die Effekte eines achtwöchigen Meditations-Kurses war dies sogar physisch messbar, als zunehmende Dichte in der „grauen Masse“, vor allem in Bereichen die für Lernen, Gedächtnis, Selbst-Wahrnehmung, Mitgefühl und Innenschau und weniger Dichte im Bereich der Amygdala – die beim Auslösen von Überlebensreaktionen aktiv wird.

Verbinden wir uns mit anderen natürlichen Wesen um uns herum, kann hier ein weiterer Aspekt noch zusätzlich unterstützen:

11. Resonanz hilft regulieren

Unser Nervensystem ist bei Dauerstress beständig in einem leichten (oder manchmal auch sehr ausgeprägtem!) Kampf-oder-Flucht-Modus gefangen, so dass es manchmal schwer erscheint, überhaupt wieder „runterzukommen“. In der Natur zu sein hilft uns, wieder in die Entspannung zu finden.

Ein Grund dafür könnte die Fähigkeit unseres Körpers sein, in Stress-Situationen an einem anwesenden entspannteren Nervensystem „anzudocken“, indem wir in Resonanz mit diesem Gegenüber gehen. Dieses Phänomen ist bisher vor allem für das Verhältnis zwischen Eltern und kleinen Kindern oder auch Klienten und Therapeut*innen beschrieben worden, aber auch in der tiergestützten Therapie mit Hunden, Pferden, Delphinen usw. beobachtbar.

Meiner Erfahrung nach ist dieses Andocken mit fast allem möglich, was uns draußen begegnet: Mit Bäumen, Kräutlein, Insekten, Vögeln, sogar mit Gewässern oder Steinen. Wir können uns dafür bewusst in jemand anderen hineinversetzen, beispielsweise indem wir die Frage stellen: „Wie ist es, du zu sein?“ (die ich so erstmalig von Charles Eisenstein gehört habe), und dann einfach wahrnehmen, was wir in uns selbst fühlen, hören, sehen, spüren können.

Unser Nervensystem überprüft möglicherweise unbewusst beständig unsere Umgebung darauf, ob sie „sicher“ genug ist – denn es ist darauf ausgerichtet, unser Überleben zu sichern. Bei kleinen Kindern entsteht das Gefühl von Sicherheit unter anderem durch die Nähe zu sich selbst sicher fühlenden, entspannten und aufmerksam auf das Kind eingestimmten Eltern.

So lernen wir vielleicht von Anfang an, Zustände von Stress oder Entspannung in anderen wahrzunehmen und uns daran zu orientieren, wenn es darum geht, wie sicher wir uns selbst fühlen.

In der Natur findet unser Nervensystem (zumindest meistens) eine Menge entspannter und jedenfalls gut regulierter, aufmerksamer Wesen.

Besonders leicht für uns wahrzunehmen ist die Entspannung bei den Singvögeln: Während sie in ihrer „Baseline“ sind, also singen, sich putzen, nach Nahrung suchen oder ihr Nest bauen, spürt auch unser Nervensystem instinktiv, dass gerade keine Gefahr herrscht. Auch zirpende Grillen zeigen ein Entspanntsein an. Hören wir dagegen die atemlose Stille oder fiependen Alarmrufe wenn ein Sperber oder Habicht in der Nähe ist, lässt sich die Anspannung auch in unserem Körper spüren.

Insofern könnte es noch entspannender sein, unsere Aufmerksamkeit auf diejenigen Wesen in unserer Mit-Welt zu richten, die vielleicht das ruhigste oder zumindest langsamste Leben draußen führen: die Bäume.

12. Bäume als Buddies?

Tatsächlich scheint das Wahrnehmen von Bäumen unser parasympathisches Nervensystem zu stärken, welches Entspannung in den Körper bringt. In einer Studie in Chicago wurde sogar festgestellt, dass pro 10% mehr an Baumwipfel-Bedeckung in Gebieten der Stadt die jeweilige Rate gewalttätiger Übergriffe im selben Gebiet um mehr als 10% sank.

In einer anderen Studie mit Erwachsenen hier in Deutschland in Berlin, wurde festgestellt, dass Menschen insbesondere in der Nähe von Waldgebieten eine gesündere, entspanntere Aktivität der Amygdala aufwiesen, eines recht kleinen Teils unseres Gehirns, welcher maßgeblich am Auslösen von Überlebensreaktionen mitwirkt.

Warum aber hat gerade der Wald so starke positive Effekte auf uns?

Vermutlich hat es damit zu tun, dass im Wald so viele Bäume wachsen.

In den letzten Jahren erforscht wurden im Erforschen der gesundheitlichen Effekte der ursprünglich japanischen Praxis des Waldbadens die sogenannten Phytoncide, beschrieben, abwehrstärkende Duftstoffe, die von Bäumen verströmt werden und sich nicht nur auf das Immunsystem auswirken, sondern u.a. die Ausschüttung des Stresshormons Adrenalin vermindern und antidepressiv wirken.

Bäume sind wirklich erstaunliche Wesen, die oftmals viel viel älter als wir selbst sind. Ich glaube, dass ein Teil in uns instinktiv weiß, dass wir es hier im wahrsten Sinne des Wortes mit „Ältesten“ zu tun haben, deren Lebenserfahrung auf eine Weise die unsere weit übersteigt.

Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass Bäume intensive Gefühle von Ehrfurcht in uns auslösen können.

13. In der Natur Ehrfurcht erleben

Ehrfurcht ist das Erleben von etwas Großartigem, das unser rationales Vermögen, die Welt zu verstehen übersteigt oder an seine Grenzen bringt. Es ist eine enorm wirkungsvolle Emotion, die wir unter anderem im Angesicht von Bäumen und beim aufmerksamen Erblicken anderen „Wunder“ der Natur erleben können, und die uns dazu führt, hilfsbereiter, kooperativer und großzügiger zu handeln. „Uns etwas Großartigem gewahr zu werden fördert ein bescheideneres, weniger narzistisches Selbst, dem mehr Nächstenliebe anderen gegenüber möglich ist.“ schreibt Dacher Keltner vom Greater Good Science Center der Universität in Berkeley.

Er erklärt weiter: „Kurze Erlebnisse von Ehrfurcht ermöglichen es uns, unser eigenes Selbstverständnis als Teil eines kollektiven Ganzen zu sehen, und sie richten unsere Handlungen auf das Wohl der anderen aus.“ Im Erleben von Ehrfurcht nehmen wir also unser Selbst als kleinen, jedoch fest verbundenen Teil von etwas Großem war, was sich deutlich auf unser Verhalten auswirkt.

Wenn das Wasser lebt

Wenn wir nun aber Personen aus indigenen Völkern zuhören, zeigt sich in den Worten die sie wählen, oft eine Ehrfurcht vor dem Leben, die nicht dem individuellen Erleben überlassen, sondern ein zentraler Bestandteil und Schwerpunkt von gemeinschaftlicher Kultur und Traditionen ist – wo die Erde und unsere Mit-Wesen als „heilig“ angesehen werden, voller „Geist“ und beseelt sind, und ebendiese ehrfurchtsvolle Auffassung über Generationen weiter genährt wurde und wird:

Mir wurde beigebracht, dass das Wasser lebt. Es kann hören und Erinnerungen in sich halten. Deshalb habe ich heute ein Gefäß mit Wasser dabei, damit es die Erinnerungen an unser Gespräch heute in sich bewahren kann,“ (so eröffnete Kelsey Leonard, Wissenschaftlerin und Angehörige der Shinnecock Nation 2019 ihren TED-talk darüber, dass Gewässer dieselben Rechte haben sollten wie Menschen).

Ehrfurcht zu erleben hat gravierende Auswirkungen auf die seelische (und körperliche) Gesundheit. Cytokin ist ein Botenstoff unseres Körpers, der stressbedingten Entzündungen entgegenwirken soll, aber bei chronischem Stress in viel zu hoher Menge vorhanden sein kann, was chronische Schwäche und in Folge eine geringere Lebenserwartung zur Folge haben kann. Ein überfordertes Cytokin-System könnte eine Erklärung dafür bieten, warum Menschen, die unter materieller Armut leiden, oft besonders gravierende gesundheitliche Probleme haben.

In Versuchen ist Ehrfurcht bislang die einzige Emotion, die nachgewiesenermaßen einen regulierenden Effekt auf den Cytokin-Spiegel ausübt.

Gerade manche Bäume können jenseits der Ehrfurcht, die wir dank ihnen erleben können, auch noch auf andere Weise unser Seelenwohl fördern….

14. Zugehörigkeit durch Bindungs-Hormone  

Viele Bäume, gerade solche in Städten und Parks können wir eindeutig als Individuen erkennen und leicht wieder erkennen. Sie können dadurch zu einzigartigen, echten Persönlichkeiten in unserem Leben werden, selbst wenn wir ihnen nur ein einziges Mal begegnen.

Schon lange beschäftigt mich und andere die Frage, ob man die für menschliche Beziehungen so essentielle Bindung („attachment“) nicht auch auf unsere Beziehung zur Natur übertragen kann? Sie scheint sich immer deutlicher mit Ja beantworten zu lassen: Wenn wir Tiere streicheln, schüttet unser Körper (und oft auch ihrer) Oxytocin aus, das sogenannte „Bindungs-Hormon“, das auch freigesetzt wird, wenn Mütter ihre Babies stillen oder wir mit geliebten, vertrauten Menschen kuscheln.

Meine Vermutung ist, dass ebendieses Hormon auch in uns aktiviert wird, wenn wir uns an geliebte Bäumen anlehnen, an Felsen, auf denen wir schon seit der Kindheit geklettert sind, oder mit den Fingern zart die Blüte eines Gänseblümchens streicheln – also wann immer wir selbst liebe-voll mit einem anderen (Lebe-)Wesen umgehen.

Denn wir können uns emotional und mitfühlend mit unseren Mitwesen verbunden fühlen.

Schützen was wir lieben

Ob Oxytocin in uns zu menschenfreundlicherem Verhalten führt, scheint in Studien davon abzuhängen, ob wir den Kontext in dem Moment insgesamt als sicher und geborgen oder eher als bedrohlich einschätzen. Denn im Falle einer Gefahr für uns selbst oder die als uns zugehörig erlebten Personen (Wesen), kann Oxytocin unser Schutzverhalten verstärken.

Dies könnte vielleicht auch erklären, warum Menschen eher bereit sind, sich für den Schutz der Umwelt einzusetzen, wenn sie sich selbst mit der Natur verbunden fühlen und Natur als beseelte anerkennen.

In jedem Fall könnten Bindungshormone und auch unsere Sicht auf die Natur als eine Welt voller uns gleichwürdiger, irgendwie mit uns verbundener Lebewesen es uns erleichtern, uns selbst als zu anderen zugehörig zu erleben.

Durch ein von uns aus zärtliches und liebe-volles in Verbindung treten mit unserer Mit-Welt können wir jeden Tag erleben, was Albert Schweitzer so eindrücklich in Worte gefasst hat: „Ich bin Leben inmitten von Leben, das Leben will.“

Diese Zugehörigkeit zu erfahren scheint eines der tiefsten menschlichen Grundbedürfnisse zu sein, eine Möglichkeit auf uns selbst und die Welt zu schauen, die wir instinktiv ersehnen.

15. Angst und Stress reduzierende „Alte Freunde“  

Wenn wir draußen sind, vor allem wenn wir die Erde berühren und ihren Duft einatmen oder Pflanzen naschen, stärken wir dabei die Beziehung zu ganz besonderen „alten Freunden“ – Bakterien und andere Kleinstlebewesen, die für unsere Gesundheit von großer Bedeutung sind.

Beim engen Kontakt mit dem Erdboden können sie durch unsere Atemwege oder auch über den Mund aufgenommen werden.

Dabei geht es nicht nur um körperliches Wohlbefinden: Laut Christopher Lowry von der Universität in Colorado können beispielsweise die überall auf der Erde zu findenden „Schlammbakterien“ Mykobakterium vaccae nicht nur Entzündungen im gesamten Körper lindern oder verhindern, sondern Angst- und Stressreaktionen vermindern und dadurch sogar auch Traumata, und damit posttraumatischen Belastungsstörungen vorbeugen.

Zum einen wies Lowry nach, dass mit Mykobakterien gefütterte Mäuse eine bestimmte Aktivierung des Immunsystems, verbunden mit Abläufen im Hirnstamm aufweisen, welche sich wiederum auf die Abläufe im Stirnlappen und anderen Hirnregionen auswirken, wo unsere Stimmung und unser Verhalten reguliert werden.

Inspiriert von diesen Forschungen testete Dorothy Matthews die Wirkung von Mykobakterien auf das Lern- und Entdeckungsverhalten von Mäusen. Sie stellte fest, dass Mäuse nach der Einnahme von Mykobakterien mit deutlich weniger Angst und Stress den Weg durch ein Labyrinth finden können und sogar wesentlich schneller. In ihren Experimenten hielt die Wirkung der eingenommenen Bakterien etwa eine Woche lang messbar an.

Schutz vor Traumatisierung

In Christopher Lowry’s weiteren Versuchen befähigte die Verabreichung der Bakterien die Labor-Mäuse sogar dazu, aktiver mit schlimmen Stress-Erlebnissen umzugehen, beispielsweise wenn sie ohne Fluchtweg dem Angriff eines überlegenen Männchens ausgesetzt wurden, was meist zu Traumatisierungen führe.

Die dank Mykobakterien weniger passive, sondern aktivere Reaktion der Versuchsmäuse (sie versuchten aktiv zu kämpfen oder zu flüchten) bewirkte, dass diese später nicht unter den normalerweise auftretenden posttraumatischen Belastungsstörungen litten.

Dieser Zusammenhang ließ Lowry vermuten, dass Mykobakterien auch Menschen dabei helfen könnten, unsere Resilienz gegenüber potentiell traumatischen oder auch einfach sehr stressvollen Erlebnissen zu stärken.

Schon 2004 hatte Mary O’Brian bewiesen, dass eine Behandlung mit Mykobakterien bei Menschen mit Lungenkrebs deren emotionale Gesundheit drastisch verbesserte: Sie fühlten sich insgesamt wohler und auch ihre kognitiven Fähigkeiten wurden verbessert.

Die Mykobakterien sind nur ein kleines Beispiel dafür, wie inniglich unser Sein verbunden ist mit Wesen, die vollkommen anders sind als wir Menschen, ja sogar von uns übersehen werden – und von denen wir selbst und die Gesundheit unserer  inneren und äußeren Ökosysteme doch zutiefst abhängig sind.

16. Wert-Schätzen & Dankbarkeit für die Natur

Mich mit der Natur verbinden bedeutet, nicht nur auf der Wissens-Ebene, sondern auch durch persönliche Erfahrung immer neu und noch mehr darüber zu lernen, was zum Lebensgeflecht auf der Erde alles dazu gehört – und wie unglaublich wichtig das alles ist.

Ich lerne dabei, den Wert des Lebens zu achten, dankbar dafür zu sein, die Potentiale und Gaben auch im kleinsten Ding und Wesen zu vermuten und mit mehr Tiefenschärfe zu erkennen und anzuerkennen.

Und wie wirkt sich das auf meine seelische Gesundheit aus?

Zum einen sind da die enorm heilsamen Emotionen Dankbarkeit und Wertschätzung oder sogar Liebe, die ich fast wie von alleine immer wieder in mir erwecke wenn ich draußen bin UND sogar während ich mich irgendwo indoor aufhalte.

Wann immer ich beispielweise esse, kann ich diese Dankbarkeit leichter an mich ranlassen, weil ich mir mit der Zeit bewusster werde, wie wunderbar es ist, mich nähren zu können mit den Gaben der Natur an deren Kreation so viele Wesen und Kräfte mitgewirkt haben:

Das reine Trinkwasser, das so kostbar ist und so unendlich wichtig für alles Leben auf der Erde, die Wärme der Sonne, die Leben auf diesem Planeten überhaupt erst möglich macht und letztendlich alle Energie schenkt, die wir als Menschen zur Verfügung haben, über das Wunder der Photosynthese bereitgestellt durch die Pflanzen, gespeichert in der Süße unserer Früchte, in der Stärke des Korns, als Erdöl tief unter der Erde oder im Holz der Bäume.

Nicht selbstverständlich

Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gibt es, wofür ich so dankbar sein kann. Auch der Sauerstoff, den wir mit jedem Atemzug in uns aufnehmen und ohne den wir nicht leben könnten, wird von Pflanzenwesen beständig in die Atmosphäre geschenkt.

Jeder Atemzug bei dem ich Dankbarkeit in mir erwecken kann, wirkt sich enorm kraftvoll auf mein seelisches Wohlbefinden aus – nicht nur in dem Moment selbst, sondern auch mit langfristig potentiell lebensverändernden Effekten für meine seelische und körperliche Gesundheit:

Regelmäßig erlebte Dankbarkeit hilft uns, die uns angeborene, biologisch bedingte Fixierung auf negative Emotionen und potentielle Gefahren zu überwinden, und überhaupt mehr von dem wahrzunehmen zu können, was uns einfach gut tut .

