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Mentoring Coaching

…unsere leckersten Zutaten für den Jahreswechsel, aufgeschrieben von Elke Loepthien-Gerwert

 

Für mich ist die Raunächte-Zeit in jedem Jahr ein besonders fruchtbarer „Zwischen-Raum“ – wenn das alte Jahr schon so gut wie vorüber ist und das Neue noch nicht ganz begonnen hat. Durch ein bewusstes Zurückschauen, Integrieren und neu Ausrichten können wir den Platz zwischen Vergangenheit und Zukunft bewusst einnehmen und beides miteinander verbinden wie zwei elektrische Kabel – so dass Energie in voller Kraft strömen kann.

Wir alle haben und spüren in vielen Momenten unseres Lebens einen Zugang zu etwas Schöpferischen – unserer einzigartigen Art und Weise, mit dem Lebendigen in uns und um uns zu sein, unser Leben und auch unsere Mitwelt zu gestalten.

Sich dessen gewahr zu sein, wie wundersam und wunderbar das eigentlich ist, kann große Ehrfurcht in uns wecken, unsere Vorstellungskraft beflügeln und gerade in schwierigen Zeiten und Lebenslagen dabei helfen, aktive Hoffnung in uns zu bewahren oder wieder zu erwecken.

Doch leicht kann dieses Wunder von der Last und dem vielen Staub des Alltags überdeckt werden, und unser Gespür dafür, wer wir sind und wofür wir hier in diesem Leben sein wollen, wird vielleicht dumpfer, nebliger oder verschwindet ganz.

Dann verlieren wir oft nicht nur uns selbst immer mehr aus den Augen, sondern auch unsere Verbindung zur Natur und zur menschlichen Gemeinschaft um uns, die unseren einzigartigen Beitrag brauchen, so wie auch wir die anderen brauchen.

Ich habe 2008 das erste Mal einen sogenannten „Renewal of Creative Path Process“ kennengelernt, beschrieben von meinem damaligen Lehrer und Mentor Jon Young. Jon hatte mit seinem Team, inspiriert von Gesprächen mit dem Mohawk Chief Jake Swamp und dessen Frau Judy, eine Reihe von Schritten entwickelt, die ihnen dienlich erschienen. Die Parallele zum europäischen Brauchtum rund um die Zeit der Raunächte war sehr deutlich, und damit verbunden auch die Suche nach Wegen der „Medizin-Erneuerung“, die nicht indigene Bräuche koptieren, sondern auch für weiße Menschen (wie mich) authentisch, relevant und verwurzelt in unserer eigenen Verbindung zur Natur sein würden.

Seitdem verbringe ich in jedem Winter (und in kürzerer Form auch in jedem Sommer) Zeit damit, meinen Zugang zu den schöpferischen Kräften in mir und um mich herum zu erneuern und zu erfrischen. Der Prozess hat sich dabei Stück für Stück verändert, gewandelt in eine Form, die für mich hier in diesem Teil der Welt und für mein Leben so wie es jetzt gerade ist passend und stimmig erscheint. Die Zeiten der Erneuerung sind für mich mit das Wichtigste im Jahreslauf – viele Monate lang spüre ich ihren Wind unter den Flügeln und fühle mich getragen, genährt und inspiriert für das was kommt.

Die Macht des Erinnerns

Jedes Erinnern, Benennen und Teilen von Erlebnissen stärkt ihre Kraft in unserem gegenwärtigen Dasein und für unser zukünftiges Leben. Erst durch das Würdigen von dem was war, können selbst kleine Ereignisse zu wahrhaftig heiligen Momenten für uns werden, die noch viele viele Jahre und Jahrzehnte lang unser Leben erleuchten.

Es scheint verrückt: Jedes Mal, wenn wir sie an die Oberfläche unseres Denkens zurückholen, verändern sie sich ein wenig. Das ist ganz natürlich und darin begründet, wie unser Erinnerungsprozess funktioniert. Denn alles was war, verbindet sich bei jedem Zurückschauen mit allem was jetzt gerade ist, und kann so immer wieder neu sinnvoll verknüpft werden.

Unser Erleben hier und heute, wie auch unser Gefühl zu dem früher Erlebten, beeinflussen die Bilder und Sinneseindrücke aus der Vergangenheit jeweils so, dass es gerade jetzt passt und Sinn ergibt. Deshalb ist es ein wichtiger Teil eines Erneuerungsprozesses, immer wieder hilfreiche Fragen zu stellen, durch die wir die Vergangenheit bewusst mit dem Jetzt und mit der Zukunft verbinden.

