Zu Besuch bei der ältesten Kultur der Menschheit

Ein Bericht über unsere dritte Reise in die Kalahari, erlebt und aufgeschrieben von Katharina Voigt.

Eine Gruppe von sieben Menschen aus dem Circlewise Netzwerk war diesen Winter wieder gemeinsam mit Werner Pfeifer bei unseren Freunden, den Ju/’hoansi. (Hier findest du die Artikel über unsere erste und zweite Reise.)

 

Für mich, Katharina, meine allererste Reise auf den afrikanischen Kontinent überhaupt, in die dank Regenzeit ganz grüne Weite der Dornstrauchsavanne der Kalahari. Der Besuch bei den Ju/‘hoansi verändert mich grundlegend. Warum?

 

 

Ich liege mit dem Rücken auf dem dicken Baumstamm. Der Baum ist schon vor vielen Jahrzehnten, vermutlich eher Jahrhunderten, in der Mitte auseinandergefallen und so wachsen gleich mehrere Stämme zur Seite und von dort aus in die Höhe. Meine Hände gleiten über seine Borke – ich spüre die Hubbel, Wellen, Rillen, Dellen und Unebenheiten. Die meisten im Laufe der Jahrhunderte langsam gewachsen. Einige sind von Menschenhand entstanden – mein Blick fällt auf die Jahreszahl 1848, die hier eingeritzt ist.

Es gibt eine Geschichte aus dem vorletzten Jahrhundert, von einer Gruppe Buren (die Afrikaans sprechende europäischstämmige Bevölkerungsgruppe Südafrikas) auf dem Weg von Südafrika Richtung Norden auf der Suche nach neuem Weideland. Sie sind an diesem vermutlich mehrere tausend Jahre alten Baobab-Baum gestrandet, hungrig, kurz vor dem verdursten. Der Baum spendet Schatten, in der Hitze der sommerlichen Kalahari lebensnotwendig. Sein genaues Alter ist schwer zu bestimmen – Baobob-Bäume haben keine Jahresringe. Der Baum spendet auch Trost – mit seinem beeindruckend hohen Alter hat er eine Ausstrahlung, die unbeschreiblich, fast mystisch ist. Der Buren-Zug damals wurde hier von den lokalen Ju’hansi gefunden, einem Stamm der Buschleute, die hier in der Nord-Kalahari leben. Die Juo’hansi haben die Buren mit Essen & Trinken versorgt und damit ihr Leben gerettet.

 

 

Mir spendet der Baum heute auch Schatten und Trost. Den Trost kann ich gut gebrauchen, denn heute ist der vorletzte Tag unserer Zeit hier im Nyae Nyae Schutzgebiet. Drei lange Wochen haben wir hier im nördlichen namibianischen Teil der Kalahari verbracht. Zu Besuch bei den Buschleuten, bei den Juo’hansi. Während ein Teil unserer kleinen Gruppe mit /Ui, einem der Master-Tracker, heute eine Spurenlesen-Evaluierung macht, haben wir anderen uns zu diesem Baum begeben. Wir wollen ein wenig innehalten, Still sein – um die nun zuende gehende Zeit in der Kalahari zu wertschätzen und zu reflektieren.

 

Das Reflektieren fällt mir schwer diesmal. Nicht nur am Baum. Auch danach. Acht Wochen später sitze ich im frühlingshaften Deutschland in meiner Wohnung. Mitten in der Corona-Zeit. Versuche zu erfassen, was die Zeit in der Kalahari mit mir gemacht hat. Manchmal frage ich auch in diesen Tagen, ob sich das Leben in der Kalahari durch das Virus verändert hat? Die Reflektion unserer Zeit in der Kalahari webt sich erst langsam und ganz gemächlich in mein Leben. Es fühlt sich ein wenig so an, als wären die Früchte dieser Reise kleine filigrane Pflänzchen, die sich ganz langsam empor strecken und wachsen wollen und als würde ich Gefahr laufen, sie auszureißen, sollte ich zu heftig an ihnen zerren.