Das bedeutet, dass wir uns langfristig glücklicher fühlen – etwas das noch nicht einmal ein 20 Millionen Lotto-Gewinn  für uns zu ermöglichen schafft!

Besser als ein Lotto-Gewinn

Dankbarkeit ist eine Art Allheilmittel: Sie lindert erwiesenermaßen Depressionen und führt dazu, dass wir großherziger werden und andere Menschen uns mehr mögen, unsere eigenen materialistischen Tendenzen schwächer werden, wir uns selbst mehr zutrauen und optimistischer werden, unsere Freundschaften, Familien- und romantischen Beziehungen sich verbessern, wir weniger ungeduldig sind und effektiver Entscheidungen treffen, sich unsere Immunabwehr, unser Schlaf und noch viele weitere, die seelische Gesundheit beeinflussende Faktoren verbessern.

Vieles davon hat damit zu tun, dass das Erleben von Dankbarkeit unser Gehirn regelrecht neuroplastisch umgestaltet, mit Veränderungen die in Studien auch nach Monaten noch im Gehirn messbar waren.

Für mich gibt es zudem noch einen ganz besonders wunderbaren Effekt beim Wertschätzen des gesamten Lebensnetzes, bis hin zu den kleinsten Wesen und Teilchen:

Indirekt finden wir als Menschen dadurch auch einen ganz leichten Zugang dazu, den Wert unserer eigenen, ganz persönlichen Existenz vollständiger wahrzunehmen und zu achten, einschließlich des Wertes all der vielen kleinen (und manchmal ungeliebten oder abgelehnten) inneren Anteile unseres Seins.

Denn in einem Ökosystem, wo alles einen Sinn und Nutzen hat, kann dieser Sinn und Nutzen folgerichtig auch für alles in uns angenommen und vielleicht sogar gefunden oder verstanden werden.

 

17. Klaren Lebenssinn spüren – ein Teil unserer inneren Natur?

Wenn wir mit der Natur um uns herum in eine tiefe Verbindung gehen, rücken wir der Natur in uns und damit den Fragen nach dem Sinn unseres Lebens sehr nahe.

Indem wir über unsere sinnliche Wahrnehmung intensiv erleben, wie alles mit allem verbunden ist, sich auswirkt, sich beeinflusst und Wandel bringt, können wir ganz deutlich, auf eine körperliche fühlbare Weise, das Prinzip der Gegenseitigkeit begreifen, das allem Leben innewohnt (ausführlich beschrieben vom Biologien und Philosoph Andreas Weber in seinem neuen Buch: Sharing Life, The Ecopolitics of Reciprocity).

Naturverbindung kann uns ermöglichen, zu erahnen oder vielleicht eher uns zu erinnern, was es eigentlich bedeutet, als Mensch auf der Erde zu sein und auf welche Weisen wir Menschen eingebunden sind in das immerwährende Geben und Nehmen dieser Natur, deren Teil wir sind.

Wir bekommen ein klareres Verständnis und Gefühl vor allem dafür, was wir als Menschen unsererseits diesem Lebensnetz zurückschenken können – wir finden und fühlen mehr Sinn in unserem eigenen Dasein.

Lebenssinn ist ein wesentlicher Faktor für menschliches Wohlbefinden. Ihn zu spüren stärkt unsere körperliche und unsere seelische Gesundheit und erleichtert es uns zudem, vor allem in Gemeinschaft mit anderen Menschen, etwas Großes zu leisten!

Die tiefe Freude

Gefühlte Sinnhaftigkeit ist außerdem eine wesentliche Zutat für Eudaimonie – eine Art von Freude oder Glücksgefühl, die nicht an vorübergehende Vergnügungen gekoppelt ist, und nicht nur in den  angenehmen, leichten Momenten des Lebens aufkommt. Vielmehr entsteht Eudaimonie wann immer wir uns als Beitragende zu einem größeren Ganzen erleben können, und unser eigenes Tun und Wirken als sinnhaft und nützlich erleben können.

Angesichts all dieser Zusammenhänge ist es nicht überraschend, dass wenn wir uns intensiv mit der Natur verbunden fühlen, uns als sinnvollen, beitragenden Teil dieser Natur erleben können, laut einer Studie von 2019 auch tatsächlich mehr „eudaimonisches Wohlbefinden“ erleben.

Eudaimonie scheint unser Immunsystem besonders zu stärken, was uns unter anderem widerstandsfähiger gegen Stress macht.

Dabei können wir die durch Naturverbindung deutlicher spürbare Sinnhaftigkeit unseres Daseins und die damit verbundene Freude nicht nur dann erleben, wenn wir selbst gerade draußen unterwegs sind und aktiv einen eindeutigen Beitrag zum Wohlergehen andere Wesen schenken (wie beispielsweise einen CO2-speichernden Selbstversorgungsgarten anzulegen, einen Nistkasten für Vögel oder Fledermäuse aufzuhängen oder Pflanzen für Insekten in der Landschaft zu verteilen…), sondern auch bei vielen anderen Gelegenheiten inmitten unseres ganz normalen Alltags, sogar wenn wir indoor unterwegs sind:

Wann immer wir mit unserer Zeit, Energie, Aufmerksamkeit, mit unserem Konsumieren etwas auf den Weg bringen oder unterstützen, das wir als nützlich und hilfreich für das Lebensnetz Erde ansehen, stärkt dies unser Gefühl von Integrität und die Gewissheit, ein sinnvolles Leben zu führen, einen relevanten Beitrag zu leisten.

Sogar indem wir bewusst etwas nicht tun, also auf bestimmte Sachen lieber verzichten, können wir uns als einen relevanten Beitrag schenkend erleben.

18. Natürlich Mitgefühl  – Die Verbindung aus Mit-Fühlen und Helfen wollen

Das Element des „Helfen wollen“ ist auch eine Hauptzutat für Mitgefühl. Während Empathie unsere Fähigkeit beschreibt, die Umstände aus den Augen einer anderen Person sehen zu können und ihre Emotionen zu fühlen, steht beim Mitgefühl (engl. „compassion„) ein aktiver Wunsch für das Wohlergehen meines Gegenübers im Zentrum.

Mitgefühl scheint tatsächlich eine der wirkkräftigen menschlichen Haltungen zu sein, insbesondere im Buddhismus (aber auch anderen Glaubenssystemen) seit Jahrtausenden kultiviert und in den letzten Jahren durch unzählige Studien von wissenschaftlichen Instituten in aller Welt erforscht. Die Universität in Stanford Kalifornien hat sogar ein eigenes Zentrum für „Mitgefühl & Altruismus„, auf dessen Webseite sie schreiben, dass Mitgefühl „eine der stärksten Triebkräfte der Menschheit für Veränderung“ sei.

Mitgefühl könnte lebens-wichtig sein

Auch der Dalai Lama sagt: „Liebe und Mitgefühl sind kein Luxus, sondern Notwendigkeiten. Ohne sie wird die Menschheit nicht überleben.

Dabei hilft unser Mitgefühl nicht nur unserem Gegenüber, sondern auch uns selbst:  Mitgefühls-Übungen führten in einer Studie messbar dazu, dass die Konfrontation mit dem Leid anderer messbar im Gehirn nicht nur die für unangenehme Emotionen bekannten Regionen aktivierte, sondern zusätzlich auch Regionen aktiv wurden, die mit angenehmen Emotionen verbunden sind – es verringerte sich also das eigene „Mit-Leiden“ angesichts der Not von anderen. Somit könnte es leichter werden, dass wir uns nicht davon überwältigt fühlen.

Dieser Zusammenhang könnte eine Erklärung dafür sein, dass Mitgefühl gerade für Menschen in helfenden Berufen essentiell dafür ist, nicht emotional auszubrennen. davor schützt, auch über lange Zeiträume nicht emotional auszubrennen. Vielmehr scheint es so, dass wir durch Mitgefühl auch angesichts großer Not leichter für andere da sein können, und uns dabei sogar weniger selbst zu erschöpfen – eine Kompetenz die angesichts globalen Leids weiterhin sehr wichtig für unsere seelische Gesundheit sein wird.

Mitfühlen mit denen, die ganz anders sind 

In Studien wurde gezeigt, dass Empathie, also das Nachfühlen oder Mit-Fühlen mit einem Gegenüber nicht nur unbewusst abläuft, sondern wir es bewusst steuern können, unter anderem indem wir uns in die Situation des anderen hinein versetzen. In einer wissenschaftlichen Veröffentlichung hierzu heißt es: „die Regulation der eigenen egozentrischen Sichtweise ist eine Grundvoraussetzung dafür, andere verstehen zu können„.

Wenn wir uns bewusst mit unseren nicht-menschlichen Mitwesen verbinden, üben wir beständig, unsere egozentrische Sichtweise ein Stück weit hintenanzustellen und uns in „die anderen“ hineinzuversetzen – mit Hilfe von Wissen und eigenen Beobachtungen, aber auch durch bewusstes Einfühlen und immer wieder Variationen der Frage: „Wie ist es, du zu sein?“.

Ich habe diese einfache Frage erstmals 2019 während einer Veranstaltung von Charles Eisenstein gehört, und sie bündelt viel von dem, worauf Naturverbindungpraxis hinaus läuft: Wir Menschen, die wir von Grund auf zutiefst soziale Wesen sind, nutzen unsere natürlichen Fähigkeiten dafür, uns nicht nur in unsere Liebsten, vertrautesten Menschen in unserem Leben einzufühlen, sondern in die allerunterschiedlichsten Wesen.

Indem wir unser Mitgefühl ausdehnen auf hungrige Bienen in unserm Garten, Weinbergschnecken beim Überqueren einer Straße, die Stadtbäume vor unserm Haus und die Krähen in ihren Kronen, können wir auf allereinfachste Art einen Unterschied für die Erde machen und kreieren gleichzeitig mehr Gelegenheiten für uns selbst, etwas zu Üben, was unsere eigenen körperlichen Stressreaktionen verringern könnte:

In einer finnischen Langzeit-Studie wurde über einen Zeitraum von 15 Jahren untersucht, welchen Einfluss Mitgefühl zum einen auf die Empfindlichkeit für Stress und zum anderen auf die körperlichen Folgen von chronischem Stress hatte. Das Ergebnis der Studie deutet darauf hin, dass ausgeprägtes Mitgefühl Menschen vor den Auswirkungen von Stress schützen könnte. (Und auch, dass selbst angesichts von großem Stress unsere Kapazität für Mitgefühl scheinbar nicht beeinträchtigt wird).

19. Selbstmitgefühl leichter machen durch die Verbindung zu unseren Mitwesen

Unzählige wissenschaftliche Studien der letzten Jahre beschäftigen sich mit einer Kern-Kompetenz für Resilienz und seelische Gesundheit, die viele Menschen weltweit, vermutlich insbesondere in den westlichen, konsum- und leistungsorientierten Ländern erst langsam schätzen und nutzen lernen: das Selbstmitgefühl. (Hier kannst du mehr über Selbstmitgefühl lernen und erfahren.)

Auch wenn Selbstmitgefühl nicht automatisch durch Naturverbindungs-Praxis entsteht, glaube ich dass sie uns doch dabei unterstützen kann.

Eine Hürde zum Selbstmitgefühl sehe ich darin, die vielen Anteilen und Stimmen in uns, die wir als unangenehm, als zu schwach oder zu stark, zu hässlich oder zu schön, zu laut oder zu leise oder in irgendeiner anderen Art als „komisch“ und nicht liebenswert wahrnehmen – trotzdem als menschlich anzunehmen, sie in uns willkommen zu heißen, nicht mehr vor uns selbst und vor der Welt verstecken zu wollen. Erst wenn wir es schaffen, sie überhaupt wahrzunehmen, können wir beginnen, ihnen mit Mitgefühl zu begegnen.

Imperfekt vollkommen – so wie wir

In unserer Mitwelt draußen können wir tagtäglich unzählige Formen des Lebens entdecken und beobachten, die keinem Schönheits- oder Erfolgsideal entsprechen. Wir erleben an einem Nachmittag im Park oder Wald eben nicht nur majestätische Tiger die sich vor fast gar nichts fürchten und formvollendete Blüten die wie von Meisterhand gemalt erscheinen – sondern jede Menge Leben im Zustand des „erst Werdens“ oder „schon fast wieder Vergehens“ – welke Blätter, Spinnen mit fehlenden Beinen, nur für sehr wenige Menschen als „schön“ erkennbare Häufchen von Losung und eine endlose Zahl kleinster Lebewesen, deren Besonderheiten sich nur bei ganz naher, geduldiger Betrachtung zeigen.

Und doch wird im Betrachten deutlich, dass alles für irgendjemanden nützlich oder sogar wichtig ist. Ich glaube, dass wir draußen beständig in bunten Farben (und jeder Menge grau, braun und grün) vorgelebt bekommen, wie wirklich alles dazu gehört zum Netz des Lebens. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Vertrautheit mit allen Facetten des Lebensnetzes außen (und vor allem auch unsere mitfühlende Haltung den unzähligen dazu gehörenden Wesen gegenüber), es uns viel viel leichter macht, die vielen Facetten unseres Innenlebens ebenfalls mit Mitgefühl annehmen zu können.

 

20. Gelegenheit zum Geben für Natur

Je emotionaler unsere Verbindung zur Natur ist, desto leichter wird die darin wohnende liebe-volle Kraft es uns auch machen können, noch einen Schritt weiter zu gehen und berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeiten zu ergreifen, die direkt oder indirekt einen Beitrag zur Erhaltung von Naturräumen, Artenvielfalt oder Fruchtbarkeit der Landschaft leisten kann.

Wie wissenschaftliche Studien mehrfach gezeigt haben, ist Naturverbindung wirklich einer der wesentlichen beeinflussenden Faktoren für handfestes „Umwelthandeln“, also ein umweltschützendes Verhalten.

Das ist für die Welt gut – aber auch für uns selbst?

Tatsächlich hat die Wissenschaft inzwischen ganz klar beschrieben, wie positiv es sich auf unser persönliches Wohlergehen auswirkt, wenn wir etwas verschenken oder für andere tun.

Verschenken bereitet uns sogar mehr Freude, als wenn wir uns selbst etwas Neues kaufen. Dabei geht es nicht einmal primär um das Feedback von Freude durch die von uns Beschenkten, sondern vor allem darum, wie sehr wir selbst davon ausgehen, dass wir jemandem etwas Gutes getan haben.

Stress mildern

Eine Studie in Michigan untersuchte 800 Menschen über einen Zeitraum von einem Jahr. Während allgemein ein höheres Stress-Level zu höherer Sterblichkeit führt, traf dies nicht auf Menschen zu, die anderen halfen. Bei Menschen, die anderen halfen, führte Stress nicht zu einer höheren Sterblichkeit. Für andere da zu sein, scheint uns also dabei zu helfen, so mit Stress umzugehen, dass er unsere Gesundheit weniger beeinträchtigt.

Ich vermute, dass dieser tolle Effekt ganz sicher auch funktioniert, wenn wir etwas für unsere nicht-menschliche Mitwelt tun:

Eine Vogelfutter-Station aufhängen, einen Garten hegen, sogar wenn wir einfach nur für unsere Mitwesen da sind, ihnen unsere Aufmerksamkeit schenken, ihnen zuhören, uns mitfühlend einfühlen, während wir an der Bushaltestelle warten oder auf dem Weg zur Arbeit – alles was wir bewusst und aus dem Wunsch heraus tun, die Existenz der anderen etwas besser zu machen, kann für uns selbst ein kleiner Beitrag sein.

Auch Geld spenden könnt eine Möglichkeit sein, einen Beitrag zu schenken – auch an Initiativen wie die Gesellschaft für bedrohte Völker. (Denn wie aus einem Bericht der UN hervorgeht machen indigene Kulturen zwar nur noch 5% der Weltbevölkerung aus, ihre regenerativen, über Jahrtausende erprobten Landbewirtschaftungsweisen sind jedoch verantwortlich für 80% der weltweit noch vorhandenen Artenvielfalt – dabei sind viele von ihnen bedroht von Landraub aufgrund der Interessen großer Konzerne.)

Und nicht zuletzt kann auch das öffentliche sichtbar machen unserer Sorge für die Erde ein gewichtiger (und für großen Wandel vielleicht sogar notwendiger) Beitrag sein, mit dem wir politische Entscheidungen beeinflussen können, vor allem wenn wir unsere Anstrengungen zusammen mit anderen bündeln, zum Beispiel über die Fridays for Future Bewegung, die inzwischen in zahlreichen Städten weltweit Aktionsgruppen hat.