Die Kraft von Ritualen

Jede Jahreszeit bringt ihre eigenen Qualitäten und Grundstimmungen mit sich, das Rad der Zeit nimmt uns von ganz allein mit in diese „Felder“ hinein, in welchem bestimmte Denk- und Verhaltensweisen fast wie von selbst in uns entstehen können. So schlafen anscheinend viele Menschen rund um den Jahreswechsel länger, essen mehr, sind weniger draußen in der Welt unterwegs und treffen sich seltener mit Freund*innen oder Kolleg*innen und mehr mit ihren engsten Liebsten, und viele von uns sind in der Zeit frei von unseren alltäglichen Jobs.

Dadurch kann fast von selbst die Art von Innenschau erwachsen, die einen Erneuerungsprozess ausmacht. Noch wesentlich mehr Kraft können wir dem Ganzen jedoch verleihen, wenn wir die Zeit mit Ritualen beginnen und beenden. Die Kraft von Ritualen ist wirklich erstaunlich, sie scheint sogar auf uns zu wirken, wenn wir gar nicht daran glauben, wie Michael Norton von der Harvard Business School seit einigen Jahren erforscht. (Seine Studien weisen auch sehr deutlich darauf hin, dass auch im westlichen Kulturkreis sozialisierte Menschen aus sich selbst heraus Rituale kreieren und nutzen, auch wenn sie diese gar nicht so nennen würden.)

Hier findest du nun meine leckersten Zutaten für einen umfangreichen Erneuerungsprozess mit Fragen und Ritualen, mein destilliertes best practice aus den letzten 16 Jahren, für dich als Inspiration und zum Experimentieren damit, was deine eigenen leckersten Zutaten für einen gelungenen Erneuerungsprozess sein könnten.

Ich wünsche dir viel Freude beim Lesen und vielleicht selbst Ausprobieren!

Teil 1 – Die Jahreswechsel-Erneuerungszeit öffnen

Ich starte meine Erneuerungszeit gern zur Wintersonnenwende, dem Tag wo inmitten der längsten Dunkelheit das Licht „wiedergeboren“ wird.

Besonders nach einem hektischen Dezember oder einer Zeit der Anspannung kann es gut tun, die längste Nacht des Jahres, die Nacht vor der Wintersonnenwende, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang als Wach-Nacht zu verbringen, allein oder mit engen, vertrauten Menschen, an einem Feuer, mit einer Kerze oder auch in der Dunkelheit sitzend, und dabei ganz bewusst in der langen Stille zu sitzen, zu fühlen und zu sein.

Selbst wenn ich nicht die gesamte Nacht dafür nehmen mag, kann es wunderbar sein, zumindest ein, zwei Stunden innerhalb von ihr dafür zu nutzen, allmählich zur Ruhe zu kommen und mich einzustimmen auf den Zauber dieser besonderen Zeit im Jahreslauf.

So ein Besinnungs-Ritual kann besonders gut wirken, wenn ich am Anfang einlade, in dieser Zeit ganz zu mir zu kommen, mich geborgen, geliebt und genährt zu fühlen, Tiefe zu erleben und meinen inneren Wesenskern zu berühren und die Verbindung zu all dem deutlicher zu spüren, was für mich glaubwürdige unfassbare Ansprechpartner*innen oder Kräfte sind (beispielsweise Gott, Mutter Erde, die Kraft die Leben schafft, Geisthelfer, Engel, Ahn*innen, Elemente, vertraute Tiere oder Pflanzen, mein Tiefenselbst oder Höheres Selbst oder was auch immer für dich vorstellbar und relevant ist).

Mit kleinen oder größeren Kindern gemeinsam kann man auch vor dem Schlafengehen nur ein bisschen die „Dunkelzeit“ würdigen, alle Lichter löschen und mit Psst und Shhh, so wie es die Kleinsten gerne mögen (vielleicht aneinander gekuschelt oder Hände haltend) ganz nah zusammensitzen und die Dunkelheit fühlen, die uns so weich umhüllt. Auch der Dunkelheit und Kälte zu danken kann schön sein, weil sie vielen Pflanzen und Tieren hier in diesem Teil der Erde ermöglicht, sich im Winter ganz tief auszuruhen, damit sie im Frühling in neues Leben starten können.