 

 

Zurück zum Baobab-Baum. Ein beindruckender Baum – ich schätze ihn auf mindestens 20 Meter Höhe und seinen Weite mit mehreren dicken Stämmen auf mindestens 40 Meter Umfang. In dieser Landschaft, in der alles flach ist, fällt er auf. Hier sieht für mich alles so ähnlich aus, alle Büsche und Bäume scheinen gleich hoch. Ist der Baobab-Baum für die Juo’hansi ein besonderer Ort? Ja, sicher als einen weithin sichtbaren Bezugspunkt in der Landschaft. Und wie ist das in kultureller und spiritueller Sicht? Wird er verehrt, gilt er als Sitz von irgendwelchen Geistern? Schwer herauszufinden. Die Buschleute sprechen wenig über Abstraktes, unsere Fragen über Philosophie und Spiritualität werden oft zögernd und dann meist vage beantwortet. Natürlich wollen sie gerne unsere Fragen beantworten und sie freuen sich, dass wir zu ihnen kommen, lernen wollen und sie dadurch wertschätzen. Und gleichzeitig scheint es, als würden sie diese Themen einfach lieber durch zuschauen, beobachten, nachmachen und erfahren vermittelt, lehren oder lernen wollen. Wie alle anderen Themen auch. Ob es die Suche nach essbaren oder heilsamen Pflanzen ist, das Spurenlesen, die Jagdtechniken, die Schmuckherstellung.

 

Tatsächlich sticht der Baobab-Baum weit hinaus über seine Nachbar-Bäume. Mich beruhigt das sehr. Bei Streifzügen rund um den Baum kann ich so recht sicher wieder zu ihm zurückfinden. Ansonsten ist für mich die Landschaft völlig unübersichtlich. Bei jedem Gang in den Busch mit unseren Freunden vom Ju/’hoansi-Dorf fühle ich mich in kürzester Zeit verloren. Alles sieht gleich aus für mich. Alles ist flach, es gibt keine Erhebungen, außer ab und zu einen Termitenhügel. Auch die Baum- & Strauchwelt sieht für mich sehr gleichförmig aus – unübersichtliches und immer wiederkehrendes Gestrüpp. Fast alle Sträucher und Büsche haben irgendeine Art von Stacheln oder Dornen, die mit Vorliebe an meiner Haut oder meiner Bekleidung hängenbleiben.

 

 

Die Ju/’hoansi bewegen sich nicht nur völlig elegant an den besonders stacheligen Büschen vorbei, sondern scheinen sich auch mühelos in diesem Irrgarten von verschiedenen Grün-, Braun-, und Beige-Tönen zurecht zu finden. Wie machen sie das nur? Ich beschließe noch genauer zu beobachten um es herauszufinden. Und dann packt mich doch meine Ungeduld und ich frage Komtsa, der vor mir läuft. Die Antwort entmutigt mich im ersten Moment: Er achte auf besondere Landmerkmale wie Büsche, Sträucher und Bäume, die auffallen und auch ihre Stellung im Verhältnis mit den anderen Pflanzen. Dann merke er sich, von wo er gekommen ist. Hm, das scheint unmöglich, mir diese Unmengen an Sträuchern, Büschen und Bäumen zu merken. Und ich frage mich direkt, ob die Ju/’hoansi durch ihre Lebensweise in ihrem Gehirn mehr Speicherkapazität als wir zur Verfügung haben, die wir uns viele Busfahrpläne, Markenwerbung, Kochrezepte und Telefonnummern merken müssen?

 

 

Dann frage ich mich, wie ich mich selbst zuhause im Wald orientiere. Und nach ein bisschen nachdenken, fühle ich mich erleichtert: Genau so! Genau so, wie Komtsa gerade seine Orientierung beschrieben hat, mache ich das auch. Ich merke mir diesen Haselstrauch, der da so nah an die Eiche geschmiegt ist, dann merke ich mir als nächstes dieses dichte Feld mit Brennnesseln auf der kleinen Lichtung mitten im dunklen Fichtenwald und auch diesen dicken Felsen, auf dem soviel Moos wächst. Ich habe anscheinend die gleiche Technik, nur benutze ich andere Kennzeichen, Erinnerungsstücke dafür.