21. In der Natur Schönheit finden kann freundlicher machen

In Studien der Universität Berkeley wurde festgestellt, dass die prosozialen Auswirkungen von Natur besonders stark waren, je mehr Schönheit die Teilnehmenden in der Natur sahen: Landschaften oder auch Pflanzen die als besonders schön eingestuft wurden bewirkten, dass die Menschen sich anschließend hilfsbereiter, großzügiger und vertrauensvoller verhielten.

Doch ob und in welchem Maße wir Schönheit wahrnehmen ist individuell verschieden: In anderen Studien zeigte sich, dass es manchen Menschen tendenziell viel leichter fiel als anderen, Schönheit wahrzunehmen – und diese Schönheitsliebenden dann auch weniger materialistisch, oft grundlegend dankbarer eingestellt waren, und sich anderen Gegenüber prosozialer verhielten.

Doch was könnte den Unterschied dafür machen, ob wir selbst empfänglicher für die Schönheit um uns herum sind?

Meine Vermutung ist zum einen, dass das ästhetische Empfinden sich umso mehr Entfalten kann, wenn wir Resonanz von vertrauten Personen spüren, die sich mit uns gemeinsam an der Schönheit erfreuen und durch die Spiegelung sich angenehme Gefühle noch verstärken können – so wie in der Redensart, wo aus geteilter Freude doppelte Freude werden kann.

Außerdem ist es möglich gezielt Ausschau nach Schönem zu halten, und das ist Übungssache: Selbst in einer grauen Wohngegend finden wir dann vielleicht die eine strahlend gelbe und fast symmetrische Löwenzahnblüte.

Schönheit liegt im Auge des Betrachters“ sagt man, und so können wir auch im Körper und den zarten Flügeln einer Stechmücke noch Schönheit erkennen – wenn wir es schaffen, auf die „richtige“ Art und Weise hinzuschauen.

22. Aus der Einsamkeit in die Gemeinschaft allen Lebens

Wie wir hinschauen (und hören, spüren und fühlen), und dadurch die Welt um uns herum und unsere Mit-Wesen wahrnehmen, entscheidet auch darüber, wie sehr wir uns allein fühlen, wenn gerade keine anderen Menschen da sind.

Zustände von Einsamkeit breiten sich in der zivilisierten Welt aus wie eine Epidemie, vor allem junge Erwachsene, ältere Menschen, zunehmend auch Kinder und Jugendliche fühlen sich schrecklich einsam und allein.

Für das Erleben von Einsamkeit ist dabei nicht entscheidend, wie sehr wir sozial eingebunden sind, mit wie vielen Menschen wir tagtäglich zu tun haben, sondern der Begriff beschreibt das subjektive, sehr schmerzliche Erleben, dass die eigenen sozialen Bedürfnisse durch die Anzahl und Qualität der bestehenden Beziehungen nicht gestillt werden können.

Dabei kann Einsamkeit ein deutlicher Vorbote von körperlichem Schmerz, Depressionen und Erschöpfungszuständen sein und das Erleben von Einsamkeit kann die Lebenszeit drastisch verkürzen, unter anderem durch Herzerkrankungen, die viel häufiger Menschen treffen, die sich oft als einsam erleben.

Einsamkeit konnte in Studien auch mit der Entstehung von Persönlichkeitsstörungen, Psychosen, Selbstmord, einem Verkümmern kognitiver Fähigkeiten im Alter und Alzheimer in Verbindung gebracht werden.

In einer ab 1938, also über 80 Jahre laufenden Langzeitstudie in den USA wurde erforscht, welche Faktoren Gesundheit und Wohlbefinden beeinflussen und welcher davon wohl der Wichtigste sein könnte. Zu Beginn dieser Studie wäre niemand darauf gekommen, was das ganz deutliche und für viele Menschen aufrüttelnde Ergebnis sein würde. Einer der Forschenden, George Vaillant, formulierte es so: „Als die Studie begann interessierte sich niemand für Empathie oder Bindung. Aber der Schlüssel für ein gesundes Altern sind Beziehungen, Beziehungen, Beziehungen.“ 

Beziehungen als Schlüssel

Sein Kollege Robert Waldinger spitzt es noch mehr zu: „Einsamkeit tötet“ – weil das Erleben von Einsamkeit die Lebenserwartung so deutlich herabsetze.

In Versuchen wo Menschen durch Hypnose kurzzeitig in Einsamkeits-Zustände versetzt wurden, erlebten diese gesteigertes Stress-Empfinden, Angstzustände, Furcht vor negativer Bewertung, Wut und verringerten Optimismus und Selbstwertgefühl. In einem Artikel dazu heißt es: „Unser soziales Eingebundensein ist wie ein Gerüst für unser Selbst – wird das Gerüst beschädigt, leidet auch unsere Vorstellung von uns selbst darunter.

Auch unsere Beziehungsfähigkeit leidet: Menschen die gerade Einsamkeit erleben waren in einer Studie sogar weniger in der Lage, die beziehungsstärkenden Signale von Partner*innen überhaupt noch wahrzunehmen, selbst wenn diese sehr viel Energie in ihre Botschaften steckten.

Einige Studien der letzten Jahre haben gezeigt, dass es Menschen, die sich einsam fühlen, umso leichter fallen könne, sich mit der Natur in ihrer Gesamtheit verbunden zu fühlen, oder auch die Verbindung zu der (für viele Menschen eher abstrakten Idee) der gesamten Menschheit zu fühlen.

Der Neurowissenschaftler John Cacioppo beschreibt, woran dies liegen könnte: „Einsamkeit ist ein Mechanismus, der unsere Existenz als Menschen unterstützt. Wir können durch sie feststellen, wenn unsere Verbindung mit anderen, für gegenseitige Unterstützung und Schutz gefährdet oder abwesend sind – denn das könnte tötliche Folgen für uns haben.“

Unser inneres Beziehungs-Schutz-System

Das kurzzeitige Erleben von Einsamkeit ist also Teil unserer natürlichen Ausstattung, denn sie kann uns dazu bewegen, unser Beziehungsleben immer wieder bewusst zu nähren und zu stärken.

Gleichzeitig stresst selbst kurze Einsamkeit uns so sehr, dass wir uns erstmal weniger sozial verhalten: „Wenn du dich einsam fühlst, gehst du in Verteidigungshaltung. Unbemerkt für dein bewusstes Denken fokussiert sich dein Gehirn mehr auf den Schutz von dir selbst als auf die Erhaltung der Menschen um dich herum, was dazu führen kann, dass es für andere weniger angenehm ist, mit dir zusammen zu sein.“

Dieser Effekt kann mit der Zeit zu immer mehr Vereinsamung führen.

Wenn Einsamkeit chronisch wird, also über längere Zeiträume erlebt wird, wirkt sie besonders zerstörerisch, und das Gefühl von Einsamkeit kann sich mit der Zeit immer mehr steigern.

In den Jahren als Sobonfu Somé noch lebte sprach sie oft davon, für wie absolut lebensnotwendig Gemeinschaft in ihrem Heimatdorf in Westafrika angesehen wird. Gemeinschaft sei DER Raum in dem andere unsere Gaben empfangen, ein Grundbedürfnis aller Menschen – wenn uns Gemeinschaft fehlt, könnten wir vor Einsamkeit regelrecht verrückt werden.

Cacioppo sagt: „Die wahrgenommene Einsamkeit verstärkt sich, wenn wir niemanden haben, die für uns da sind, oder für die wir da sind. Als Kinder sind wir abhängig von Erwachsenen. Wenn wir selbst erwachsen werden, glauben wir es ginge darum, unabhängig zu werden – König auf unserem eigenen Berg. Aber bei allen sozialen Säugetieren – nicht nur bei uns Menschen – geht es beim erwachsen werden eigentlich vielmehr darum, jetzt selbst zu diesen Personen zu werden, die für andere da sind.“

Wer gehört zu meinem Beziehungsnetz?

Eine Frage, die sich daraus ergibt um Wege aus der Einsamkeit zu finden könnte also sein: Wer sind die Wesen, für die ich da bin?

Und: Wer sind die Wesen, die für mich da sind?

Mit dieser Frage rauszugehen kann unglaublich berührende Erlebnisse ermöglichen:  In den letzten Jahren konnte ich immer wieder Geschichten von Menschen hören, die Bäume, einen Bach, Vögel, Insekten, selbst kleine Pflanzen oder Steine, den Wind, Regen, die Sonne oder andere Sterne für wenige Momente, oft aber immer wieder als  präsente, liebevolle, verlässliche Älteste oder Freunde erlebten.

Unsere Mit-Wesen draußen, und sogar auch die kleinsten Tiere, die uns manchmal bis ins Haus besuchen, ja selbst unsere Zimmerpflanzen können Menschen erleben als Personen, die in seelischen Not-Situationen „einfach für mich da waren.

23. Natur validiert UND erweitert unsere Sichtweise

Wenn wir draußen unterwegs sind verstehen wir unsere Mitwesen nicht nur über ihre Präsenz mit uns, sondern auch über ihre Symboliken. In einer psychiatrischen Klinik war ein Ergebnis eines Garten-Projektes, dass die beteiligten Patient*innen die Erfahrungen draußen nutzten, um anhand der von ihnen selbst entdeckten Symboliken über ihre eigenen Leidensweg zu reflektieren und daraus neue Erkenntnisse für sich zu sammeln.

Wenn wir mit Naturverbindungs-Praxis draußen unterwegs sind, also in Kontakt und Verbindung gehen wollen, entdecken wir nach meiner Erfahrung nach oft spontan etwas, das unserem inneren Erleben sehr nahe kommt, ein anderes lebendes Wesen, dass ähnliches durchzumachen scheint.

Meine Vermutung ist, dass diese Begegnungen uns die so wichtige Erfahrung ermöglichen können, mit unseren Gefühlen und Emotionen validiert zu werden.

Validieren ist ein Fachbegriff für das Bestätigen oder Bekräftigen der Gefühle meines Gegenübers. In vielen Kommunikations-Schulen ist es ein wesentlicher Schritt um dem anderen zu helfen, sich überhaupt erstmal gehört und verstanden zu fühlen (als Grundvoraussetzung für eine spätere Einigung).

Eine vielfach erlebte Symbolik, aus der viele Menschen Trost und Zuversicht ziehen, ist das Entdecken von „alten, vernarbten Wunden“ im Stamm von Bäumen. Der Zusammenhang zwischen einer früheren Verletzung und der Narbe die daraus erwachsen ist, die den Baum „so viel interessanter“ oder „schöner“ macht, inspiriert Menschen immer wieder dazu, ihre eigenen, oft seelischen Narben liebevoll annehmend oder sogar wertschätzend zu betrachten.

Wir können also im Idealfall eine Verbindung aus Validieren sowie einer Erweiterung unserer eigenen Perspektive erleben. Vielleicht könnte unsere Naturbegegnung es uns auf diese Weise möglich machen, schöpferischer mit einer Situation umzugehen und lebensfreundlichere Entscheidungen zu treffen.

24. Bedeutung verleihen als menschliches Grundbedürfnis 

Menschen scheinen es zu lieben, Muster zu erkennen. Viele von uns suchen (auch unbewusst) nach Bedeutung in allem was uns umgibt: Wolkenbilder, das für uns so normale Lesen von Buchstaben, die Wörter und ganze Texte ergeben, Charakteristika in unseren Namen, Gesichter die für uns in der Maserung von Holzbrettern oder in Alltagsgegenständen auftauchen, auch das Herleiten von Persönlichkeitstypen anhand von Geburtsdatum und -Ort, Orakeln mit Bleigießen in der Silvesternacht und so vieles mehr können wir entdecken oder erfinden, mit dem wir unser Bedürfnis nach Bedeutung stillen können.

Gerade im Bereich der Trauma-Therapie ist seit langem bekannt, dass unsere Fähigkeit, auch den schlimmsten Geschehnissen eine lebensförderliche Bedeutung zu verleihen einen wesentlichen Unterschied dafür macht, wie gut wir Schicksalsschläge überstehen und trotz ihrer Schrecklichkeit wieder zu Lebensfreude finden können.

Wichtig ist meines Erachtens dabei, dass Bedeutung und Sinn nicht einfach nur „gefunden“ werden können, als ob sie schon von Vornherein existieren würden. Wenn ein Kind vernachlässigt oder missbraucht wird, hat dieses tragische Geschehen in sich keinen Sinn, es ist im Gegenteil zutiefst sinn-los.

Es liegt bei uns selbst

Nur die betroffenen Personen selbst können eines Tages als Teil von ihrem Selbstheilungsprozess wählen und entscheiden, welche Bedeutung, welchen Sinn sie dem Geschehenen geben wollen – eine Wahl die, so beschreibt die Trauma-Forscherin Judith Herrmann es in ihrem Buch, viel Energie für den weiteren Lebensweg freisetzen kann.

Auch unseren kleinen Schicksalsschlägen und Herausforderungen, wie auch den angenehmen Überraschungen des Lebens können wir Bedeutung geben (und tun dies oft unbewusst).

Hier kann unsere Verbindung zur Natur helfen, uns eine Vielzahl von symbolischen Möglichkeiten zur Auswahl zu zeigen – ohne uns eine bestimmte davon aufzudrängen.

Als Mutter eines Teenagers kann ich selbst wählen, ob ich mich mit den Vogeleltern identifiziere, die jetzt im Herbst so viel unbeschwerter zu sein scheinen, wenn endlich die Jungen aus dem Nest sind – oder mit den Wölfen, deren Jungtiere viel langsamer zu lernen scheinen, was man so zum Leben braucht, und oft noch recht weit bis ins Erwachsenenalter hinein mit den Eltern rumhängen.

Ich kann auf beide Bilder (und auf noch viele andere) zugreifen, um wann immer ich Bedarf habe, für mich passende, hilfreiche Bedeutungen zu finden – und auch mehrere davon nebeneinander zu stellen, wenn es dienlich oder gebraucht erscheint.

Unkonventionelle Bilder

Bilder aus der Natur sind zudem Eindrücke und Erfahrungen aus einer Daseins-Welt, wo Konsum, Trends und Mode keine Rolle spielen – wir also dem erdrückenden Raster von teilweise sogar gegensätzlichen Ansprüchen, welches unser tägliches Leben gerade im Internet-Zeitalter fest umklammert hält, ein Stück weit entkommen können.

Und dank der mannigfaltigen Vielgestalt und Wandelbarkeit von Bildern aus der natürlichen Welt, weiß ein Teil in mir ganz genau, dass welche auch immer ich mir wähle, auch immer nur Symbole sind. Ich vermute, dass es Menschen deshalb leichter fallen könnte, selbst gewählte Bilder aus der Natur bei Bedarf durch andere zu ersetzen – anstatt auf dogmatische Weise an ihnen festzuhalten.

Denn eine der wichtigsten Fragen fürs Bedeutung verleihen ist meines Erachtens nach nicht nur: „Welche Bedeutung wäre für mich persönlich die hilfreichste oder angenehmste?“ sondern vor allem:

Welche Bedeutung könnte für mich selbst UND die anderen hilfreich sein (also für Menschen und andere Wesen, die von meinem Denken und Handeln betroffen sind, ebenso wie das größere Ganze)?

Für ebenso wichtig halte ich es, einmal gefasste Antworten immer (mal) wieder zu hinterfragen und zu überprüfen, ob sie immer noch stimmig sind, immer noch hilfreich für mich selbst und die anderen? Oder ob es ansteht, sie zu erweitern oder meine Suche nach Bedeutung zu vertiefen oder ganz neu auszurichten?

25. Natur als Mentorin  

Wenn wir uns mit einer Gruppe von Menschen aufmachen, zu erforschen, was es heißt, andere auf deren Lern- und Lebensweg zu begleiten, sind eine wichtige Einladung und Frage ganz am Anfang dieses Prozess: „Welche Wesen findest du draußen in der Natur, die für dich selbst Mentor*innen sein könnten?“

Wir wissen nicht, ob die vielen berührenden und manchmal auch humorvollen Erlebnisse, die durch das Erforschen dieser Aufgabe möglich werden, einfach ein Widerhall der eigenen inneren Mentor*innen-Weisheit sind – oder ob Bäume, Steine, Vögel, Erde oder Himmel tatsächlich auf einer Ebene wirklich für uns als Menschen da sind.

Unsere Erfahrung zeigt jedenfalls, dass unsere Wahrnehmung der Natur und ihrer Bedeutungsebenen mit unserem eigenen seelischen Reifungsprozess nicht nur passgenau mitzuwachsen, sondern oft einen Schritt voraus zu sein scheint – im Beziehungsraum zwischen ihr und uns wohnt etwas, was als nächstes passieren könnte.

Denn Natur lockt uns: Mit Gelegenheiten zum Klettern, zum Sammeln, zum Jagen (was meistens wohl eher ein etwas Einfangen ist), zum Entdecken, Abtauchen und – für viele Erwachsene besonders relevant – zum einfach durch sie hindurch Laufen.