Es kann wunderbar sein auf diese Weise mit der Dunkelheit ein bisschen mehr Freundschaft zu schließen, auch zwischendurch kichern ist erlaubt – und dann nach einer Weile eine Kerze anzuzünden und damit die Wiedergeburt des Lichts auf eine ganz schlichte Weise zu feiern.

Mit oder ohne Wachnacht: Am Morgen des 21. Dezembers (in manchen Jahren ist es der 22. Dezember), bringe ich gern Dankes-Gaben in den Wald für die Lebewesen da draußen: Vogelfutter (aus heimischen Sämereien), (Bio-)Gemüse und Obst, und vielleicht auch etwas Fleisch (aus artgerechter, biologischer Tierhaltung) für meine fleischfressenden Nachbarn.

Besonders gern mag ich es, mit Kindern und Erwachsenen gemeinsam rauszugehen und für das Da-Sein all der anderen Lebewesen zu danken und auch für die vielen Begegnungen mit Tieren, Pflanzen, Pilzen, Elementen die wir im fast vergangenen Jahr hatten. Oft gibt es einen Ort in der Nähe, der sich hierfür besonders eignet, beispielsweise einen besonders großen, ehrwürdigen Baum, der das Ganze bezeugen kann.

Teil 2 – Einen Fokus-Platz für die Lebens-Kräfte gestalten

Zurück aus dem Wald mache ich mich gern auf, um immergrüne Zweige zu holen, die wir später als Symbol und Fokuspunkt für die Kraft der Erneuerung in unserem Zuhause aufstellen. Wir schneiden keine extra dafür ab sondern suchen solange, bis wir welche finden, die von Herbststürmen oder Waldarbeiten liegen gelassen wurden.

(Früher kauften wir auch öfter einen kleinen Baum bei Bauern in der Nähe und ließen uns dabei ganz davon führen welcher gern mit uns nach Hause kommen will? Manchmal ist es der für uns schönste und manchmal auch einer von dem wir vermuten, niemand anders würde ihm eine Chance geben wollen. Sobald er geschmückt ist, ist er immer zauberhaft!)

Gemeinsam schmücken wir die grünen Zweige mit vielen Sternen sowie anderen Symbolen für das Licht und die Kräfte der Natur, wie Äpfel, Zapfen oder Kugeln.

Wenn der Baum fertig geschmückt ist, laden wir die Lebens-Kräfte ein, für die kommenden Wochen durch ihn in unserem Haus zu leuchten für die kommenden Wochen, in denen das Licht langsam, ganz langsam zurück in die Landschaft kommen wird, und in denen wir das Bild der Hoffnung aufs Grün eines neuen Frühlings hier in unserem dunklen Zuhause so dringend brauchen können.

Teil 2 – Die leuchtenden Momenten feiern

Wenn du zurück schaust auf dein vergangenes Jahr…

  • Welche Erlebnisse waren für dich besonders schön und voller Freude?
  • Wann und wo hast du dich am stärksten verbunden gefühlt – mit dir selbst, mit der Natur, mit anderen Menschen in deinem Leben?
  • Welche faszinierenden Synchronizitäten haben sich ergeben?
  • Welche Momente oder Ereignisse waren so wundersam und besonders oder verrückt, dass sie sich magisch oder wie verzaubert anfühlten?

Diese besonders süßen Momente feiere ich gern auf gesellige Weise im allerengsten Kreis mit meinen Liebsten. Am Abend der Wintersonnenwende versammeln wir uns um ein üppiges und ausgedehntes Essen (z.B. rund um einen Tischgrill) und erzählen schon währenddessen von den Ereignissen des Jahres, die unsere „Highlights“ waren, und danken für sie! Was oft schon ausgelassen und mit viel Heiterkeit beginnt, gipfelt im Auspacken der Weihnachtsgeschenke. Sie sind ein kleiner, anfassbarer Ausdruck der liebe-vollen Fülle, die wir empfangen haben und von der wir nun etwas weitergeben. (Auch ganz ohne Geschenke zu feiern haben wir schon mehrmals gewagt, was noch mehr Aufmerksamkeit für all das ermöglicht, wofür wir ohnehin schon dankbar sein können.)

Mit der spät-abendlichen Ruhe eröffnet sich ein Raum für tieferes, noch besinnlicheres Teilen, rund um die besonders kostbaren Momente, die wie Schätze golden hervorstrahlen aus diesem vergangenen Jahr, und auch die Wendepunkte, wo wichtige Weichen neu gestellt wurden und Veränderung entstanden ist.