 

Und plötzlich fühle ich eine starke Verbundenheit mit meinem Land zuhause, habe meinen Wald und seine Eigenschaften und Besonderheiten vor Augen. Und das während ich im fernen Afrika weile. Ich muss grinsen. Und bleibe an einem Busch hängen – vor lauter Grinsen hab ich nicht auf die Vegetation geachtet und bin zu nah an einem Wait-a-bit-Busch vorbeigelaufen. So haben die Südafrikaner einen bestimmten Busch genannt, der wirklich sehr scharfe und viele Dornen hat.

 

 

Ich lenke meinen Fokus wieder stärker auf die Wahrnehmung meiner Umgebung, und das ist gut so, denn fast wäre ich nach dem Busch in ein Spinnennetz mit einer spektakulär aussehenden schwarz-knallorangenen, handtellergroßen Spinne gelaufen. Hier im Busch der Kalahari ist viel Achtsamkeit gefordert. Werner, unser lieber Freund, der hier in Namibia aufgewachsen ist und uns in diesen Wochen auf unserer Reise mit all seinem Wissen und seiner Liebe zu der Landschaft und den Menschen der Kalahari begleitet, empfiehlt uns das schon am ersten Tag: Bleibt achtsam! Bei jedem Schritt und Tritt. Er sagt es so eindrücklich, dass ich es mir zu Herzen nehme.

 

Zwischendurch bin ich versucht, ganz entspannt barfuß durch den herrlich weichen Sand zu laufen… Nachdem wir die ersten Skorpione gesehen haben, die farblich wunderbar an den rötlich-braunen Sand angepasst sind, bin ich doch etwas vorsichtiger. Nicht nur Skorpione und Dornen können uns hier gefährlich werden – auch Schlangen wie die Kobra oder die schwarzen Mambas, Spinnen und andere „kleinere“ Tiere zeigen uns hier, dass wir Menschen verletzliche Körper haben. Und dann gibt es noch Hyänen, Löwen, Leoparden oder Elefanten. Die vermutlich eher selten in Dorfnähe auftauchen. Beim Streifen durch den Busch, auf der Suche nach bestimmten Pflanzen zum Essen oder Gerben ist es jedoch ratsam, ihnen nicht zu nahe zu kommen.

 

 

Und dann höre ich innerhalb von zwei Nächten, während ich in meinem Zelt bin, sowohl Löwen- als auch Hyänen-Geräusche. Ich selbst, aufgewachsen in Deutschland, kenne im Wald keine größere Gefahr als Wildschweine oder Zecken und bin daher draußen meist sehr entspannt. Diese andauernde Anspannung hier im Busch führt zu einer erhöhten Wachsamkeit. Zu einer Schärfung der Sinne, wie ich es bislang nur für bestimmte Aufmerksamkeitsübungen bewusst für ein paar Minuten herbeigeführt hatte.

 

Jetzt bemühe ich mich, dieses Level den ganzen Tag zu halten. Was mir natürlich nicht gelingt. Ich beobachte bei unseren Busch-Walks mit den Ju/’hoansi immer wieder, wie scheinbar fließend und entspannt sie sich durch den Busch bewegen und was sie alles wahrnehmen, lange bevor wir es überhaupt erahnen. Darüber hinaus ist ihr Wissen über die Tiere und Pflanzen scheinbar unendlich. Alle Fragen, die wir über das Verhalten von diesem oder jenem Tier stellen, die Nutzung von dieser oder jener Pflanze, alles können sie beantworten.