Impulsen folgen

Inmitten der Natur wählen wir uns einen Weg (oder ein Ziel), welche unseren Vorlieben entsprechen, und unsere Mitwesen sind mit dabei. Wenn wir sie wahrnehmen und ernst nehmen, können wir das Gefühl erleben, auch von ihnen bezeugt zu werden, und je mehr wir selbst darin geübt sind, vieles wahrzunehmen, desto bunter und vielgestaltiger kann das Bild werden, in dessen Mitte wir uns wiederfinden:

Indem wir beispielsweise das Alarmsystem der Natur verstehen lernen: Wenn wir wissen wie die Amsel reagiert, wenn wir gestresst an ihr vorbei hasten (oder achtsam gehen), wird es uns möglich auch unsere eigenen Auswirkungen auf sie (und alle anderen) zu erkennen und bewusst(er) zu gestalten.

Indem wir den Fährten des Fuchses durch den Schnee folgen lernen, können wir vielleicht irgendwann erkennen wie er auch unsere Fußspuren wahrnimmt und sich auf eine bestimmte Weise dazu verhält.

Wenn wir mit unsern Mitwesen in Verbindung sein wollen und dem aktiv nachgehen, können wir beständig und lebenslang daran wachsen und reifen – wir können in ihrer Mitte die Heldenrolle in unserer eigenen Lebensgeschichte spielen und dabei doch immer wieder deutlich wahrnehmen, dass wir nur ein winziger Faden in einem riesig großen und überwältigend schönen Netz sind, das alle lebenden Wesen umspannt.

26. Im Kreis der natürlichen Zyklen

Es kann tröstlich und erhebend zugleich sein, natürliche Rhythmen, Muster und Kreisläufe zu erforschen, und sehr inspirierend dazu.

Wir kennen die meisten von ihnen bereits aus unserem inneren Erleben. Wir haben in uns ein Herz und eine Lunge, die sich rhythmisch zusammenziehen und wieder ausdehnen, spürbar über unseren Puls und unseren Atem, so sind wir vertraut mit Wellenbewegung in all ihren Erscheinungsformen.

Die Drehungen um die Erdachse schenken uns nicht nur Tag und Nacht, sondern ganz unterschiedliche Tages-Phasen, den zarten aber kraftvollen Sonnenaufgang, der nach dem Dunkel der Nacht das Licht zurück bringt, einen Vormittag mit zunehmender Helligkeit und Wärme schenkt, die ihren Höhepunkt am frühen Nachmittag findet, kurz bevor das Licht die Welt golden aufleuchten lässt, wenn der Sonnenball hinter den Horizont sinkt, und wir nach und nach immer mehr Sterne am schwarz werdenden Nachthimmel erkennen können.

Die Wanderung unseres Planeten um die Sonne schenkt uns die Jahreszeiten, vier davon in unserem Teil der Erde, und Übergangszeiten zwischen ihnen. Je mehr wir verbunden sind mit dem Rhythmus, den Erscheinungen von Frühling, Sommer, Herbst und Winter, desto leichter können wir ihre Qualitäten und Eigenheiten auch in uns selbst erkennen und mit ihnen schöpferisch umgehen lernen.

Ein Teil des großen Ganzen

Auch die Verbindung zu den Rhythmen der Natur kann uns ermöglichen, den größeren Kontext zu erfassen, nicht nur auf die Wahrnehmung unseres kleinen Selbst beschränkt zu sein, sondern mit Ehrfurcht zu erkennen, wie sehr unser inneres Erleben nicht nur dem Ablauf des großen Ganzen entspricht, sondern sogar ein Teil davon ist, als würden wir ein Instrument spielen inmitten eines gigantischen Symphonie-Orchesters.

Jahreszeitliche Veränderungen wurden und werden in vielen Teilen der Erde gefeiert, und meine Vermutung ist, dass dies nicht nur dabei hilft, das zu würdigen, was die Natur für unsere menschlichen Bedürfnisse bereit stellt (nämlich im Grund alles was wir brauchen und gebrauchen!).

Ich glaube, dass das Feiern dessen was um uns herum geschieht es außerdem so viel leichter macht, die Dynamik in unserem Inneren zu erkennen, zu verstehen und auf lebensförderliche Weisen mit ihr umzugehen.

Wandel miterleben

Wir können ein Jahr lang immer wieder eine Linde besuchen, im Frühling von ihren zart-grünen Blättern naschen, im Frühsommer den Duft ihrer Blüten schnuppern, umsummt von Bienen und anderen Insekten ein paar davon für Tee einsammeln, später den Sommer-Wind die zarten Samen fortblasen sehen, die Knospen fürs neue Jahr entdecken (lange bevor im Herbst die Blätter abfallen), später miterleben, wie das Laub immer weiter aufgeknabbert und zerlöchert wird, bis der Rest sich endlich im Herbst goldgelb färbt und hinuntersegelt, wovon das meiste am Boden schnell zersetzt wird… und dann monatelang warten und warten und warten, wie die Linde die Kälte und Dunkelheit überdauert, bis irgendwann im Vorfrühling ganz allmählich die Knospen beginnen zu schwellen, als Vorboten für das neue Grün des neuen Jahres.

Ich glaube solch ein bewusstes Mit-Erleben kann helfen, sogar inmitten einer auf Leistung, Erfolg und Produktivität orientierten Gesellschaft ein Gefühl von Frieden und sogar Freude am eigenen Winter zu finden – der auch mindestens einmal im Jahr kommt und uns zu Ruhe und Abwarten im Außen einlädt, bis Sonne und Wärme zurückkehren. Und dabei inmitten dieser stillen Zeit vielleicht einen tieferen Zugang zu uns selbst zu finden, um unsere innere Ausrichtung zu erneuern und auf diese Weise Kraft fürs neue Jahr zu tanken.

27. Endlichkeit & beständiges Entstehen neuen Lebens

Wir alle werden eines Tages sterben und die Mehrheit der Menschen scheint diese Tatsache im Alltag weitgehend auszublenden. Hunderte von Studien haben sich in den letzten Jahrzehnten damit beschäftigt was passiert, wenn das Bewusstsein eines nahenden Todes uns doch erreicht, Menschen sich also vorstellen, sie würden bald sterben.

Viele der frühen Ergebnisse deuteten daraufhin, dass Todesnähe vor allem Angst in Menschen schürt: nationalistische und rassistische Vorurteile und Urteile über andere religiöse Gruppen oder Altersgruppen würden verstärkt, wir identifizierten uns stärker mit unserer jeweiligen In-Group, verteidigten unsere eigenen Standpunkte vehementer und egal welcher politischen Strömung wir angehörten, würden wir wir uns leichter konservativen Strömungen und Personen zuwenden. Menschen die in einer Studie die Möglichkeit hatten jemand anders zu bestrafen, wählten eine durchschnittlich fast zehnmal so hohe Strafe (es ging um einen Geldbetrag) wie die Kontrollgruppe, die nicht mit dem eigenen Sterben konfrontiert war.

Die diesen Studien zugrunde liegende „Terrormanagement Theorie“ geht davon aus, dass ein Großteil des menschlichen Verhaltens darauf zurückzuführen ist, dass wir uns dem Tod auf keinen Fall stellen wollen.

Gleichzeitig betont einer der Begründer der Theorie, Sheldon Solomon, dass wir sogar Frieden und Mitgefühl fördern können, wenn wir den uns und unseren Liebsten bevorstehenden Tod eben nicht ausblenden, sondern vielmehr anerkennen.

Uns alle erwartet der Tod

Als Menschheit säßen wir alle im selben Boot – einem „sinkenden Boot“ wie er sagt. Uns daran zu erinnern könne unseren Sinn für Gleichwürdigkeit und Gemeinsamkeit stärken.

Viele jüngere Studien haben deutlich positive Auswirkungen einer Konfrontation mit dem nahenden Tod feststellen können, beispielsweise, dass in uns das Bedürfnis stärkt, ein Erbe zu hinterlassen, was mit mehr Motivation gesund zu leben und auch mit dem Wunsch nach spirituellem Wachstum einhergeht.

In anderen Studien wurde beschrieben, dass Menschen sich stärker ihren positiven Werten entsprechend verhalten, ihren Fokus auf den Aufbau unterstützender Beziehungen setzen, sich für die Entwicklung friedvoller, gemeinnütziger Gemeinschaftsprojekte einsetzen und insgesamt offene und auf Entwicklung ausgerichtete Verhaltensweisen praktizieren.

Forschende an der Universität in Amsterdam kamen zu dem Schluss, dass wir angesichts des Todes unser Bedürfnis nach Eingebundensein in eine Gemeinschaft so stark würde, dass Menschen sogar bereit wäre, vorgefasste Meinungen und Weltsicht unterzuordnen, um dazugehören zu können.

Die Vorstellung vom eigenen Tod kann außerdem ein kraftvoller Auslöser für intensive Dankbarkeit sein, sogar für Menschen denen es gerade (oder allgemein) schwer fällt, Dankbarkeit zu empfinden.

Der Psychologe Steve Taylor interviewte für ein Buch eine Reihe von Menschen, denen der Tod in Form von Krankheit oder Unfällen nah gekommen ist.

Sie beschrieben eine „transformative Wirkung“ und sprachen ebenfalls von enormer Dankbarkeit, auch von einer veränderten Wahrnehmung der Welt als „echter“, „lebendiger„, „voller Schönheit„.

Sorgen und Ängste die sie vorher bedrückten seien wie verschwunden gewesen, beispielsweise ob andere Menschen sie mögen könnten oder nicht, dass sie beruflich scheitern könnten, oder Sorgen über Erlebnisse in der Vergangenheit, die jetzt einfach nicht mehr wichtig erschienen.

Was uns wirklich wichtig ist

Taylor fasst es als Wandlung auf, weg von egozentrischen und materialistischen Einstellungen, hin zu einer weniger selbstsüchtigen, mehr altruistischen Haltung, verbunden mit einem Loslassen – von Ängsten, Ehrgeiz, Konzepten oder Status.

Er zitiert den Rockmusiker Wilko Johnson, der einige Monate zuvor eine Krebsdiagnose bekam und im Interview mit der BBC erzählte:

Wir verließen den Raum und ich fühlte wie sich meine Stimmung hob. Du läufst einfach und fühlst dich plötzlich so unbändig lebendig. Du siehst die Bäume und den Himmel und alles und es ist einfach whoah! Ich hab den Großteil meines Lebens in Depressionen versunken zugebracht, aber das ist alles weg.… Sachen die mich runtergezogen haben oder mich besorgt oder genervt haben, die machen mir nichts mehr aus – und dann fragst du dich: Wow, warum hab ich das nicht vorher verstanden? Warum hab ich nicht früher kapiert, dass es nur jeder einzelne Moment jetzt ist, der wirklich wichtig ist?

Die wesentliche Frage die sich stellt ist, wie ein Bewusstsein für den Tod so viel negative Auswirkungen in manchen Situationen haben kann und in anderen das Gegenteil zu bewirken vermag?

Und natürlich: Was das alles mit Naturverbindung zu tun hat? :-)

Taylor erklärt, dass die Intensität unserer Begegnung mit der Sterblichkeit eine Rolle spielen könnte.

Ängste würden vorherrschen, solange wir auf passive und vage Weise an den Tod dächten, statt uns ihm gefühlsmäßig zu stellen.

Er schreibt: „Wenn wir uns dem Tod aktiv und unmittelbar stellen, dann haben wir die Chance unsere Ängste und Unsicherheit zu transzendieren und das transformative Potential zu erleben.

Auch eine akzeptierende Haltung sei wichtig, dem Unvermeidlichen nicht widerstehen zu wollen.

Am schönsten sei es natürlich, die tiefe Wandlungskraft des Todes ein Stück weit erleben zu können, ohne tatsächlich zu sterben. Dafür sei es wichtig, uns eben frühzeitig im Leben immer wieder bewusst an unsere Sterblichkeit zu erinnern.

Dem Tod immer wieder begegnen

Was könnte sich dafür besser eignen als die tägliche, gefühlsbetonte Wahrnehmung und Verbindung zur Natur um uns herum – die ja in einem beständigen Prozess des Werdens UND Vergehens und Sterbens existiert.

In dieser Jahreszeit, dem grauen, kalten, dunklen Spätherbst ist dies besonders deutlich spürbar. Nicht ohne Grund ist es die Zeit der Toten- und Ahnenfeste und auch die Zeit in der wir unser Trauer-Feuer feiern (im nächsten Jahr wieder).

Was könnte uns eindrücklicher an unsere eigene Sterblichkeit erinnern als mit zu erleben, wie fast alles Leben verschwindet und sich tief in den Schoß der Mutter Erde zurück zieht?

Noch eine Beobachtung: Eine Studie in den Niederlanden hat gezeigt, dass die Selbstmordrate sinkt, wenn viel „Grün“ am Lebensort zugänglich ist.   

Vielleicht könnte dies damit zu tun haben, dass Natur uns auch immer wieder vorlebt, wie selbst nach dem tiefsten Winter und der größten Kälte neues Leben geboren wird?

28. Spiritualität spüren in der Natur

Naturverbindung bedeutet, die Welt da draußen nicht nur als Um-welt zu sehen, als Reservoir für wertvolle, dem Menschen nützliche Ressourcen, das wir schützen und managen sollten. Sie ist auch nicht nur Erholungsraum, XXL-Fitnessstudio oder malerische Kulisse für unsere ästhetischen Gelüste.

Durch die Vertrautheit mit Orten und ihren Lebewesen können wir viel mehr auch eine tiefe emotionale Bindung entwickeln, die nicht nur Kindern ein Gefühl des verwurzelt und gehalten seins in der Welt schenken kann.

Ebenso ist es möglich, noch einen Schritt weiter zu gehen, wenn wir uns der Möglichkeit öffnen, dass die gesamte Welt, in der wir leben, beseelt sein könnte.

Eine Grundsäule der Naturverbindungspraxis ist es, uns in ein spirituelles Zwiegespräch mit unserer Mitwelt zu wagen, so wie es Menschen seit dem Anbeginn der Zeiten in allen Teilen der Erde getan haben – vielleicht sogar schon die Neanderthaler, worauf ein schier unfassbarer, etwa 170.000 Jahre alter Fund in einer Höhle in Frankreich hinzudeuten scheint.

Die Vermutung liegt sehr nahe, dass die Voraussetzungen für spirituelles Erleben ein Teil der menschlichen biologischen Grundausstattung sind. Für mich bedeutet dies vor allem, in Verbindung mit etwas sein zu können – und zu wollen – das mehr ist als das physisch in jedem Moment Wahrnehmbare.

Können wir das Unhörbare erlauschen lernen, das Unsichtbare sehen lernen?

Für mich sind die Wurzeln der menschlichen Spiritualität in unseren Fähigkeiten begründet: mentale „Zeitreisen“ durchzuführen, allein mit unserer Vorstellungskraft etwas „in den Raum zu holen“ und zudem über unsere „normalen“ Sinne, aber auch unser „Bauchgefühl“ und andere Nervengeflechte im Körper Sinnesreize wahrzunehmen und mit Hilfe unseres großartigen Großhirns, vor allem des Stirnlappens zu interpretieren – ein Teil von dem was wir „Intuition“ nennen könnten.

Wir Menschen „können“ Spiritualität, und die Existenz unzähliger spiritueller Traditionen überall auf dem Erdball weist darauf hin, dass wir sie vielleicht sogar brauchen, es zumindest in vielen Personen ein Bedürfnis danach gibt.

In Mitteleuropa ist ein Begriff, der in zahlreiche Mythen und Sagen auftaucht, die „Anderswelt“. Natürlich weiß niemand ganz genau was die Anderswelt ist oder könnte eine Theorie dazu beweisen – für mich ist eine mögliche Deutung, dass der Begriff für eine weitere Ebene zur Welt des Sichtbaren, in die Einzutauchen ein noch intensiveres und auch anderes Erleben eines Ortes, seiner Wesen und auch von uns selbst bedeutet.

Die Anderswelt zu besuchen könnte beispielsweise bedeuten, Melodien oder Flüstern im Wind zu erlauschen, an einem Ort etwas Geheimnisvolles zu erspüren oder uns Menschen ganz nah zu fühlen, die in dieser Welt schon verstorben sind und insgesamt unserem eigenen Wesenskern und dem Wesen der Welt ein bisschen näher zu kommen.

Auch das Wahrnehmen der Lebenskräfte, die allem innewohnen, des Göttlichen oder einer Liebe in den Orten und Lebewesen kann ein Ausdruck unserer spirituellen Beziehung zur Landschaft sein.

29. Spiritualität kann Halt geben

Zahlreiche wissenschaftliche Berichte deuten daraufhin, dass Spiritualität sich positiv auf die seelische Gesundheit von Heranwachsenden auswirkt.