(Das Teilen dieser und anderer Geschichten auch online stattfinden, oder sogar am Telefon. Es sind meiner Erfahrung nach vor allem die Absicht, die Verletzlichkeit und die Herzoffenheit, die die Qualität eines Gespräches viel stärker beeinflussen, als das Medium selbst. Auch wenn du bisher wenig Erfahrung damit hast, kann ich es dir wirklich sehr empfehlen mit technischen Hilfsmitteln in den Austausch mit anderen Menschen zu gehen, vor allem wenn die Alternative ist, ganz allein damit zu sein oder jemand anders ganz allein zu lassen. Hier findest du ein paar Anregungen für verbindungsförderndes Zoomen.)

Vor dem Schlafengehen oder am nächsten Morgen schreibe ich dann gern etwas darüber auf, auf einem großen Blatt Papier, mit bunten Farben, kreuz und quer mit Verbindungslinien zwischen einander, eine Art Landkarte der Schätze und Wendepunkte.

Diese Karte kann während der kommenden Tage und Wochen weiter ergänzt werden. Es ist oft erstaunlich, wie mit der Zeit mehr und mehr Erinnerungen auftauchen. Manchmal wandere ich bewusst durch meinen Kalender vom vergangenen Jahr, wo Spuren verzeichnet sind, die auf etwas hinweisen was war.

Nach dem ersten Sammeln und Festhalten der wundervollen Erlebnisse und Wendepunkte kommt für mich ein erster guter Zeitpunkt für ein 2er-Treffen oder einen (kleinen oder gerade zumindest online möglich auch größeren) Kreis mit Freund*innen, Ankern, Buddies oder anderen wichtigen Menschen in deinem Leben.

Manchmal ist es auch genau umgekehrt: Wenn es dir schwer fällt, für dich allein Sachen aufzuschreiben, kann es genauso wirkungsvoll sein, direkt mit anderen Geschichten auszutauschen und dann vielleicht hinterher dazu Notizen zu machen.

Ob mit oder ganz ohne Schreiben mag ich es sehr gern, vor allem bei angenehmen Erinnerungen sie nicht nur mit dem Kopf , sondern mit meinem ganzen Körper zu besuchen, und alle Empfindungen so richtig intensiv wahrzunehmen. So kann die Erinnerung und ihre Kraft für unser Leben richtig groß werden, uns regelrecht ausfüllen, und dadurch stärker in uns verankert werden. (Umgekehrt kann es bei schwierigen Erinnerungen wichtig sein, genau dies nicht zu tun, sondern sie mir eher als Stummfilm in Grau, als Serie von Fotos oder sogar nur Schilder mit Überschriften vorzustellen, also mehr innere Distanz dazu aufzubauen und mehr Aufmerksamkeit auf dein Hier und Jetzt zu halten (vor allem, wenn du dich gerade geborgen und sicher fühlst). Das hilft dabei, nicht überwältigt zu werden.)

Dein Erinnern sollte immer angenehm genug sein, so dass du dich deutlich überwiegend wohl dabei fühlst.

Teil 3 – Verbindungen & Zutaten

Im Teilen und Anhören dieser Geschichten rücken sich langsam aber sicher weitere Fragen in den Vordergrund. Manchmal sind diese und auch noch ganz andere Gedanken und Fragen auch von Anfang an schon dabei und wollen mit notiert oder erzählt werden. Der Zeitpunkt ist im Grunde nicht so wichtig, Hauptsache es ergibt sich ein guter Flow für dich.):

  • Warum und wie konnte dieses Erlebnis für dich so wundervoll sein?
  • Was waren die Zutaten, die es ermöglicht haben?
  • Welche Rahmenbedingungen haben es begünstigt?
  • Was davon kannst und möchtest du selbst für das neue Jahr wieder kreieren?
  • Was würdest du vielleicht im neuen Jahr anders machen?
  • Was sind die Orte, Menschen und anderen Wesen, oder auch Projekte und Organisationen, mit denen du dich besonders verbunden gefühlt hast? Und was war das Verbindende?
  • Was sind Theorien, Sichtweisen, Denk- oder Seins-Schulen, Bewegungen, Lern- oder Wirkfelder mit denen du dich besonders verbunden gefühlt hast? Und was daran war das Verbindende?

Diese Fragen lassen sich sowohl allein für mich, als auch im Gespräch mit anderen bewegen und erforschen. Auch hier schreibe ich gern auf, was mir als wesentliche Erkenntnis erscheint, mache mir Notizen über Ideen, die mir kommen, meistens nur ganz kurz, in wenigen, einzelnen Stichworten.

