Rituale können wie Nahrung für die Seele sein. Denn sie ermöglichen eine bewusst gelebte, persönliche, authentische und aktive Verbindung zu all dem, was in der Welt „unfassbar“ ist – und es auch trotz wachsender wissenschaftlicher Erkenntnisse vielleicht immer bleiben wird.
Dazu gehört zum einen all das, was wir die schöpferischen Kräfte des Lebens nennen könnten, all das was unsere Körper (und alle anderen auch) hervorbringt und ein Leben lang Tag für Tag lebendig erhält.
Auch jede einzelne menschliche Persönlichkeit in all ihren Facetten bleibt, egal wie sehr wir sie psychologisch analysieren, egal wie gut und inniglich wir einander oder uns selbst kennenlernen, auf viele Weisen doch letztendlich unfassbar.
Und sogar all jene Qualitäten, auf die wir als Menschen uns beziehen können, die wir vielleicht ersehnen und in denen wir im Leben Halt und Orientierung suchen und finden können, wie „Liebe“, „Frieden“ oder „Geborgenheit“, „Freude“, „Wunderbares“ oder „Freiheit“, sind trotz aller verfügbarer Definitionen und Erkenntnisse darüber, letztendlich doch in vielerlei Hinsicht unfassbar.
Rituale sind Handlungen, durch die wir das Unfassbare „anfassbar“ machen
In Ritualen geben wir den Dingen eine Bedeutung, die weit über das rein Fassbare oder Messbare hinaus geht: Gegenstände, Orte, andere Lebewesen oder unser Tun und Verhalten beinhalten auf einmal mehr als das rein sichtbare. Was wir tun hat somit nicht mehr nur einen praktischen Wert für uns, sondern auch eine ideelle Bedeutung.
Wenn wir beispielsweise an einen Menschen oder an einen Ort denken, den wir sehr vermissen, könnten wir für deren Wohlergehen oder für unsere Verbindung, eine Kerze entzünden, einen Baum pflanzen, ein Foto aufstellen, ein Lied hören, dass uns an gemeinsame Zeiten erinnert, etwas kochen, das wir mit Erinnerungen verbinden, einen Herzenswunsch mit ein paar gesammelten Blütenblätter einem Fluss mit auf die Reise geben… und viele weitere Rituale, also bedeutungsangereicherte Handlungen, vollführen, um unserem großen, vielleicht auch schmerzlichen Sehnen einen Ausdruck zu schenken und es ins Tun zu übersetzen.
Rituale durchzuführen, kann uns als Menschen Entlastung ermöglichen. Oft schenken sie ein Gefühl von Erleichterung, denn sie signalisieren Überschaubarkeit und Handlungsfähigkeit selbst angesichts von unendlicher Komplexität und einer Menge Nicht-Wissen-Können. Wie der Benediktiner-Mönch David Steindl-Rast einmal beschrieben hat, erlauben Rituale uns quasi einen Zugang zur unendlichen, für den menschlichen Verstand letztendlich unfassbaren Wirklichkeit des Seins zu kreieren, ohne uns dabei selbst zu überfordern.
Rituale können gerade in unsicheren Zeiten enorm viel Halt schenken
Durch Rituale können wir „unfassbare“, aber sich für uns selbst dennoch äußerst real anfühlende Verbindungen kreieren, die wie ein Rettungsanker sein können, auch und gerade wenn alles andere zu zerbrechen scheint.
Rituale können somit eine essentielle Zutat zum Leben sein, eine „Ressource“ für Menschen, die Halt, Geborgenheit und Orientierung schenkt.
Eine auf diese Weise erfahrungsorientierte, auf der persönlichen Beziehung zur Welt basierende Spiritualität kann wie ein Fels in der Brandung sein – gerade inmitten der jetzt oft überwältigenden Komplexität der gesellschaftlichen Vorgänge und angesichts der bedrohlichen Herausforderungen vor denen die Menschheit stehen.
Vor allem gilt dies, wenn sie ideologiefreie, undogmatische und lebensbejahende Ausdrucksformen findet, die machtkritisch sind und überlieferte Dynamiken von Herrschaft und Unterdrückung auflösen helfen.
Rituale können es erleichtern, seelische, gesellschaftliche und ökologische Not zu überstehen, und schöpferisch dazu beizutragen, sogar Freude und Frieden inmitten vom Chaos immer wieder selbst zu erleben und auch für andere schenken zu können.
Ritualarbeit kann die Verbindung mit uns selbst stärken
Rituale können es uns ermöglichen, in einer gefühlten Verbindung mit unserer inneren Beobachter*in zu sein, oder dem, was wir vielleicht als Wesenskern oder „Seele“ erfahren oder uns vorstellen. Dabei erleichtern sie es oft, deutlicher und klarer zu spüren: Wer wir (jetzt gerade) sind, was unser Platz ist, wo unser Weg weiterführt und wie wir dem Leben dienen können, zum Wohle aller Wesen.
Sie wurden auch seit dem Anbeginn der Menschheit in allen Teilen der Erde genutzt, um Gemeinschaft zu stärken und zu erneuern.
Ritualarbeit kann es uns ermöglichen, allein oder in Gemeinschaft mit anderen die großen Geheimnisse des Lebens zu spüren, Unsichtbares „sichtbar“ und Unfassbares „anfassbar“ zu machen. Sie erlauben es uns, mit dem Raum unseres Bewusstseins und unseres Geistes auf eine Weise zu tanzen, die ganz unterschiedliche Qualitäten und Wirkungen entfalten kann: verbindend, bestärkend, beruhigend oder aktivierend, Frieden oder Freude spendend und schier unendlich vieles mehr.
Ritualarbeit kann unser Wirken in der Welt stärken
Die Erfahrungen und Kompetenzen, die wir uns durch die Beschäftigung mit Ritualarbeit aneignen, können wir dabei nicht nur innerhalb von Ritualen im engeren Sinne zum Einsatz bringen, sondern sie können unserem gesamten Wirken in der Welt nützen – in allen Berufsfeldern und im privaten Leben.
Dabei scheinen Rituale sogar dann auf uns zu wirken, wenn wir gar nicht an sie glauben, wie Francesca Gino und Michael Norton von der Harvard Business School seit einigen Jahren erforschen. Norton beschreibt zudem zahlreiche Studien, die deutlich zeigen, dass auch ein Großteil der im westlichen Kulturkreis sozialisierten Menschen zu vielen alltäglichen und besonderen Gelegenheiten ganz aktiv Rituale durchführt – auch wenn sie sich dessen oft nicht bewusst sind.
Wenn wir Rituale bewusst erträumen, entwickeln, gestalten und durchführen, können wir sie individuell und auch gemeinschaftlich dafür einsetzen, in all unserem Tun und in allen sozialen Räumen, die wir mitgestalten, grundlegende Werte wie Mitgefühl, Frieden und aktive Nächstenliebe wirkungsvoll zu verankern.
Ritualarbeit kann uns ganz wesentlich dabei helfen, mit unserem Handeln, unseren Entscheidungen und unserem Wirken in der Welt unseren Werten einen tatkräftigen Ausdruck zu verleihen.