In einer Studie zeigten Dialyse-Patient*innen in deren Leben Spiritualität oder Religiösität eine große Bedeutung hat, ein niedrigeres Risiko für Selbstmord und allgemein bessere seelische Gesundheit.

Eine andere Studie kam zu dem Schluss, dass Spiritualität oder Religiosität allgemein für Menschen mit chronischen Erkrankungen Linderung ermöglichen könnten, sie insbesondere dabei unterstützen, Bedeutung zu verleihen, Zuversicht zu bewahren und eine Gefühl von innerem Frieden zu erleben.

Einige Forscher vermuten, dass für die positiven Auswirkungen insbesondere das Eingebundensein in ein religiöses System positive Auswirkungen hat.

Die britische Mental Health Foundation kommt zu dem Schluss, dass Spiritualität vor allem dann hilfreich sein könne, wenn sie die persönliche Selbstermächtigung unterstütze, Vielfalt bekräftige und umarme, und die Wichtigkeit von Hoffnung, Vergebung und Sinnhaftigkeit unterstreiche.

30. Die eigene schöpferische Kraft stärken durch Kontakt zur Natur

Eine mögliche Erfahrung für Selbstermächtigung kann es sein, uns nicht nur als Teil der Schöpfung zu erleben, sondern uns selbst als zutiefst schöpferische Wesen zu erfahren.

Überall auf der Erde wo Menschen leben ist Kultur entstanden, und aus dem schöpferischen Wirken erwuchsen (und tun dies heute noch) kulturelle Elemente, Kulturgüter und Schätze, wie Lieder, Geschichten, Poesie, Gegenstände, Kunstwerke, Kochrezepte, Rituale und Bräuche.

Auch die Art und Weise, wie wir Orte gestalten, Pflanzen kultivieren, Behausungen bauen und Räume einrichten, technische Geräte erfinden oder neue Methoden um dies und jenes zu vollbringen entwickeln und verfeinern sind möglich durch unseren Erfindungsgeist und die Fähigkeit, immer wieder Neues hervorzubringen.

Und kreativ sein tut uns gut:

Eine Studie mit jungen Studierenden in der Woche vor ihren Abschlussprüfungen zeigte, dass selbst eine kurze schöpferisch-künstlerische Tätigkeit ihre Anspannung und Ängstlichkeit gravierend verbessern konnte (verglichen mit einer Kontroll-Gruppe, die in der Zeit keine Kunst betrieben).

In Interviews mit Menschen die kreative Berufe ausüben wurde festgestellt, dass Natur sich bestärkend auf deren Kreativität auswirke, vor allem in den ersten beiden Phasen eines schöpferischen Prozesses, nämlich der Vorbereitung und der Inkubation (dem Ausbrüten der Inspiration.)

Auch die Verknüpfung von künstlerischen Aktivitäten und Natur konnte in Studien als deutlich unterstützend für das seelische Wohlbefinden von Menschen erprobt werden, die sich in psychologischer Behandlung befanden.

In den USA gibt es einen Test, um das kreative Potential einschätzen zu können, wobei gemessen wird, wie viele Einfälle die Personen zu assoziativen Fragen haben. Studierende, die ihren Test nach vier Tagen Outdoor-Zeit machten erreichten 50% höhere Ergebnisse als die Kontrollgruppe, die vor der Wandertour getestet wurden.

Kreativität lebendig halten

Viele Forschende gehen davon aus, dass Kreativität nicht im Laufe des Lebens erlernt wird – sondern vielmehr verlernt.

1968 starteten George Land und Beth Jarman eine Langzeitstudie, für die sie 1.600 5-jährigen einen Kreativitätstest machen ließen – welcher von der NASA genutzt wurde, um innovative Ingenieur*innen und Wissenschaftler*innen zu finden. Das erstaunliche Ergebnis war, dass 98% der Kinder als „hoch kreativ“ abschnitten.

Dieselben 1.600 Kinder wurden im Alter von zehn Jahren erneut getestet – diesmal erreichten nur noch 30% von ihnen den „hoch kreativen“ Bereich und mit 15 Jahren schaffen es nur noch 12% von ihnen.

Das Ergebnis wurde mit dem von 280.000 Erwachsenen verglichen, die den Test auch absolviert hatten, und von denen nur 2% als „hoch kreativ“ abgeschnitten hatten.

Was ist eigentlich Kreativ?

Beim Begriff Kreativität denken viele Menschen erst einmal an Malen, Basteln oder andere Formen von künstlerischem Ausdruck.

Dabei kann alles was wir erschaffen von Kreativität getränkt sein: Das Essen, das wir kochen, die Art und Weise wie wir Geschirr abspülen, unseren Garten bestellen, unserer beruflichen Tätigkeit nachgehen, welche Projekte und Initiativen wir in die Welt bringen und auch wie wir innerhalb der schon existierenden Projekte und Lebenskontexte uns verhalten.

Wenn wir uns mit der Natur verbinden, können wir einen Zauber darin entdecken, wie besonders jedes Wesen ist (zum Beispiel die vielgestaltigen Insekten!) und wie einzigartig sein Beitragen zur gesamten Lebensgemeinschaft ist.

Neben dem inneren Zustand von entspannter Aufmerksamkeit, den uns das draußen sein ermöglichen kann, sind wir umgeben von zahllosen Türchen hinter jeder von denen Inspiration auf uns wartet, die uns nicht nur in Staunen und Ehrfurcht versetzen könnten, sondern auch anregend auf unsere Kreativität sind.

Menschen waren schon immer kreativ

Selbst in den ältesten menschlichen Kulturen, bei Jäger und Sammler Völkern, spielt Innovation eine große Rolle – was sicherlich ein Hauptgrund dafür ist, dass sie auch in den unwirtlichsten Gegenden der Erde leben, gedeihen und die Fruchtbarkeit und Artenvielfalt der Landschaft erhalten können. Immerhin findet sich 80% der Biodiversität der Erde in den nur 25% der Landmasse ausmachenden Regionen, die von indigenen Völkern bewirtschaftet werden.

Forschende beschreiben, dass Jäger-Sammler-Kinder vorwiegend durch selbstbestimmtes Entdecken lernen würden, durch Spiel und Ausprobieren von immer neuen Möglichkeiten, wobei Gleichaltrige und Erwachsene auch Wissen weitergäben – was beste Voraussetzungen für innovatives Verhalten seien.

Meine Erfahrung im Bezeugen von Naturhandwerks-Projekten ist, dass egal ob wir Rasseln bauen, Löffel schnitzen oder Körbchen flechten – die Natur mit ihrer ungeheuren Vielgestaltigkeit (auch in den verwendeten Materialien) unserer eigenen Kreativität kräftig unter die Arme greift!

Denn jedes einzelne gefertigte Ding, egal sogar wie viel Unsicherheit, Frust und Zweifel im für viele Menschen ungewohnten Herstellungsprozess durchlebt wurden, ist am Ende ein faszinierendes Unikat, einfach etwas ganz Besonderes – so wie die Person, die es gemacht hat.

31. Besondere Begegnungen in der Natur

Wenn wir unsere Verbindung zur Mitwelt nähren und stärken, stellen wir die Weichen für besondere Begegnungen, die überraschend un unvergesslich sein können. Nicht selten geschehen sie in Momenten, wenn Menschen sie auch gerade dringend gebrauchen können.

Es kann eine Gipfelerfahrung werden, wenn sich ein Schmetterling auf mich setzt, oder eine Biene mich besucht, oder der Wind in genau dem „richtigen“ Moment auffrischt und mir deutlich übers Haar streicht, oder ein fast unmerklich zarter Regen in winzigen Tropfen mein Gesicht benetzt.

Und manchmal passieren Ereignisse, die so ungewöhnlich oder besonders erscheinen, dass sie kaum zu glauben sind: Ein wilder Iltis beschnuppert uns, ein Mauswiesel hüpft uns auf den Schoß, ein Fuchs oder Reh legen sich im Wald ganz nah bei uns schlafen, wir spüren den Flügelschlag eines Vogels auf der Haut, seine Federn die uns im Vorbeifliegen berühren, oder ein Dachs läuft auf seinem Weg dreist mitten unter unseren Beinen hindurch…

Solche Geschichten können zu lebenslangen Erinnerungen werden, die dem draußen Sein und unserm gesamten Leben einen gewissen Zauber verleihen können.

Es sind Erlebnisse, die wie Schätze funkeln, von vielen Menschen auch wie Schätze gehütet werden und uns in Momenten wo wir uns einsam und verlassen fühlen helfen können, eine sanfte Wärme zurück in unser Bewusstsein zu holen, verbunden mit der Erinnerung daran, dass uns einmal so viel Glück zuteil wurde – und vielleicht schon bald wieder wird.

Auf die Verbindung kommt es an  

Je näher ich mich meinen Mit-Wesen fühle, desto stärker wirken die ohnehin wohltuenden Effekte des Draußenseins auf mich. In einer Studie von 2014 wurde für Menschen durch Befragung der Grad ihrer „Nature Relatedness“ ermittelt und dann festgestellt, dass die Personen mit stärkerer Naturverbundenheit deutlich weniger unter Ängsten litten.

Nature Relatedness wird beispielsweise auf folgende Weise ermittelt: Teilnehmende beantworten die Frage: „Wie verbunden bist du gerade mit der Natur?“, indem sie eines von sieben Bildern mit je zwei Kreisen auswählen, wobei einer der Kreise das Wort „Selbst“ enthält, der andere das Wort „Natur“. In jedem Bild sind die beiden Kreise etwas anders zueinander positioniert, stehen vollkommen eigenständig da oder überlappen einander, das letzte Bild symbolisiert dabei ein vollständiges Verbundensein („interconnectedness“) von Natur und Selbst.

Eine Beziehung zur Natur scheint es wahrscheinlicher zu machen, dass Menschen überhaupt rausgehen und Grünräume besuchen – und das draußen sein wiederum kann unser Gefühl, in Beziehung mit der Mitwelt zu sein verstärken.

Miles Richardson und die von ihm begründete Nature Connectedness Research Group in Großbritannien erforschen seit dem Jahr 2000 die Auswirkungen einer bewussten Verbundenheit mit der Natur.

Bewusstseins-Zustand für das Inter-Verbundensein

In einem Artikel über ihre Arbeit wird Naturverbindung („Connectedness with Nature„) als ein „fortdauernder Bewusstseinszustand, welcher miteinander verknüpfte kognitive, affektive und erfahrungsbasierte Merkmale aufweist, die gekennzeichnet sind durch konsistente Einstellungen und Verhaltensweisen eine nachhaltige Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für das Inter-Verbundensein zwischen dem eigenen Selbst und dem Rest der Natur„.

In der Auswertung von 50 Studien, in die über 16.000 Menschen einbezogen wurden, haben sie nachweisen können, dass Naturverbindung unter anderem zwei ganz grundlegende Aspekte zum Glücklichsein verstärke: Eudaimonie (eine tiefe Freude, die sich bei sinnhaftem Wirken einstellt), und ebenso auch ein stärkeres Erleben von persönlichem Wachstum.

Gemeinsam mit vielen anderen Organisationen in Großbritannien haben sie einen nationalen Indikator für Naturverbindung entwickelt, den Nature Connectedness Index.

Für Menschen in städtischen Lebensräumen stellten sie für eine weitere Studie eine App zur Verfügung, die mehrmals täglich Impulse gab, im jeweiligen Moment etwas von der Natur in der Stadt und das Gute daran bewusst wahrzunehmen.

In einer begleitenden Studie konnte gezeigt werden, dass sowohl direkte, als auch über den Zeitraum eines Monats fortdauernde Verbesserungen für seelische Gesundheit und Wohlbefinden für die teilnehmenden Personen erreicht werden konnten.

Für mich weisen die Ergebnisse der Nature Connectedness Forschungen darauf hin, dass all die ohnehin positiven Effekte des Natur-Kontakts vielleicht umso intensiver wirken, je stärker wir uns Natur mit unserer Mitwelt verbunden fühlen und uns dessen gewahr sind, dass wir selbst ein Teil davon sind.

Gut für alle!  

Das wunderbarste ist vielleicht, dass all das, was uns also so richtig gut tut, ganz klar auch den „anderen“ nutzt. Von Teilnehmenden in einer Studie die sogenanntes „Umweltwissen“ erwarben, also neue Informationen darüber, was der Natur nutzt oder schadet, ließen sich nur 2% der Personen davon so beeindrucken, dass sie ihr umweltschutz-relevantes Verhalten dadurch veränderten.

Wuchs jedoch ihre Verbindung zur Natur, waren ganze 69% der teilnehmenden Menschen bereit, ihr Alltagsverhalten zugunsten des Umweltschutzes zu verändern.

Naturverbindung wurde somit als ein verlässlicher Vorbote für verantwortungsvolles Umweltverhalten beschrieben.

 

Lerne andere Menschen auf ihrem Lern- und Lebensweg zu begleiten:

 

Die Empfehlungen in diesem Text ersetzen keine therapeutische Begleitung.

Wenn du das Gefühl hast, unter Angstzuständen, Depressionen oder anderen schwer auszuhaltenden seelischen Zuständen zu leiden – wisse, du bist nicht allein!

Hilfe bekommst du bei zugelassenen Psychotherapeut*innnen, beispielsweise den hier im Verzeichnis aufgeführten Personen, vielleicht auch in deiner Region: https://www.somatic-experiencing.de/traumatherapeuten-finden/

 

genährt sein

…aufgeschrieben von Maya Mahn.

Gerade empfinde ich fast jede Mahlzeit als ekstatisch: Die Lebens-Kräfte dieses Landes und seiner Wesen zergehen exquisit auf meiner Zunge und strömen oxytocin-gefüllt hinunter in meinen Bauch, bis mir von innen her ganz warm und wohlig wird.

Alles, was ich zur Zeit esse, stammt aus meiner unmittelbaren Umgebung, aus der Landschaft, zu der ich gehöre. Ich fühle mich genährt, auf einer viel tieferen Ebene als es ein bloß voller Bauch tut. Ich bin verwoben mit dem Netz des Lebens. Ich weiß um die Freuden der Bauern, um das Herzblut der Gärtnerin. Ich weiß, dass heute vielleicht der Giersch hinter dem Haus schon genügend Blättchen getrieben hat, dass ich mir ein paar nehmen kann. Ich weiß, dass die kleinen Teller für die Ahnen, die ich an das Land zurück schenke, gleich schon verzehrt sein werden und das Gewebe weiter nähren. Das sozial-ökologische Gewebe trägt mich und ich bin Teil seiner Stabilität.

Schon vor einigen Jahren habe ich mich während der Fastenzeit komplett lokal ernährt, als „Loca-vore“ sozusagen, oder auf deutsch vielleicht einfach: Lokal-Köstler*in. Das hat mir sehr viel Freude bereitet – nie zuvor habe ich über eine so lange Zeit bei jeder einzelnen Mahlzeit eine solch tiefe Dankbarkeit gespürt, die mich ganz warm von innen gestreichelt hat: Mein Zuhause ernährt mich wirklich! Jedes Vitamin meint wirklich mich!

Ich habe mich sehr getragen gefühlt vom Land, wunderschöne Kontakte zu „meinen“ Produzenten aufgebaut und mich tiefer mit den Frühlingskräutern verbunden. Ich habe tiefere Wurzeln schlagen können an meinem Ort und meiner lokalen Gemeinschaft. Und gerade sind wir alle mehr zuhause, wie viel Sinn macht es dann, die Wurzeln dort zu unterstützen?

„Jeder Bissen den wir essen ist die Erde und ihre Geschichte,
die unsere Zellen und unser Blut wird.“

– Vandana Shiva

Gleichzeitig passiert auch ganz Gegensätzliches – wir leben in Pandemie, Klimakrise und sozialer Spaltung. Die Zeiten sind zermürbend, anstrengend, auch beängstigend. Oft fühle ich mich allein, getrennt. Umso mehr braucht mein Genährt Sein Aufmerksamkeit und Zuwendung. Wenn ich in den Tiefen genährt und ganz ausgefüllt bin, kann ein wenig mehr davon überfließen zu anderen Wesen. Mein Genährt Sein braucht starke Wurzeln, die auch und gerade in dieser Verunsicherung tragen.

“Was wir mit der Leere machen, sind all die ‚Ismen‘ (…). Patriotismus, Nationalismus, Kapitalismus, Rassismus. All diese ‚Ismen‘ sind Versuche, die Leere mit etwas zu füllen, weil die Leere unerträglich ist. Wir können die Leere nicht ertragen, also reparieren wir an ihr herum.