 

 

Dazu ist wichtig zu erwähnen, dass die Ju/’hoansi hier im Nyae Nyae Schutzgebiet zwar noch jagen dürfen, aber aufgrund ihrer erzwungenen Sesshaftigkeit kaum mehr vom Jagen und Sammeln leben können. Trotzdem haben sie sich eine immense Beobachtungsgabe und Wahrnehmungsfähigkeit erhalten. Ich beobachte, wie Komtsa und seine Freunde an einem strauchartigen Baum einige Äste mit ihrem Chop-Chop (einer kleinen Axt) heraushauen. Sie versuchen, den Baum so zu nutzen, dass sie gute Äste für ihre neuen Jagd-Bögen bekommen und gleichzeitig der Baum möglichst achtsam behandelt wird für sein weiteres Wachstum. Nach der Schneide-Aktion helfen sie dem biegbaren Baum wieder zurück in seine Ursprungsform.

 

Ich frage mich, ob die permanenten Gefahren um sie herum und die Abhängigkeit vom Land mit allen seinen Bestandteilen wie Tieren und Pflanzen und Wasserlöchern, sie nicht nur zu einer erhöhten Achtsamkeit führen, sondern dadurch auch zu einer stärkeren Verbindung mit dem Land? Von der wir vielleicht einiges verloren haben, seit wir keine lebensbedrohenden Gefahren und auch keine direkte Abhängigkeit von unserer Umgebung mehr kennen? Wenn dem so ist, kann ich dann meine so tief ersehnte Verbindung zu dem Land um mich herum durch eine erhöhte Achtsamkeit und Wahrnehmung intensivieren? Wie kann mir das gelingen?

 

 

Kurz nach dem Busch-Walk, in dem wir die Äste für die Bögen geerntet haben, nehmen wir Teil an einer Museumsversammlung. Das Living Museum ist eine der drei Dorfgemeinschaften, bei denen wir in diesen Wochen wohnen, leben, lernen und lachen. ||Xa|hoba, das moderne Dorf, welches das Living Museum betreibt, liegt etwa 20 km nördlich von Tsumkwe, der „Hauptstadt“ des Nyae Nyae Schutzgebietes. Tsumkwe hat offiziell etwa 2.000 Einwohner, dabei jedoch nur zwei Strassen, an deren Kreuzung mit dem General Dealer (einer Art Tante Emma Laden) der Mittelpunkt des Dorfes liegt. Hier gibt es Maismehl, Zucker, Tee, Cola, Bier, Seife und anderes zu kaufen. Die meisten der gezählten 2.000 Einwohner wohnen jedoch verstreut im Umland im Busch. So auch die Bewohner von ||Xa|hoba. Direkt neben dem modernen Dorf, welches eine handvoll selbstgebauter Hütten umfasst, liegt das traditionelle Museumsdorf.

Kommen Touristen hierhin, wechseln die im Museum arbeitenden Dorfbewohner Jeans und T-Shirt gegen ihre selbstgemachte traditionelle Lederbekleidung. Die Touristen können dann Jagdtrips, Busch-Walks, Handwerkskunst, Singen & Tanzen und mehr buchen. Durch das Museum können die Ju/’hoansi mit ihrem traditonellen Wissen einen kleinen, aber oft ausreichenden Lebensunterhalt verdienen – andere Jobmöglichkeiten haben sie in ihrer Region in Nord-Ost-Namibia kaum. Zugleich können sie das in nur zwei Generationen ein Stück weit verloren gegangene traditionelle Wissen ihrer Kultur zurückerlangen und erhalten. Die Idee zum Living Museum hat Werner Pfeifer nach Namibia gebracht, der selbst schon lange Jahre in einem lebenden Steinzeit-Museum in Norddeutschland arbeitet.

 

 

Das Museum funktioniert selbstverwaltet – und gleichzeitig nutzen die Dorfbewohner Werners Besuch für ihre jährliche Museumsversammlung. Wir dürfen dabei sein und Zeuge eines Gesprächs über ein für mich spannendes Thema werden: Den Umgang mit Geld. Ich habe mich vorher schon gefragt, wie eine Kultur, die bis vor etwa 50 Jahren fast unbeeinflusst von der globalisierten Gesellschaft ihre steinzeitliche, weitestgehend besitzlose Jäger- und Sammler-Kultur gelebt hat, mit dem Entstehen von privatem Besitz und mit dem Thema Geld umgeht? In unserer Kultur, in der ich aufgewachsen bin, ist die Existenz von Geld so selbstverständlich und gleichzeitig so fragwürdig, dass ich selbst ganz oft völlig verwirrt bin.