Für diese und die anderen Fragen kann es wichtig und sinnvoll sein, auch weiter zurück in die Vergangenheit zu schauen und sie für den Verlauf meines gesamten bisherigen Lebens beantworten. Dafür brauche ich natürlich ein bisschen mehr Zeit. Die Erkenntnisse jedoch und die Energie die durch das Wiederbeleben der längst vergangenen Schätze ins Hier und Heute kommt, sind ein großes Geschenk, dass ich mir selbst immer wieder machen kann.

Teil 4 – Verluste betrauern

Jedes Jahr bringt Herausforderungen mit sich – vielleicht waren es in diesem Jahr besonders viele! Es ist ein wichtiger Teil des Erneuerungsprozesses, das Schwierige und Leidvolle nicht unerwähnt zu lassen:

  • Was hast du in diesem Jahr verloren? (Hier kannst du auf persönliche, aber auch auf kollektive Verluste schauen, die dich berühren und schmerzen.)
  • Welche schmerzlichen Erlebnisse und Erfahrungen hast du durchlitten?
  • Was bereust du?
  • Worin bist du gescheitert?
  • Welche Zukunftsvisionen und Wünsche (für dich und für die Welt) haben sich zerschlagen?
  • Welche Erwartungen konnten sich nicht erfüllen, für dich, für deine Liebsten für andere (vielleicht alle) Wesen, mit denen du dich verbunden fühlst?
  • Welchen Groll hältst du in dir (gegen andere Menschen, Umstände, das Leben oder dich selbst?) Welcher tiefe und berechtigte Schmerz versteckt sich hinter diesem Groll?
  • Welche leidvollen Erfahrungen der Menschheit insgesamt und auch der Erde als großer Lebensgemeinschaft hast du in diesem Jahr mitbekommen und mit durchlitten?
  • Welche von diesen Verlusten sind vielleicht noch gar nicht abgeschlossen, sondern ereignen sich immer weiter? (Dies kann persönliche Themen betreffen, beispielsweise geliebte Menschen an eine Demenzerkrankung zu verlieren, oder auch kollektive Themen, wie Diskriminierung und Marginalisierung, fortlaufender Kolonialismus, Imperialismus, Umweltzerstörung uvm.).

Auch die Antworten auf diese Fragen halte ich in kurzen Schlüsselworten für mich selbst fest, und ich öffne mich für die Trauer über all diese Dinge, die meinen Schmerz darüber lindern und transformieren kann, in Medizin für meinen weiteren Weg und für die Gemeinschaft deren Teil ich bin. (Wenn du mehr übers Trauern wissen möchtest, kannst du in unserem kleinen e-Büchlein hier viele Anregungen finden.)

(Selbst-)Mitgefühl schenken

Was wir vor allem brauchen, um schwierige Erlebnisse durchzustehen (sowohl unsere eigenen, als auch die von anderen Menschen) und dabei nicht verletzt, sondern verjüngt daraus hervor zu gehen, ist Mitgefühl. Gerade das Mitgefühl mit uns selbst (das gerade Menschen des westlichen Kulturkreises oft erst im Laufe ihres erwachsenen Lebens erlernen!) hilft enorm dabei, schlimme und sogar traumatische Erlebnisse so zu überstehen, dass wir an ihnen wachsen und reifen können, statt daran kaputt zu gehen.

Wenn ich in meiner Rückschau an schmerzhafte Punkte komme, hilft es mir sehr, mich selbst (wortwörtlich!) in den Arm zu nehmen, meine Hand zu halten oder mir selbst über den Kopf zu streicheln und dabei leise im Innen oder auch einfach laut vor mich hin mitfühlende Worte zu sprechen, wie beispielsweise: „das war wirklich schwer, schmerzhaft, schlimm…. Es ist ok, traurig oder verzweifelt zu sein, ich bin hier und für dich da.… mmh, das fühlt sich ganz ganz traurig an, und das ist völlig ok so.“

In jedem Moment von Selbst-Mitgefühl können wir uns daran erinnern, dass wir sicherlich nicht die erste Person unter der Sonne sind, die solche Gefühle erlebt – sondern was auch immer wir gerade in uns fühlen, etwas ist, dass unzählige Menschen so oder ähnlich auch kennen und vielleicht auch jetzt gerade in diesem Moment durchleiden. Dadurch kann sich die Enge in unserer Brust und in unserem Denken vielleicht etwas weiten und wir trainieren gleichzeitig auch unser Mitgefühl für Andere.