Wir vernachlässigen dabei das, was ich als primäre Bedürfnisbefriedigung bezeichne, nämlich die tief sättigenden Schlüssel-Erfahrungen, die sich im Laufe unseres langen evolutionären Prozesses entwickelt haben: Freundschaft und Rituale, gemeinsames Singen, gemeinsame Mahlzeiten, das Zusammensein unter den Sternen, das Hören von Geschichten am nächtlichen Feuer, das Sammeln von Holz, gemeinsames Trauern, gemeinsames Feiern. Dies alles ermöglicht für uns die Befriedigung primärer Bedürfnisse, und fast nichts davon existiert mehr.

Wir stützen uns kulturell stattdessen auf sekundäre Bedürfnisbefriedigungs-Versuche, wenn uns suggeriert wird, es wäre hilfreich, nach Macht, Stärke, Reichtum, Privilegien, Hierarchie, Rang, usw. zu streben.

Auf der persönlichen Ebene sind Süchte aller Art Versuche, etwas in dieses Loch im Kern unseres Lebens zu stopfen, weil die Leere sonst unerträglich ist. Doch wie du weisst, kann man als Süchtiger nie genug von dem bekommen, was man nicht braucht.”
– Francis Weller

 

Wie du diese grundlegenden Lebens-Fragen für dich beantwortest, macht nicht nur für dich persönlich einen Unterschied, sondern auch für die Welt im Großen und Ganzen:

Was nährt dich wirklich?

Wie kannst du gut für dich sorgen, auch wenn die Welt sich wandelt?

Wie kann dein Getragensein vom Netz des Lebens und dein Halten und Unterstützen dieses Netzes noch lebendiger werden?

Sei eingeladen zum “Genährt Sein in Wandelnden Zeiten”, wo wir in einem warmen und nährenden Raum in Zoomlandia (das bei uns allen zu Hause liegt), dem auf die Spur gehen, was es für uns braucht, um uns genährt zu fühlen.

Wir werden unsere Gestaltungskraft und -kompetenz entwickeln und uns miteinander verbinden – und so gegenseitig, miteinander, gleichzeitig unsere Wurzeln beim wachsen unterstützen. Wenn du magst, kannst du hier mehr dazu lesen und dich anmelden: Genährt Sein in Wandelnden Zeiten

Amélie Mehru, die im letzten Jahr in unserem Kurs ihrem Genährt Sein auf der Spur war, hat dabei ein Lied gefunden, von dem du hier kosten kannst: 

Es ist nichts mehr so, wie es war.

Mögen wir all das Neue, das da kommt, aus unserem genährten Selbst heraus mit-gestalten!

 

demut

…eine kleine Sammlung zur Demut, aufgeschrieben von Elke Loepthien

Demut ist eine Art Meister-Tugend – wenn Menschen sie entwickeln, kann sie andere Tugenden herbeiführen“, schreibt der Tugend-Forscher Everett Worthington.

Zur Demut gehören laut ihm und anderen Autor*innen Eigenschaften und Verhaltensweisen wie:

  • ein Gewahrsein unserer persönlichen Stärken und unserer Schwächen, ebenso eine Bereitschaft, zu diesen Schwächen zu stehen während wir daran arbeiteten, sie besser zu machen.
  • die Überzeugung, dass andere Menschen ganz genauso gut und wertvoll sind wie ich selbst, die sich auch darin zeigt, wie ich mich selbst darstelle.
  • eine Offenheit dafür, dass noch unbekannte, ganz neue Informationen möglich warten könnten, die meine Sichtweisen vielleicht sogar verändern.
  • ein aufrichtiger Fokus auf dem Wohlbefinden der Menschen um mich herum und die Bereitschaft, ihnen und ihren Ideen zuzuhören.
  • Wertschätzung für die Stärken und Beiträge von anderen.
  • ein Interesse an Ratschlägen und Feedback.
  • kein rücksichtsloses Erteilen von nicht hilfreichen Ratschlägen und Feedback an andere.
  • Bereitschaft, Verantwortung für meine eigenen Fehler zu übernehmen und diese wiedergutzumachen.
  • Ein Fehlen von arroganten oder überheblichen Verhaltensweisen, Stolz und narzisstischem Anspruchsdenken
  • Wahrhaftigkeit und Einfachheit, Anspruchslosigkeit.
  • keine Neigung dazu, Regeln zu umgehen oder sich durchzumogeln.
  • die Abwesenheit von manipulierenden, gierigen, heuchlerischen oder sich anbiedernden Verhaltensweisen

Demütige Menschen sind körperlich und seelisch gesünder. Sie verhalten sich auch großzügiger, sind hilfsbereiter und dankbarer – was sie attraktiv für andere macht. Außerdem fällt es ihnen leichter, ihre eigenen Impulse bewusst zu lenken und sie überstehen stressige Erlebnisse mit weniger negativen Folgen.

Und Demut kann noch vieles mehr:

Demut ist schlau und macht noch schlauer

In einer Studie mit Schulkindern fanden Forscher heraus, dass Kinder, die ihr eigenes Wissen von vornherein als nicht besonders groß einschätzten, allgemein eine höhere Punktzahl im Intelligenztest erreichten. Die Kinder, die in einem kooperativen Spiel dazu tendierten, Fragen an andere weiterzugeben (ein Indikator für größere Demut), achteten insgesamt mehr auf ihre eigenen Fehler oder waren sich stärker darüber bewusst, wenn sie einen Fehler gemacht hatten.

Indem wir unsere Fehler reflektieren, statt sie zu ignorieren oder zu verleugnen, können wir auch unser Scheitern in eine Gelegenheit zu lernen verwandeln.

Eine andere  Studie kam zu dem Schluss, dass demütigere Schüler mehr Lust aufs Lernen hatten, von ihren Lehrern als wissbegieriger wahrgenommen wurden, und effektivere Strategien nutzten, um ihr eigenes Verständnis zu verfeinern, zum Beispiel indem sie sich selbst prüfende Fragen stellten.

 

Demut statt Verblendung

Demutsvolle Rücksicht ist das ziemliche Gegenteil von Theorien die davon ausgehen, dass unser eigenes Leben makellos wird, sobald wir uns nur auf Licht und Liebe konzentrieren. Wann immer wir so einem Irrglauben verfallen, können wir nicht mehr wahrnehmen, was unser eigenes Handeln eventuell für Schaden anrichtet.

Wenn wir die oft schmerzhafte Auseinandersetzung mit unseren eigenen Schwächen und Problemen zu vermeiden versuchen, indem wir uns die Ursache für unsere Schwierigkeiten im Alltag und in unseren Beziehungen primär über spirituelle oder magische Konzepte erklären, verfallen wir Spiritual Bypassing – dem aussichtslosen Versuch dem eigentlichen menschlichen Leben, das voll von Schattenseiten und Schwierigkeiten ist, zu entgehen und lieber gleich zu Engeln zu werden.

Betrachten wir die Welt von ganz weit oben durch die verzerrte Brille solch einer demutslosen Überzeugung, kann das im schlimmsten Fall zu der tragischen Einstellung führen, dass Menschen, denen Schreckliches widerfahren ist, auf irgendeine Weise selbst daran schuld sein müssen – und wir selbst somit keinerlei Verantwortung dafür tragen oder unterstützend eingreifen könnten. Dabei steht es heute vielmehr an, sich mit den eigenen, oft über Jahrzehnte oder Jahrhunderte entstandene und verstärkte Privilegien auseinanderzusetzen, aufgrund derer viele von uns hier mitten in Europa in eine machtvollere Stellung innerhalb der Gesellschaft quasi hineingeboren werden und von der fortbestehenden, subtilen oder offenen Unterdrückung anderer profitieren.

Demütig auf unsere gesellschaftliche Situation zu schauen bedeutet auch, anzuerkennen, dass mir selbst die vielen Ressourcen, auf die ich zugreifen kann, nicht mehr (oder weniger) zur Verfügung stehen, als allen anderen, weil alle Menschen gleichwürdig sind und dasselbe Recht auf die Versorgung ihrer Lebensbedürfnisse haben (sollten) wie ich selbst.

Es hilft mir auch, mein eigenes Handeln darauf auszurichten, dass dies in Zukunft mehr gelingen kann, indem ich meine Privilegien (wie ausreichend finanzielle Mittel, die Möglichkeit, auf der politischen Ebene Einfluss zu nehmen oder den Zugang zu Wissen und Bildung) bewusst und aktiv mit denen teile, die ohne dies keinen oder nur begrenzten Zugriff darauf haben.

Es bedeutet, nicht blindlings als erste über die Zielgerade zu sprinten, sondern mich umzusehen, Rück-Sicht zu üben und dafür zu sorgen, dass ich andere ein Stück weit mitnehmen kann.

Mit Demut Brücken bauen

Nicht nur zwischen den politischen Ansichten der Menschen rund um den Umgang mit dem Corona-Virus haben sich tiefe Meinungs-Klüfte aufgetan, verstärkt durch die einseitigen News-Blasen in denen sich die viele Menschen aufgrund der Algorithmen von Facebook & Co bewegen (dank derer sie immer nur mehr von denselben Meinungen und Erklärungsmodellen vorgesetzt bekommen).

Innerhalb persönlicher Beziehungen scheint auch hier bei uns ein Trend dahin zu gehen, gar nicht mehr über streitbare politische Fragen miteinander zu sprechen, wie es sich im extrem in den USA beobachten lässt.

Dabei ist eigentlich ganz klar, das fast alle schwerwiegenden Probleme die direkt vor uns liegen, sich nur lösen lassen werden, wenn wir zusammenhalten – egal ob in der Familie oder global als gesamte Menschheit.

Viele Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass Demut hilfreich dafür sein kann, auch angesichts vordergründiger politischer Differenzen in Verbindung zu bleiben und gemeinsame Wege finden zu können. Demut erleichtert es uns, über unsere eigenen Kampf- oder Flucht-Impulse, die nicht selten durch die Konfrontation mit einer anderen politischen Sichtweise in unserem Nervensystem ausgelöst werden, hinaus zu wachsen. Demut ermöglicht es, trotzdem zuzuhören und dabei auch wirklich Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, auch wenn wir unsere Meinung bereits gebildet hatten.

Denn tatsächlich liegen wir oft falsch mit unseren Vermutungen darüber, was in einem anderen Menschen vorgeht, und wir wären meistens gut beraten, statt unserem ersten Eindruck zu glauben, lieber nachzufragen und wirklich zuzuhören. 

Demut schärft die Wahrnehmung

Unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit ist zumeist verzerrt zugunsten dessen, wovon wir überzeugt sind, und wird zudem von vielen anderen vorübergehenden Faktoren stark beeinflusst, wie immer mehr Studien eindrücklich beweisen. Anzuerkennen, dass unsere Sicht und unser Verständnis begrenzt sind: auf die Welt, das Leben und die Situation in der wir uns jetzt gerade gesellschaftlich befinden, ist deshalb ein wichtiger Gedankenschritt, der immer wieder erinnert werden will.

Demut hilft uns auch dabei, die Menschlichkeit in „denen“ von der anderen Seite weiterhin zu erkennen – was uns als Menschen zunehmend schwer fällt, wann immer wir uns in einer Situation finden, in der es „die anderen“ gibt. Entmenschlichung fällt oft erst dann auf, wenn sie Verbrechen nach sich zieht, ist aber auch im Alltagsleben vorhanden, als ein oft nicht bewusster Aspekt von Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit. 

Tugend-Forscher Worthington sagt, dass es demütigen Menschen leichter fiele, Gespräche über kontroverse Themen zu führen, sogar wenn sie selbst klar eine entgegengesetzte Meinung vertreten würde, einfach weil sie die Argumente ihres Gegenübers nicht belächeln oder den anderen Menschen für seine Gedanken verachten würden, so dass diese Person sich weniger verteidigen müsse, sondern es zu einem gemeinsamen Austausch kommen könnte.

Demut macht uns freundlicher

In einer Studie über „soziopolitische intellektuelle Demut“ wurde festgestellt, dass Menschen mit mehr Demut diejenigen mit anderen politischen Meinungen besser behandeln und weniger feindselig ihnen gegenüber sind.

Demütigen Menschen fiele es leichter, anzunehmen, die andere Seite könnte Erfahrungen gemacht haben oder über ein Wissen verfügen, dass ihnen selbst fehle und ihre Sichtweise verändern könnte. Im Gegensatz dazu glaubten Menschen mit weniger Demut häufig, diejenigen mit einer anderen Meinung wären weniger intelligent, kriminell oder es fehlte ihnen an Werten. Inwieweit jemand die eigene Position als unfehlbar ansähe, wäre entscheidend dafür, wie sehr diese Person dazu bereit sei, die jeweils „anderen“ zu dämonisieren, sagt Brian Newman, der die Studie mit geleitet hat.

In einer anderen Studie wurde gezeigt, dass religiöse Anführer mit mehr Demut wesentlich toleranter gegenüber anderen Religionen sind, egal was ihre eigentliche Religion war oder ob sie sich politisch den Konservativen oder den Liberalen zuordneten.

“Wenn du dir der Beschränkungen in deinem eigenen Glaubenssystem bewusst bist und dich erinnerst, wie du zu deinen Überzeugungen gekommen bist, dann bist du vielleicht dem Gedanken weniger abgeneigt, dass du nicht über die ganze Wahrheit verfügst“, sagt Joshua Hook, Co-Leiter der Studie.

Demütige Führungskräfte sind die Besseren

Im Wallstreet Journal wird Demut als die allerwichtigste Charaktereigenschaft für Führungskräfte benannt.

Auch Bill Taylor schreibt im Harvard Business Review, dass demutsvolle Leader ganz klar und erwiesenermaßen wesentlich mehr bewegen, als arrogante dies tun.

Er zitiert eine Gruppe von IBM Mitarbeiter*innen: „Die allermeisten Menschen, die die Welt verändern, sind demütige Leute. Sie konzentrieren sich auf die Arbeit, nicht auf sich selbst. Sie streben nach Erfolg – sind strebsam – aber wenn er eintritt, sind sie bescheiden… Sie glauben von sich selbst, dass ihnen Glück zuteil wurde, nicht, dass sie selbst sehr mächtig wären.“

In schwierigen Situationen handeln demütige Führungskräfte nicht vorschnell, tun nicht so, als hätten sie immer alle Antworten, sondern wissen, dass ihre Aufgabe vorrangig darin besteht, im richtigen Moment die richtigen Menschen zu ermächtigen.

Ihre Arbeit führe dazu, dass die von ihnen geleiteten Teams besser zusammenarbeiteten, viel mehr schafften und schneller lernten. Während viele Jahre lang deshalb die Anerkennung hauptsächlich die Mitarbeitenden erreiche, werde jetzt deutlicher, welche Bedeutung die Demut der Teamleitenden für die Erfolge hat. Sie bereiteten den Boden für eine Kultur der Fehler-Freude, wo alle Beteiligten frei heraus Ideen äußern, offene Fragen stellen, ihr Nicht-Wissen leichtherzig zugeben und gemeinsam nach Lösungen suchen.   

Im Rekrutierungssektor gibt es deshalb inzwischen Tests die eigens dafür gemacht sind herauszufinden, wie viel Demut die sich bewerbende Person mitbringt. Einer der Entwickler dieses Tests, Ryne Sherman sagt: „Die meisten Leute glauben, Führungskräfte sollten charismatisch sein, gern im Mittelpunkt stehen und andere von sich überzeugen. Aber solche Personen ruinieren ihre Firmen oft, denn sie nehmen sich mehr vor, als sie händeln können, sind überheblich und hören nicht auf das Feedback von anderen.“

In seinem Buch beschreibt Tom Porter, ein ehemaliger Chief der Mohawk-Nation, dass für Führungspositionen innerhalb ihrer Kultur niemals Menschen ausgewählt wurden, die von sich aus gern Anführer sein wollen. Wird dies bei Kindern oder Erwachsenen beobachtet, gilt das automatisch als Ausschlusskriterium, denn in ihrem Verständnis handele es sich bei diesem Hunger nach Ruhm, Einfluss und Macht um eine Art Geisteskrankheit („mental sickness“) – die schlechteste Voraussetzung dafür, eine gute Führungskraft sein zu können.

Demut in der Politik

Leider werden bei uns gesellschaftliche Führungspositionen oft nicht so vergeben, dass machthungrige Menschen dabei ausgespart werden.

Trotzdem wird es immerhin in Wissenschaft, öffentlichem Diskurs, in den meisten Medien und in vielen sozialen Kreisen von vielen Menschen als Wert anerkannt, die eigenen Standpunkte und Überzeugungen in Frage zu stellen und fruchtbaren Austausch mit Menschen zu suchen, die andere Erfahrungen, Herangehensweisen und Meinungen vertreten.

Es ist eine gängige Praxis auch bei uns, intellektuelle Demut zu beweisen, indem gegenteilige Meinungen einander gegenüber stehen, immer wieder neue Aspekte berücksichtigt werden, einmal gefällte Urteile zu hinterfragen und auch von anderen hinterfragen zu lassen.