 

Gespannt gehe ich mit meinen Mitreisenden zusammen die wenigen Minuten von unserem Zeltplatz rüber in die Mitte des modernen Dorfes, nah am einzigen Wasserhahn, durch den das Wasser dank einer Solarpumpe aus den Tiefen der namibianischen Urzeit an die Oberfläche befördert wird. Dort kommen nun nach und nach alle Menschen zusammen: die Alten sitzen auf den wenigen Plastik-Stühlen des Dorfes, die meisten anderen sitzen auf dem Boden, die Jugendlichen in einer Ecke, auch die Frauen sitzen zusammen und jede von ihnen hat zwei, drei Kinder, die an ihnen und auf ihnen rumkrabbeln. Es ist nicht immer leicht, auszumachen, welches Kind zu welcher Mutter gehört. Das Thema Kindererziehung ist ein ganz anderes und hat hier leider keinen Platz mehr :-)

Es ist mir eine Freude, dass ich viele Gesichter des Dorfes inzwischen kenne, ihnen Namen oder auch gemeinsame Erlebnisse zuordnen kann. In wenigen Tagen hat sich ein angenehmes familiäres Gefühl eingestellt.

 

 

Die Versammlung dauert lange. Es gibt keinen Dorf-Chef oder jemanden in einer ähnlichen Rolle. Die Ju/’hoansi kennen keine Hierachie, in alten Zeiten haben alle gemeinsam gelebt und entschieden. Werner übernimmt heute die Moderatoren-Rolle und stellt Fragen in die Runde. Zwischendurch werden Kinder gestillt, wird geraucht, Wasser getrunken, aufgestanden und weggegangen und wiedergekommen. Manchmal reden alle gleichzeitig mit Händen und Füßen, für mich ist es ein heilloses Durcheinander von Klicklauten, dabei scheinen sich alle Redenden gut gegenseitig zu hören. Dann reden wiederum auch einzelne, erklären ihre Sichtweise. Kern der Diskussion ist die Frage, wie mit der Verteilung der Museums-Einnahmen umgegangen werden soll?

 

Nach einigen Frage-Runden verstehen wir die Lage etwas besser: Nicht alle Dorfbewohner arbeiten gleich viel im Museum. Manche gar nicht, manche ein wenig, manche ganz intensiv. Die Einkünfte eines Tages werden jedoch auf alle Museumsmitarbeiter aufgeteilt, unabhängig davon, wieviel sie gearbeitet haben. Das bedeutet, dass die drei jungen kräftigen Männer, die uns meistens beim Spurenlesen, Jagdtrips oder Busch-Walk begleiten, den gleichen Anteil erhalten wie alle anderen, die nur manchmal dazu kommen, wenn es zum Beispiel um eine große Runde am abendlichen Feuer geht. Das wird von einigen als ungerecht empfunden. Ich kann das gut nachvollziehen, in unserer Gesellschaft gibt es auch die Idee von „wer mehr arbeitet bekommt mehr Geld“. Und gleichzeitig führt das im Dorf zu Schwierigkeiten: Wie ist messbar, wer wann wieviel arbeitet? Wie werden die versorgt, die nicht arbeiten können, weil sie zu alt, schwach oder krank sind?