Selbst-Mitgefühl ist eine lebenswichtige Fertigkeit, die wir alle erlernen können, und die für mich einen wesentlichen Schlüssel für viele drängende Fragen unserer Zeit darstellt, allen voran dafür, wie wir lernen können, mit einander voller Mitgefühl umzugehen – nicht nur mit denen, die uns nah stehen, sondern auch mit denen, die wir als „die anderen“ ansehen und auch mit den vielen nicht-menschlichen Wesen auf der Erde.

Sinn verleihen

Oft sind es gerade die schwierigen Erfahrungen, die einen Freiraum für echte, tiefgreifende Veränderungen schaffen – welche wir zwar schon irgendwie ersehnen, doch oft auch gleichermaßen scheuen.

Die ihnen innewohnenden Schätze finden wir inmitten furchteinflößender Dunkelheit, wenn wir es wagen, genau hinzuschauen auf das, was uns so schreckt und schmerzt. Auch das Finden von Sinn und Bedeutung ist eine wesentliche Säule für das Verarbeiten schlimmer, sogar traumatischer Erlebnisse.

Dabei liegt der Sinn nicht in dem Erlebten selbst verborgen – es geht also nicht darum, etwas zu finden was schon längst da ist. Denn ein Leiden ist an sich nicht sinn-voll. Es sind wir als Menschen, die aktiv und bewusst etwas Sinnvolles daraus machen können – indem wir auf eine besondere Weise auf das Geschehene schauen und dem Ganzen einen Sinn verleihen.

Und dieser Sinn liegt meines Erachtens nach kaum in der Vergangenheit und selten in der Gegenwart, sondern fast immer in der Zukunft.

Eine der wichtigsten Fragen, um Schmerzliches auf diese Weise zu transformieren habe ich von Paul Raphael vom Volk der Anishinabe lernen können, der schon viele Male in Deutschland war. Sie lautet:

Wie kann dir das Erlebte ermöglichen und helfen, anderen zu helfen?

Die Frage verrät in sich bereits, dass ich den Sinn in den schlimmsten Erlebnissen oft erst dann finden kann, wenn ich nicht so sehr auf mich selbst und meinen eigenen Vorteil schaue, sondern das Wohl der Gemeinschaft in den Blick nehme.

Es kann sehr wohltuend sein, gerade auch diese Aspekte des Jahres mit anderen Menschen zu teilen und zu reflektieren, mit Partner*innen, Freund*innen, Gemeinschaft. Gemeinsam sind wir stärker und auch die schwerste Last lässt sich leichter tragen, wenn sie sich auf viele Schultern verteilt.

Die leidvollen Erlebnisse können wie ein besonders starker Kitt in einer Gemeinschaft sein: Sie helfen uns, die eigene Verletzlichkeit deutlich zu spüren, zuzulassen und auch zu zeigen, wodurch die Verbindung zwischen uns wächst und das Vertrauen ineinander gestärkt wird. Es ist ein großes Geschenk, in der eigenen Trauer von anderen Menschen gehalten zu sein, so wie es auch ein großes Geschenk für diese Menschen ist, wenn ich mit mit meiner Trauer zu zeigen wage.

Nach den Weihnachtstagen und vor Silvester kann die günstige Gelegenheit sein, mit den engsten vertrauten Menschen für ein paar Stunden an einem Feuer zu sitzen. Egal ob es draußen inmitten der Kälte wärmend prasselt oder als Kreis von vielen Kerzen in einer gemütlichen Stube unsere Gesichter mit rotgoldenem Schein erhellt – das heiße Flackern der brennenden Flammen erinnert uns daran, dass auch die härteste Substanz transformiert werden kann.

Das Feuer kann ein wunderbares Gegenüber für unsere Trauer, Wut und andere Emotionen sein, und es leuchtet uns den Weg zum Einladen und Umarmen und Festhalten von dem Sinn, für den wir uns entscheiden, ihn unserem Leiden zu verleihen – zum Wohle anderer.

Mit kleinen Gaben an das Feuer kann ich dabei meine Absicht immer wieder bekräftigen, die Energie des Schmerzes in etwas Sinn-volles zu verwandeln, in etwas Fruchtbares für die Gemeinschaft des Lebens.

(Auch online kann dies gemacht werden, vor allem wenn jede Person sich selbst ein kleines (Kerzen-)Feuer vor Ort mit dazu holt.)