Doch das allumfassende Ausmaß der Bedrohung, mit der wir als Menschheit gerade konfrontiert sind, zunehmend spürbar auch für uns als vorwiegend weiße Menschen in Europa, eine der meist privilegierten Bevölkerungsgruppen weltweit, kann zu so intensiven Gefühlen von Ohnmacht und Haltlosigkeit führen, dass wir mehr als sonst geneigt sind, unsere Demut zu opfern zugunsten einer (leider irrigen) Gewissheit.

Angesichts von überwältigenden Ereignissen wächst die Sehnsucht danach, Erklärungen dafür zu finden, die uns eine Einfachheit ermöglichen, inmitten von etwas das überhaupt nicht einfach ist, beispielsweise indem darin „Schuldige“ benannt werden, und uns die Theorien damit  erleichternder Weise bestätigen, dass wir selbst auf der Seite der „Guten“ stehen.

So ist es kein Wunder, dass die sogenannten Verschwörungstheorien, wie beispielsweise die Theorien rund um das Leugnen des Klimawandels, aber auch viele andere Themen, gerade jetzt so viel Verführungskraft haben.

Wir Menschen sind „Meaning making Creatures“ – Lebewesen, die ihrer gesamten Umgebung, allen Aspekten ihres Daseins gern einen Sinn, eine Bedeutung verleihen und Muster zu erkennen. Wir bewegen uns was das angeht immer noch wie steinzeitliche Fährtenleser*innen durch die Welt, die aus wenigen sichtbaren Zeichen umfassende, gerade unsichtbare Geschichten ableiten wollen.

Wenn wir nun intellektuell demütig sind (oder wie in der wissenschaftlichen Welt den rigiden Richtlinien für wissenschaftliches Arbeiten folgen, wie beispielsweise Kontrolle durch andere Menschen vom Fach), wird dieser Hunger nach Bedeutungen kombiniert mit allerlei Hinterfragen, Zweifeln, in andere Richtungen denken, nicht glauben, was nicht voll und ganz bewiesen ist und selbst danach trotzdem immer weiter eine grundsätzliche Offenheit bewahren, weil wir uns bewusst sind, dass wir im Grunde erst ganz wenig wirklich wissen.   

Hoch-mütige Theorien

Doch für Verschwörungstheorien ist es eben gerade ein wesentliches Kennzeichen, dass kein Argument, kein Gegenbeispiel, kein Widerspruch innerhalb der eigenen Argumentation, keine neue Entwicklung, egal wie sehr sie von vormals aufgestellten Zukunftsprognosen abweicht, jemals genügt, um die aufgestellte Theorie an sich in Frage zu stellen.

Im Gegenteil: Über Argumentationsschleifen werden alle offenen Fragen beantwortet und alle neuen Entwicklungen dafür verwendet, die Theorie noch weiter zu untermauern (während solche Fragen in der Wissenschaft offen verbleiben und weiterführende Erforschung geradezu einfordern).

Das letzte Jahr hat gezeigt, wie anfällig wir Menschen dafür sind, Verschwörungstheorien zu glauben.

Dafür gibt es viele Erklärungen:

Sie ordnen die Welt in Gut und Böse und lindern damit die unterschwelligen Gefühle von Überforderung angesichts der überwältigenden Komplexität des Seins und unserer weltweit eng verzahnten Gesellschaft, was eine enorme Erleichterung für unsere Psyche schafft, die von Kindheit auf durch Filme und Geschichten darauf wartet, zu wissen, wer die Guten und wer die Bösen sind, um natürlich selbst zu den Guten zu gehören.

Dadurch machen uns Verschwörungstheorien auch unsere Entscheidungen einfach – während wir ohne die Theorie unter Umständen über Jahre oder Jahrzehnte unsere Entscheidungen innerhalb einer komplexen Wirklichkeit, immer wieder ganz neu treffen müssten und mit wenig Garantie dafür, dass die Konsequenzen unserer Entscheidung auch wirklich unseren Werten entsprechen werden. Damit bilden Verschwörungstheorien einen Gegenpol zum Gefühl von Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit, das gerade in Zeiten wie diesen so umfassend sein kann.

Auch wenn Verschwörungstheorien inhaltlich oft komplex bis kompliziert sind, wirken sie auf die Psyche erstmal unter Umständen erleichternd – weil sie emotional einfach sind, denn sie bestärken unsere Sehnsucht danach, auf der Seite der Guten zu sein.

Forschungen zeigen, dass wann immer wir gezwungen sind, viele Entscheidungen zu treffen (wie eben gerade jetzt, wo sich dauernd alle Pläne ändern), eine regelrechte Entscheidungs-Müdigkeit einsetzt, die auch unsere Urteilskraft herabsetzt.

Nur weil sich eine Theorie gut anfühlt muss sie nicht gut sein

Verschwörungstheorien können zudem dank ihrer skurrilen Verknüpfung von Allem mit Allem auch Glückshormone in uns auslösen, weil die darin enthaltenen Querverbindungen uns Aha-Momente bescheren. Wenn wir zwei Punkte auf eine bedeutungsvolle Weise verknüpfen und eine neue Erkenntnis haben, schüttet unser Körper Dopamin aus (das Belohnungshormon, das auch eine Rolle bei vielen Süchten spielt). Kinder erleben diese Belohnung andauernd in ihrem Alltag, Menschen die in ihrem Alltag Spuren und Zeichen lesen vermutlich auch.

Doch in einem durchschnittlichen Alltags-Leben zwischen Abwasch und Müll rausbringen kommt der Lern-Kick wohl meist etwas kurz, und wer schon mal wissenschaftlich gearbeitet hat weiß, wie langwierig und mühselig und über lange Strecken nicht besonders dopamin-reich es ist, innerhalb der strengen Richtlinien der Wissenschaft zu nachvollziehbaren und plausiblen Erkenntnissen zu gelangen.

Zu all dem noch dazu kommt: Ein Faktor für das sich Ausbreiten von Theorien im Allgemeinen ist die Wiederholung: Wir neigen dazu, etwas richtiger zu finden, einfach wenn wir es immer wieder hören. Wenn ich nun vielleicht nur einmal am Tag Nachrichten höre, aber zehn mal am Tag verschwörungstheoretische „Informationen“ über die sozialen Medien bekomme, wird es zunehmend schwieriger, denen nicht irgendwie doch mehr zu glauben.

Doch der Mangel an intellektueller Demut, der allen Verschwörungstheorien innewohnt, kann ein wichtiges Erkennungszeichen für uns sein – wenn wir darauf achten, können wir sie leichter identifizieren. Und die damit verbundene fehlende tatsächliche Neugier und Offenheit erklärt vielleicht auch, warum echte Verschwörungen im Laufe der Geschichte, von denen es auch jetzt hier und heute ganz große gibt, eben nicht von Verschwörungstheoretikern aufgedeckt werden, sondern zumeist von Journalisten, aufgrund von staatlichen Prüfungen oder durch Whistleblower innerhalb von Organisationen.

Nährboden für Gewalt

Das vielleicht schlimmste an Verschwörungstheorien ist, dass ihnen zu glauben unter Umständen nicht folgenlos bleibt. Vielmehr haben sie in der Geschichte schon oft den Nährboden für Extremismus und Gewalt bereitet, wie die zahlreichen antisemitischen Verschwörungsgeschichten zeigen, die ab dem 7. Jahrhundert auftauchten.

Diese wiesen (und tun dies oft heute noch) fälschlicherweise die Ursache für alle möglichen politischen, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Phänomene einer Verschwörung jüdischer Menschen gegen den Rest der Welt, u.a. das Auftreten der Pest oder die Einführung einer Pocken-Impfpflicht 1847 durch Bismarck (um weitere Ausbrüche der verheerenden Krankheit zu verhindern, an der weltweit viele Millionen Menschen starben, einigen Schätzungen zufolge zwischen 50-90% der ursprünglichen Gesamtbevölkerung Nordamerikas).

Meines Erachtens spielte der Glaube an die massenhaft in allen Bevölkerungsschichten verbreiteten antisemitischen Verschwörungsmythen eine wichtige Rolle. Er bildete den Nährboden für die beispiellose Gewalt des NS-Regimes gegen jüdische Menschen und führte dazu, dass unzählige Deutsche sich völlig im Recht fühlten, wenn sie gewalttätig wurden oder die überall präsenten Formen spontaner und institutionalisierter Gewalt widerspruchslos duldeten.

Auch heute zeigt sich, dass die gängigen Verschwörungsgeschichten zur Corona-Pandemie bereits sehr deutlich mit einer sich verstärkenden Gewaltbereitschaft verknüpft sind und als Begründungen und Rechtfertigungen für diverse Gewalttaten genannt werden.

Dabei sähen sich die Anhänger*innen der Querdenken-Bewegung laut einer Studie für Baden-Württemberg tragischerweise selbst als nüchterne Ex­per­t:in­nen und mutige Widerstandskämpfer:innen“ oder gar als „Eingeweihte, geradezu als Erwählte, die auch angesichts gesellschaftlicher Ächtung, Stigmatisierung und Repression an ihrer Expertise festhalten“.

 

Also ich bin ganz besonders demütig!

Wissenschaftler ermitteln den Grad der Demut eines Menschen aus naheliegenden Gründen nicht anhand von Selbstauskünften. Trotzdem ist sie nicht gleichzusetzen damit, wie gering wir unsere eigenen Fähigkeiten bewerten. Der frühere Erzbischof William Temple beschrieb es so: „Demut bedeutet nicht, dass du dich selbst als weniger wert schätzt als andere Menschen, oder dass du die eigenen Gaben für unwichtig oder nutzlos hältst. Sie meint vielmehr die Freiheit, überhaupt gar nicht über dich selbst nachdenken zu brauchen.“

Tatsächlich erzählt der Psychologe Kibeom Lee, dass viele Menschen gerade im Arbeitskontext, so tun als ob sie demütig wären, obwohl sie es eigentlich gar nicht sind. Das verwundert nicht, denn sogar Kinder zeigen ab einem Alter von etwa sieben Jahren in Versuchen ganz klare Vorliebe für tatsächlich demutsvolle Menschen gegenüber weniger demütigen Personen, spüren also einen Unterschied, auch wenn sie ihn vielleicht noch nicht in Worte fassen könnten. 

Es lohnt sich also wirklich, für uns selbst und für unser Wirken für die Welt, die wunderbare Qualität der Demut tatsächlich zu stärken und uns darin zu üben, Rücksicht auf unsere Mitmenschen (und Mit-Welt) zu nehmen.

 

Wie können wir Demut in uns selbst stärken?

 

In den bisherigen Studien haben folgende Methoden dabei geholfen, die eigene Demut zu vergrößern:

 

1. Das eigene Mensch-Sein umarmen

Viele von uns hängen unser Selbstwertgefühl an äußere Umstände und Erfolge – wenn wir dann in unserem Job oder unserer Partnerschaft scheitern, können wir uns selbst nicht mehr so leicht als überhaupt wertvoll anerkennen.   

Demutsvolle Menschen dagegen verorten ihren Wert in und mit ihrem gesamten Dasein als Mensch, einschließlich aller Schwächen und Probleme. Sie fürchten das Scheitern nicht so sehr, weil sie es für menschlich erachten, und können ihren eigenen Wert als Mensch weiterhin spüren und würdigen.

So eine Art von Urvertrauen in uns selbst entwickelt sich im Idealfall in unserer frühen Kindheit, durch eine sichere Bindung an unsere Bezugspersonen und das Erfahren von bedingungsloser Liebe. Doch auch wenn wir zu den fast 40 Prozent der Bevölkerung gehören, die als Kind keine sichere Bindung erleben konnten, können wir diese Wunde in uns heilen und eine sichere Bindungsbeziehung nachholen, beispielsweise zwischen unserem inneren Kind und unserem erwachsenen Selbst, zu Freunden, innerhalb von Partnerschaft oder auch in der Spiritualität. 

 

2. Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl

Demütige Menschen haben ein stimmiges, sehr ehrliches Selbstbild – sowohl von ihren Schwächen, als auch von ihren Qualitäten und Stärken.

Achtsamkeit trainiert uns darin, alles wahrzunehmen, was in uns vorgeht, ohne es zu beurteilen und dadurch unsere Selbstwahrnehmung zu verzerren. Selbst-Mitgefühl ermöglicht es uns, nicht gegen all das ankämpfen zu müssen, was wir an uns selbst nicht mögen, sondern zu ermöglichen, dass auch diese Anteile liebevoll von uns selbst angenommen werden, einen sinnvollen Platz in uns einnehmen können, und auf diese Weise integriert sind.

Mit einer Praxis freundlicher Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl ermöglichen wir uns selbst eine Vielzahl von dem, was sichere Bindung zu den Bezugspersonen in den ersten Lebensjahren mit sich bringt. Beides hilft uns, seelisch zu heilen und als Mensch vollständiger und integrierter zu werden, das heißt unsere innere Vielfalt zu erkennen und wertzuschätzen, damit daraus ein zusammenhängendes Ganzes entstehen kann, wir Einigkeit finden mit alle unseren inneren Anteilen.

3. Fragen stellen, die Demut fördern

Mit dem liebevollen Blick, den ich durch Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl kultiviere, kann ich mir immer mal wieder Fragen stellen, die mir helfen, meinem Mensch-Sein noch näher zu kommen und vertrauter damit zu werden, insbesondere mit den Seiten an mir, die für mich selbst oder für andere schwer auszuhalten sind:

  • Welche Seiten meiner selbst versuche ich gerade zu verstecken, vor mir selbst oder vor anderen?
  • Wem habe ich unlängst Unrecht oder Leid angetan?
  • Welche Urteile habe ich über andere gefällt?
  • Welche Vorurteile haben mein Verhalten auf eine nicht hilfreiche, eher lebensfeindliche Weise beeinträchtigt?
  • Was habe ich heute gegenüber anderen versäumt, das wichtig gewesen wäre?
  • Worum geht es mir wirklich bei dieser Sache?
  • Wie kann ich mein (ganz natürliches) Bedürfnis nach Anerkennung und Bedeutsamkeit so stillen, dass niemand darunter zu leiden braucht?
  • Wie kann ich die Wichtigkeit und den Wert der anderen Personen würdigen?
  • Wie kann ich einladen, dass die Menschen ihre Meinungen und Ansichten frei heraus mitteilen, sich trauen, mir auch schwieriges Feedback zu geben?
  • Wer könnte dies vielleicht anders sehen und wie kann ich diese Sichtweise einbeziehen, etwas aus ihr lernen?
  • Wer wird alles von meinem Handeln direkt oder indirekt betroffen sein und wie kann ich die Bedürfnisse dieser Personen mit berücksichtigen?
  • Wie kann ich die Bedürfnisse der Menschen (in meinem Team, Kurs etc.) stillen oder sie dabei unterstützen, ihre eigenen Bedürfnisse selbst zu versorgen? 
  • Wie kann ich meine Privilegien nutzen, um mehr Gleichwürdigkeit und Chancengleichheit in der Welt zu schaffen?
  • Und welche noch?

 

4. Dankbarkeit

Wann immer wir darüber nachdenken, wofür wir dankbar sein können, erkennen wir die vielen Aspekte unseres Daseins, die wie ein Geschenk zu uns kommen. Unser Körper findet wie von allein in einen Zustand höherer Kohärenz, einen gesundheitsförderlichen Zustand, durch den alle innerlichen Vorgänge in Einklang miteinander kommen, so dass wir als unser „bestes“ Selbst entscheiden und uns verhalten können.

Was wären wir ohne die Pflanzen, die den Sauerstoff schenken, den wir atmen, ohne die Erde, die aus ihrem Körper Nahrung für unseren Körper wachsen lässt, ohne die vielen vielen Menschen, die durch ihre Arbeit dafür sorgen, dass wir versorgt sind mit dem was wir zum Leben brauchen? Unser Fokus verschiebt sich beim Danken innerhalb von Sekunden vom Nachgrübeln über uns selbst zu mehr Aufmerksamkeit für die Menschen und anderen Wesen um uns herum – was ein wesentliches Kennzeichen für die Baseline demütiger Menschen ist.

Wirklich toll ist: Dankbarkeit und Demut verstärken sich gegenseitig. Wenn wir danken, stärken wir die Demut, und wenn wir demütig sind, fällt es uns leichter, dankbar zu sein und Dank auch gegenüber anderen auszudrücken.

 

5. An Veränderung glauben

Eine weitere wichtige Zutat für Demut scheint es zu sein, daran zu glauben, dass Menschen sich verändern können, indem sie aus ihren Fehlern und Erfahrungen lernen. Diese Einstellung macht es wesentlich einfacher, eigene Fehler für möglich zu halten, sie zuzugeben und Verantwortung für sie zu übernehmen. Denn die Psyche hat Gewissheit, dass dies nicht das Ende der Geschichte ist, sondern vielmehr ein (vielleicht sogar notwendiger) Zwischenschritt in Richtung einer besseren Zukunft.