 

Als Werner die Frage stellt, was passiert, wenn jemand kein Geld mehr für Lebensmittel hat, antworten alle einstimmig und ohne jedes Zögern: Essen gibt hier jeder jedem! Was ist also der Unterschied zwischen Lebensmitteln und Geld? Wann hat hier im Dorf die Idee von persönlichem Besitz Einzug gehalten und welchen Anteil daran hat das „Geld“ ? Diese Fragen gehen mir durch den Kopf. Währenddessen wird weiter gesprochen. Es gibt eine Runde, in der jede*r Museumsmitarbeiter*in in der Runde ausspricht, warum sie/er im Museum arbeitet. Diese Idee kommt von unserer Reisegruppe, Werner und die Dorfgemeinschaft nehmen sie dankbar auf. Dabei wird deutlich: Für die Dorfbewohner ist der Job im Museum wichtig und überlebensnotwendig.

 

Das Gefühl, gemeinsam für den eigenen Lebensunterhalt zu arbeiten, verstärkt das Gefühl von Gemeinschaft. Es wird weitergesprochen, nun über die Idee, zwei Museumsmanager zu beauftragen, jetzt und in Zukunft Lösungen für solche Konflikte zu erarbeiten um sie dann mit der Gemeinschaft zu besprechen. Die zwei Manager sind schnell gefunden, /Ui und Dam, beides recht ruhige, ältere Männer, die in der Gemeinschaft angesehen sind. Sie setzen sich mit Werner zusammen und besprechen Lösungen, die dann mit dem ganzen Dorf besprochen und in Einigkeit entschieden werden.

 

 

Ich bin einerseits beeindruckt, wie offen das Dorf uns als Besucher an ihren intimsten Prozessen teilhaben lässt. Hier ist zu spüren, wie wenig Tabus, Geheimnisse und Abgrenzung es innerhalb des Dorfes gibt. Und gleichzeitig erfahre ich, wieviel Zeit wahre gemeinschaftliche Lösungen erfordern. Das dürfen wir auch in einem anderen Prozess erleben, in unserer eigenen Gruppe. Wir sind mit sieben Reisenden nur eine kleine Gruppe, entscheiden jedoch von Anfang an, keine Demokratie zu leben, sondern alle Entscheidungen in Einigkeit zu fällen.

 

Schließlich geht es uns bei dieser Reise auch um die Frage, wie Gemeinschaft gelebt werden kann. Tatsächlich schaffen wir es, auf der ganzen Reise jede einzelne Entscheidung, die alle betrifft, gemeinschaftlich zu besprechen und zu treffen. Manchmal sind dazu mehrere Gesprächskreise erforderlich. Manchmal ist es anstrengend, so viele Kreise zu machen und jede*n mit der gleichen Aufmerksamkeit zuzuhören. Zweimal haben wir in diesen Kreisen auch die Gelegenheit, Missverständnisse aufzuklären, bevor Konflikte entstehen können. Und gleichzeitig ist es für mich die bislang tiefste und intensivste Erfahrung von echter Gemeinschaft. Und damit einer der wichtigsten Eindrücke der ganzen Reise. Liegt das an der Kalahari und den Ju/‘hoansi, die Gemeinschaftskultur ausstrahlen?

 

 

Und auch wenn unsere Gemeinschaft so nah, offen und herzlich erscheint, wird mir durch eine Erfahrung bewusst, welche Möglichkeiten in noch innigerer Gemeinschaft liegen: An einem Tag gehe ich während der heißen Mittagspause mit einer Freundin aus unserer Gruppe rüber ins Dorf, um das Programm für den nächsten Tag zu besprechen. Im Dorf sitzen und liegen alle im Schatten ihrer kleinen Hütten. Auf den kleinen Schattenflächen sitzen und liegen mehrere Erwachsene und Kinder eng aneinander und fast übereinander. Sie quatschen, lachen, singen und dösen dort gemeinsam. Wir besprechen unser Programm von morgen, und während unseres Gespräches verspüre ich den Wunsch, mich einfach dazu zu legen, Teil einer so nahen Gemeinschaft zu sein.