Teil 5 – Wer bin ich und wofür bin ich hier?

Wenn die oben aufliegenden Themen eines Jahres etwas abgeschöpft und verarbeitet sind, zeigen sich oft die darunter liegenden und damit verbundenen langen (vielleicht roten, goldenen oder ganz bunten?) Fäden unseres gesamten Lebenswegs.

Dabei sind die Antwort auf die Fragen wer ich bin und wofür ich hier bin, ein ganzes Leben lang (leichten oder sogar gravierenden) Veränderungen unterworfen.

In wissenschaftlichen Studien zeigt sich, dass viele Persönlichkeitstests und auch umfangreiche Horoskope leider überhaupt gar nicht aussagekräftig für die Spurensuche zu uns selbst sind. Die einzige Ausnahme bilden bisher Tests für die „Big Five“, fünf wesentliche Eigenschaften, die in in ihrer Mischung einzigartig sind, unser Sein in der Welt sehr stark beeinflussen, und über Tests verlässlich erfragt werden können. Einen kostenlosen Big Five Test (auf deutsch) findest du beispielsweise hier.

In der ruhigen Jahreswechsel-Zeit ist die Gelegenheit günstig, noch einmal ganz ganz weit zurück zu schauen, zu sammeln und in meinen Betrachtungs-Raum einzuladen und zu würdigen, was im Laufe meiner Biografie so alles geschehen ist, doch auch heute noch bedeutsam und wesentlich für mich und meinen Lebensweg, meinen Seelenweg ist.

Mit wenigen wichtigen Menschen meines Lebens kann ich teilen (und/oder für mich selbst aufschreiben):

  • Wer bin ich?
  • Wo komme ich her, was sind meine Wurzeln, in meinem eigenen Leben und dem meiner Vorfahren?
  • Was waren wesentlichen Momente in meinem bisherigen Leben, in denen durch schlüsselhafte Entscheidungen und Begegnungen sich Weichen stellten, die den Verlauf der Dinge für immer verändert haben?
  • Welche Momente kann ich erinnern, in denen ich wie auf dem Gipfel meines eigenen Berges gestanden habe und einen weiten Überblick auf all das erhaschen konnte, was mein Leben, meine Persönlichkeit und Identität in der Welt, vor allem das, was ich vielleicht meine Seele nennen könnte, ausmacht?
  • Welche Visionen/Ausblicke auf mein Leben habe ich in der Vergangenheit geschenkt bekommen und wie haben sie sich bis jetzt verwirklicht?
  • Was sind die allertiefsten Sehnsüchte, die mich in diesem Leben im Innern (also schon seit meiner Kindheit und Jugend bis heute) bewegen und immer weiter und weiter ziehen?
  • Welche Früchte sind in diesem vergangenen Jahr durch mich in die Welt gekommen?
  • Welche Gaben, besonderen Eigenheiten und Qualitäten wirken durch mich in die Welt hinein? Wofür schätzen mich die Menschen, die mit mir zu tun haben?

Die letzte Frage können wir nicht für uns selbst beantworten – dafür brauchen wir den Blick und die Worte von anderen Menschen. Es ist wichtig und hilfreich den Mut aufzubringen (immer wieder) danach zu fragen:

  • Was magst du an mir?
  • Was schätzt du an mir?
  • Was tut dir gut wenn wir zusammen sind?
  • Welche Art zu Sein, welche Qualitäten, Eigenheiten, Beiträge glaubst du bringe ich mit in die Gemeinschaft?
  • Wie würdest du mein Sein/meinen Wesenskern in Worte fassen und beschreiben?

Ich führe seit vielen Jahren ein kleines Büchlein in dem ich sammle, was mir an Wertschätzung ausgesprochen wird. Wenn ich zur Jahreswechsel-Erneuerungszeit allein bin, aber auch zwischendurch, wann immer ich es brauche, schaue ich in das Büchlein hinein wie in einen Spiegel, in dem ich besser wahrnehmen kann, was durch mich in die Welt kommt, welche Qualitäten.

Das jedem einzelnen Menschenkind innewohnende Genie oder die individuellen Gaben oder Stärken haben dabei selten mit einer konkreten Kunstform zu tun. Ich mag die Sichtweise darauf, die ich vor vielen Jahren von Michael Meade gehört habe, nach welcher der Begriff „Genie“ nicht nur auf die Meister-Musiker*in zutrifft, vor der die ganze Welt sich verneigt, ganz im Gegenteil. In unserer Kultur hören wir oft unterschwellig oder sehr deutlich, dass nur wenige Personen wirklich begabt sind – und wir selbst und auch unsere Liebsten um uns herum vermutlich gar nicht dazugehören.