Wer glaubt, dass nur dumme Menschen Fehler begehen und auf diese Weise nicht veränderbare charakterliche Grundzüge mit Fehltritten verbindet, wird wesentlich schwieriger in der Lage sein, im eigenen Verhalten überhaupt Fehler wahrzunehmen und für diese gerade zu stehen.

 

6. Sich auf das Wohl des großen Ganzen ausrichten

Für Jugendliche, die Sinnhaftigkeit in ihrem Dasein finden, ist bekannt, dass sie sich demütiger verhalten. Dabei scheint es besonders hilfreich, sich auf den eigenen Beitrag zum Wohlergehen der Gemeinschaft auszurichten. Dass ihr eigenes Wirken gebraucht ist, verbindet sich mit der Einsicht, dass sie andere Menschen brauchen, um ihren Lebens- und Lernweg zu beschreiten.   

 

7. Ehrfurcht erleben

Wenn wir dem Wunder des Lebens begegnen, tiefe Ehrfurcht erfahren, fördert das unsere Demut ganz wesentlich. Es gibt viele verschiedene Wege, um mehr Ehrfurcht ins Leben zu holen. Dazu gehören die ganz besonderen Momente in unserer Biografie, beispielsweise zu erleben, wie ein Kind geboren wird oder ein Mensch stirbt, aber auch alltäglichere Situationen, vor allem wenn wir Zeit draußen in der Natur verbringen.

Einen Berggipfel zu erwandern, im Kanu auf einem großen See dahin zu gleiten, die Spiegelung des Sonnenaufgangs in einem Tautropfen zu erblicken, eine Schneeflocke beim Schmelzen zu beobachten, an einem kalten Winter-Tag dem betörenden Gesang der Misteldrossel im Wald zu lauschen, eine Sternschnuppe zu sehen und sich in die große Dunkelheit des Nachthimmels jenseits und zwischen den Sternen hinein zu versetzen – all das kann uns immer wieder daran erinnern, wie klein und unbedeutend wir als Mensch sind, wie zerbrechlich unser eines Leben erscheint, wie wenig wir darüber wissen, und wie sehr wir die anderen Wesen der Lebensgemeinschaft Erde brauchen, um überhaupt existieren zu können.   

Edgar Schein beschreibt in seinem Buch Humble Inquiry, dass wir auch durch die Anwesenheit von Ältesten und Würdenträgern Demut empfinden können, oder bei der Beschäftigung mit Menschen, deren Leben und Leistungen uns mit Ehrfurcht erfüllen. 

 

Rücksicht ist Demut in Aktion

Demut hilft mir, mich selbst nicht übermäßig wichtig zu nehmen, damit ermöglicht sie es mir, meine Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was um mich herum geschieht, was all die anderen Menschen (und anderen Wesen) brauchen, mit denen ich zu tun habe.

Rücksicht kann dadurch entstehen: Wenn ich nicht nur auf das Ziel vor meinen Augen fixiert bin, sondern mich umschaue, in alle Richtungen. Die Bedeutung von Rücksichtnahme für Beziehungen ist immens:

Erst wenn ich es zulasse, dass die Bedürfnisse, Meinungen und ja, vor allem auch die Empfindlichkeiten der anderen Person(en) in meine Entscheidungen einfließen, mein Handeln sich dadurch sogar zugunsten der anderen verändert, hat eine Beziehung gute Zukunftschancen, wie John und Julie Gottmann es in ihren wissenschaftlichen Studien über Paare dokumentiert haben.   

Indem ich Rücksicht nehme beweise ich, dass ich meine eigenen Sichtweisen (über Ordnung, Hygiene, Kindererziehung oder Politik) zwar glaube, sie aber nicht für der Wahrheit einzigen letzten Schluss halte, sondern offen bin für die Lebenswirklichkeit des anderen.

Dabei kann ich im Idealfall Rücksicht von vornherein mein Handeln lenken lassen, oder zumindest im Nachhinein, wenn ich von meinen Mitmenschen höre, dass mein Reden oder Handeln sie verletzt hat, eine Wiedergutmachung finden, um den Bruch in der Beziehung zu heilen und dadurch aus dem Konflikt doch verbundener herauszugehen.

 

Die Gelegenheit nutzen

Unsere Lehrerin Sobonfu Somé hat oft mit einem Schmunzeln erzählt, dass der Begriff für „Älteste“ in ihrer Sprache  (der Dagara in Westafrika) wörtlich übersetzt werden könnte mit „eine Person die vom Leben so lange im eigenen Saft geköchelt wurde, bis sie wirklich schmackhaft ist“. 

Für mich steckt in der Aussage der Hinweis darauf, wie sehr gerade die schwierigsten Lebenssituationen uns dabei helfen können, demütiger zu werden. „Das Leben ist eine sehr lange Lektion in Demut“, sagte James M. Barrie, der Autor von Peter Pan. Doch wissen wir auch, dass schlimme Erlebnisse uns ebenso auch traumatisieren und verbittern lassen können. Was macht hier den Unterschied?

Ich glaube es ist die Verbindung zu jemandem oder etwas, das uns zur Seite steht, etwas Verlässliches, nicht Kaputtbares, das sich uns in den Tiefen unserer Seelenwelt zeigt oder uns durch Trost spendende Mitmenschen begegnet, die an uns glauben. Vielleicht können wir es Liebe nennen, oder (Selbst-)Mitgefühl oder das Göttliche.

Kollektiv betrachtet scheint das Zeitalter in dem wir uns befinden wie gemacht dafür zu sein, als Menschheit unsere Demut zu finden, vor allem wenn wir uns selbst und einander mit Liebe und Mitgefühl begegnen.

Demut ermöglicht die innere Freiheit, authentisch zu sein, weil wir nicht vor uns selbst und vor anderen verstecken müssen, was alles in uns ist, sondern es wahrnehmen, annehmen und dadurch integrieren können. 

Vor allem kann sie uns dabei helfen, nichts vortäuschen zu brauchen, was wir gar nicht (in dem Maße) in uns finden, wie wir es mal von uns selbst erwartet haben – zum Beispiel ewiges Wirtschaftswachstum inmitten einer Welt endlicher Ressourcen. 

Wie auch immer die Zukunft sich entwickeln wird: Demut wird wohl eine wesentliche Zutat dafür sein, dass unsere Existenz auf dem Planeten Erde weiter möglich sein kann.

Möchtest du mehr darüber lernen, wie du mit Demut und anderen Tugenden soziale Räume gestalten, leiten und begleiten kannst?
Dann könnte unser Leadership Training für verbindungsstiftendes Führen dir vielleicht gefallen.

Hier gehts zum Circlewise Leadership Training…

verbindungskultur

Liebe Leute,

findet ihr zoomen auch schön und schrecklich zugleich? Es ist SO anders, als gemeinsam in einem Raum zu sitzen, oder?

Damit Verbindung über Hören und Bildchen trotzdem spürbar wird und wir genährt aus der konzentrierten Zeit rausgehen können, hier unsere Hot-List von hilfreichen Tipps:

 

VORHER:
  • Liebe-volle Einladungen, mit Instruktionen statt nur Nummern, und ein bisschen Ermutigung und Vorfreude machen es gerade unerfahrenen Telekonferenzierenden leichter.
  • Als Moderierende 15-30 Min früher da sein (ohne sich mit was anderem abzulenken) lohnt sich, zum die eigenen Intentionen nochmal zu bekräftigen, weiten Raum & inneren Frieden zu kultivieren, die Herzkraft zu aktivieren, z.B. durch bewusstes Atmen, ein Gebet für Unterstützung dafür, die richtigen Worte zu finden und mit Tiefenschärfe zuzuhören, damit der Call für alle Beteiligten wirklich hilfreich und verbindend sein kann.
    Mir selbst Zuspruch und Liebe schenken, mich nochmal berühren, die Hand aufs Herz legen oder den Wind auf der Haut spüren, Nähe und Verbindung zu mir selbst ermöglichen, mich erden, in meinen Körper reinfühlen, den Boden unter mir und die Schwerkraft spüren, nochmal Atmen.
  • Wenn ich weiß wer kommt, kann ich schon vorher Breakout-Gruppen definieren (z.B. Lernpartner*Innen, Familienbanden, regionale Gruppen), das spart während des Calls Zeit und Aufmerksamkeit.
DABEI
  • Herzliches Willkommenheißen von Menschen wenn sie auftauchen, dabei den Namen nennen – für sie selber und für die anderen, die vllt. ohne visuelle Verbindung am Telefon darauf lauschen wer noch dazu kommt.
  • Ein bisschen herzigen Small-Talk zum Anfang, der in den Moment bringt – z.B. über das Wetter bei jedem, über die letzte Mahlzeit an dem Tag, anwesende Haustiere zeigen oder die Orte an denen die anderen sind, fragen ob jemand Schokolade hat, die sie mit allen teilen würden usw.. :-)
  1. Zum Start nochmal alle zusammen Willkommen heißen. Die Intentionen des Calls benennen. Vllt. nochmal kurz gemeinsam Atemholen, körperlich ankommen, es sich bequem machen oder sich aufrichten. (Evtl. visualisieren, dass wir alle gemeinsam in einem Kreis sitzen, einander bei den Händen fassen, ein Feuerchen in unserer Mitte brennt, oder wir auf einer Sommerwiese in den ersten wärmenden Sonnenstrahlen sitzen….)
    Einladung an alle, jetzt auf Speaker-View umzuschalten – das macht es viel viel leichter, zuzuhören und nicht die Sinne zu überfordern, wenn wir nur den sprechenden Menschen in voller Größe sehen. Bei Bedarf dazu ermutigen, dass die Menschen nicht multi-tasken, sondern mit ihrer Aufmerksamkeit im Call bleiben und einfach achtsam präsent lauschen – das macht einen enormen Unterschied dafür, wie anstrengend der Anruf ist oder nicht.
  2. Kurze Dankes-Runde, wo alle Stimmen einmal hörbar werden: Dein Name, woher rufst du an, eine Sache für die du dankbar bist gerade?
    Als Reihenfolge bietet sich der Zeitpunkt des Erscheinens im Call an – wer früher da ist, ist auch früher dran und Spätkommer können in Ruhe landen.
    Moderierende: Diese Reihenfolge im Chat aufschreiben, am besten nach jedem Sprechenden ansagen, wer nun dran ist, das Wort weitergeben – das schont die Aufmerksamkeitsspanne der Teilnehmenden.
  3. Moderierende: Kurze Widmung sprechen & Qualitäten für den Call einladen, z.B. schnell, klar, Herzlichkeit, Verbindung, Vertrauen usw. (Hier gern nochmal die Intentionen des Treffens nennen.)
  4. (Bei Planungs- oder Entscheidungsgesprächen jetzt Menschen finden, die ein kompaktes und übersichtliches Protokoll schreiben)
  5. Check-In: „Wie geht es dir gerade? Was ist wichtig zu teilen bevor wir starten? Was ist gerade schön in deinem Leben, was ist schwierig?“
    Einladung dafür: Von Herzen teilen, von Herzen zuhören, Raum für Verletzlichkeit für einander halten, nicht unterbrechen, kommentieren oder Ratschläge geben. Wechsel nach der Hälfte der Zeit. 
    Erstmal in Breakout-Gruppen mit je zwei Personen – das geht schnell, schafft Intimität und ein Gefühl von Vertrautheit und Nähe. Am besten sind hierfür zwei Menschen, die sich noch nicht kennen oder schon lange nicht mehr miteinander gesprochen haben. Zeit dafür (abhängig von Agenda und Gesamtlänge des Calls) ca. 2-8 Minuten pro Person. Wechselzeit sollten die 2er Gruppen selbst im Auge haben. 
    Moderierende: Den Chat im Auge behalten während der Breakout-Gruppen-Zeit., für Fragen aus den Gruppen. Bei Bedarf kann man sich in jede Gruppe reinklinken. Falls jemand aus technischen Gründen rauspurzelt brauchen die anderen in der Gruppe vielleicht eine kurze Nachricht/Beruhigung. 

    Eventuell einen kurzen Kreis dazu machen, je nach Zeit-Budget und anderen Absichten: jede*r 2-3 Sätze, 1,5-2 Min, 4 Min oder wenn es wirklich wichtig ist, oder es im Call sogar hauptsächlich darum geht, wie es den Leuten geht, dann auch 5 min und mehr pro Person.
    Fragen für den Kreis: Wie geht es dir gerade? Was ist los in deinem Leben? Was hat deine Zwischenzeit gebracht? Oder spezifischer: Wie ist es dir mit xyz ergangen?
    Falls Verletzlichkeit nicht selbstverständlich ist und von allein kommt, ODER du ein besonders schnell besonders tief gehen ermöglichen möchtest, gezielt die Fragen so ausrichten, z.B. Was hat dich berührt? Was war bedeutsam? Welche Ängste oder Sorgen kannst du in dir finden? Welche Sehnsüchte sind in der Tiefe spürbar, die dich gerade weiter locken?
    Moderierende: Auch hier wieder vor jedem Menschen den Namen nennen, das Wort weiterreichen wie einen Redegegenstand. Zeit hüten und Signale für den Wechsel geben (z.B. mit Klangschale, Rassel, Klopfen etc.), damit Sprechende noch Abrunden und dann weitergeben können.
    Kreise werden „handfester“, wenn jede*r ein Redeobjekt für sich selbst hat. Das kann auch kurz gezeigt werden und wird dann benutzt wenn ein Mensch mit Sprechen dran ist. 

  6. ThemenfragenEventuell im Kreis oder Check-In schon diese Fragen mit dazu geben, oder eine neue Runde damit machenWorüber möchtest du heute gern sprechen? Was magst du mit auf die Agenda für unser Gespräch setzen? Welche Themen, Fragen usw. liegen dir am Herzen?

  7. Spätestens nach dem Check-In Themen sammeln für die Agenda, Fragen s.o. Moderierende machen Vorschläge für Abfolge.
  8. Themen besprechen: Entweder im Kreis nach Redereihenfolge oder Moderierende erklären kurz, wie man sich bei Zoom zu Wort melden kann, dadurch bleibt es auch überschaubar, wenn man ein bisschen ins Springen kommt. Evtl. daran erinnern, bei der Essenz zu bleiben. Teilen was mir wirklich wichtig ist. Im Zweifelsfall Zustimmung kurz aussprechen, statt nur nichts zu sagen.
    Wenn es um Entscheidungen geht: Schöpferische Ideen und Gedanken einladen, für was auch immer eine lebensförderliche Umgehensweise ist. „Welcher Kurs ist stimmig und hilfreich für alles was uns am Herzen liegt?“
    Es können sich hier auch Break-out-Groups bilden, um gleichzeitig nach Neigung mehrere Themen zu besprechen.
  9. Punkte von Einigkeit unbedingt zwischendurch benennen und schriftlich festhalten.
  10. Was fehlt noch in unserem Bild? Nachfragen, welche leise Stimme wir vielleicht überhört haben bis jetzt? Ergänzen und bei Bedarf Einigkeitspunkte anpassen.
  11. Nächste Schritte definieren, so überschaubar und konkret wie möglich: Wer macht wann was wie mit wem wo wie?

  12. Nächstes Thema angehen und die vorherigen Schritte dafür wiederholen. Moderierende: Bei langen Calls unbedingt Bio-Pausen einbauen! Nach 1h 30 min mindestens 10 min Pause. Geht der Call 2h eine kurze Pause zwischendurch.
    Gern zwischendurch zum Gähnen und Strecken einladen, zum Augenschließen und tief durchatmen.
  13. Abschluss: Als Moderierende die Einigkeitspunkte zusammenfassen und nochmal würdigen/feiern.
  14. Check-outWas nimmst du mit aus dem Call? Pro Mensch 1-2 Sätze oder mehr. Ein-bis 3-Wort-Abschluss geht auch bei Zeitknappheit. Bei viel Rede-Bedarf nochmal 2er-Break-out-Groups und danach Abschluss im Kreis.
  15. Dank & Abschied & gute Wünsche: Alle Mikrophone laut stellen, damit sich alle verabschieden können.
NACHHER
  • ein klares und sinnvoll gegliedertes Protokoll ist super wertvoll. Es lohnt sich wirklich da Arbeit reinzustecken bzw. jemanden zu haben, der das macht, weil damit alle gesammelten Infos und Ideen einfach viel leichter zugänglich und weiter verarbeitbar sind.
  • Aufnahmen rumschicken, falls es welche gibt.
  • Vielleicht ein Ankergespräch mit einer Person deines Vertrauens, um für dich den Call zu reflektieren?
  • Vielleicht Upgrades sammeln für einen nächsten Call, auch gemeinsam mit der Gruppe: Was fand ich/fanden wir gelungen? Was würde ich / würden wir beim nächsten Mal anders machen? Was war ein magischer Moment?