 

Wir gehen zurück in unser “Dorf“, zu unserem Zeltplatz. Wir haben an einer Stelle im Busch unser Tarp aufgeschlagen, darunter die Feuerstelle und die Kochutensilien aufgebaut – unsere Küche und unser Wohnzimmer. Unsere Schlafzimmer, die Zelte, sind weit im Busch verstreut. Jede*r von uns hat ihr*sein Zelt ein paar wenig oder mehr Meter in den Busch hineingetragen, um dort ungestört zu sein. Für sich zu sein. Was für ein Bild: Über viele Meter verteilt stehen unsere einzelnen Zelte im Busch. Meins steht am weitesten draußen. Warum brauche ich soviel Raum, soviel Platz für mich? Und sehne mich gleichzeitig nach Nähe? Gerade in Gemeinschaft verspüre ich oft den Wunsch nach Rückzug. Wie schaffen es die Ju/’hoansi, so dauerhaft in so enger Gemeinschaft zu sein. So nah mit den anderen und doch bei sich selbst zu bleiben?

 

Eine mögliche Zutat kann ihre Art von Kommunikation sein: In all den Wochen erlebe ich kein einziges Mal ein lautes oder hektisches Wort. Die Ju/’hoansi sind eher leise, sehr höflich und vor allem – voller Humor. Mir scheint, als würden sie ununterbrochen über alles lachen, dabei auch und vor allem über sich selbst. Vielleicht ist das ein Ausdruck davon, das Leben mit all seinen Facetten anzunehmen und dabei ganz im Moment zu sein? Jedenfalls ermöglicht mir dieser wundervolle Humor, ganz leicht auch ohne Sprachkenntnisse mit ihnen in Kontakt zu kommen.

 

 

Bei den lustigen Schnick-Schnack-Schnuck-Spielen, bei denen ich die Regeln bis zum Ende nicht wirklich verstanden habe, und wir alle vor Lachen uns den Bauch halten. Oder wenn ich mich unter gespieltem Abschiedsschmerz an einen unsrer Jeeps hänge, mit denen Werner ein paar der Ju/’hoansi nach Tsumkwe zum Einkaufen mitnimmt, so arg übertreibend weinend, dass den Dorfbewohner, die auf der Rückfläche sitzen, vor lauter Lachen Tränen kommen. Ja, der Humor überschreitet so manche (Sprach-) Grenze und macht Miteinander und Verbundenheit möglich.

 

Und jetzt sitze ich hier, Mitte April in Deutschland, im Corona-Lockdown. Ich denke an unseren letzten Tag in der Kalahari. Daran, wie wir mit dem Dorf zusammen an den großen Baobab-Baum gefahren sind. Wie wir dort Popcorn gemacht haben, gesungen, gelacht und getanzt haben. Alles ohne gemeinsame wörtliche Sprache. Dafür mit vielen anderen Gemeinsamkeiten.

 

 

Ich bin Mitte Januar mit einigen Fragen über Gemeinschaft, Naturverbindung, Spurenlesen etc. in die Kalahari aufgebrochen. Heute stelle ich fest, dass ich mit deutlich mehr und anderen Fragen nach Hause gekommen bin. Diese Fragen haben mich verändert – und begleiten mich durch dieses besondere Frühjahr 2020.

 

Für diesen Bericht habe ich versucht, ein wenig an dem Pflänzchen zu ziehen, welches durch diese Reise in mir wächst. Es war nur ein leichtes, vorsichtiges Zupfen. Jetzt lasse ich es wieder in Ruhe weiter wachsen. Und schaue, wie ich mich selbst und meine Mitmenschen mit Humor und Nähe durch diese Zeit begleiten kann. Und eins weiß ich: sobald es mir möglich ist, will ich noch einmal in die Kalahari reisen. Ich hab mein Herz geöffnet bei diesen herzlichen Menschen, die so liebevoll und authentisch Gemeinschaft leben. Ich möchte wiederkommen und sie durch meinen Besuch unterstützen, ihren eigenen Weg in die Zukunft zu finden. Ich möchte wiederkommen und durch die Begegnung meinen eigenen Weg besser erkennen können. Ich möchte wiederkommen und mit ihnen lachen, singen und tanzen.

 

Hier findest du die Artikel über unsere erste und zweite Reise.