Dabei bringt jede Person ganz klar einzigartige Qualitäten mit, die alle anderen in ihrem Kreis jeden Tag brauchen, einfach damit wir gemeinsam existieren und gedeihen können.

Unsere „Gaben“ sind dabei nicht das, was wir tun – sondern wie wir etwas tun, nämlich auf unsere ganz besondere, einzigartige Art und Weise.

Unser „Genie“ sind nicht unsere Begabungen (wie musizieren zu können), sondern vielmehr eine Mischung aus unseren Talenten, unseren Sehnsüchten, die uns lenken, unserem einzigartigen Stil und Art und Weise, mit dem Leben und mit anderen Wesen umzugehen, und vielem mehr, was eine herrliche Wolke aus Worten, Geschmäckle und spürbarer Besonderheit ergibt.

Es ist ganz natürlich, dass wir unser inneres Wunderwerk nie ganz und gar (er)fassen können – dafür ist es viel zu komplex und geheimnisvoll. Doch uns ihm immer wieder neu anzunähern kann hilfreich dafür sein, uns selbst zu spüren und mit wachsendem Vertrauen und Zufriedenheit das hinschenken zu können, wofür wir in diesem Leben einstehen und handeln wollen.

Das Paradox dabei ist, dass wir das Gefühl eines stabilen Ichs, einer tragfähigen Identität in der Welt, als Menschen uns nur dann langfristig erhalten können, wenn wir auch den Wandel darin bewusst wahrnehmen und ihm Raum und Ausdruck geben. Veränderung ist Teil des Lebens und auch Teil unseres Lebens, und sie zu umarmen kann wundersamer Weise ein Erleben von innerer Stabilität begünstigen.

Für mich ist mit das allerwichtigste daran, mich immer wieder neu mit meinem Wesen im Wandel zu beschäftigen, dass mir dies hilft, mit mehr Vertrauen, Hingabe und Freude wirklich für die andern da zu sein und zu handeln – für meine Liebsten, aber eben auch für die Gemeinschaft allen Lebens.

Teil 6 – Das Leben feiern

Mir all der Gaben bewusst zu werden, die ich in mir selbst und in anderen entdecken kann, füllt das für Glück bereitstehende Gefäß in meinem Inneren bis über den Rand mit Dankbarkeit und Freude. Das Ende des Jahres ist für mich eine stimmige Gelegenheit, das ganze Leben, das so viel Fülle schenkt, noch einmal besonders ausgelassen und energievoll zu feiern.

Silvester macht es möglich, die vielen Worte und Gedanken ruhen zu lassen und stattdessen den Körper zu bewegen, zu tanzen, zu spielen, und ganz besonders fröhlich zu sein.

(Auch das kann online gehen. Hier findest du Anregungen für eine Dance-Party über Zoom, von denen schon seit Monaten weltweit jede Menge stattfinden: https://medium.com/tixel/how-to-host-a-zoom-dance-party-970bea59b76.)

Wenn ich lange und intensiv zurückgeschaut habe, deutlicher wahrnehme und tiefer verstehe was war, kann ich das Jahr bewusster beschließen, abschließen, und die letzten paar Stunden und Minuten bewusst zelebrieren.

Ich mag es sehr, wach zu bleiben bis nach unserer Zeitrechnung mitten in der Nacht das alte Jahr endet und das neue Jahr beginnt.

Das Neue Jahr beginne ich gern mit viel Stille und aufmerksamem draußen Sein, allein oder zusammen mit meinen Liebsten einen Spaziergang zu machen, um vor allem die nicht-menschlichen Wesen in unserer Umgebung im Neuen Jahr zu sehen und zu grüßen.

Am liebsten besuche ich ein natürlich ganz kaltes Wasser an einem Bach, Flüsschen oder See, um das lebensspendende Element zu segnen und um für mich und meinen Liebsten von den Kräften und Wesen in der Natur einen Segen zu erbitten, einfach für Gesundheit, Freude und Lebendigkeit für das neue Jahr.

Mich am Neujahrstag allein oder zusammen mit meinen Liebsten draußen in der Natur zu waschen (zumindest die Hände oder die Stirn) oder sogar komplett zu baden hilft mir, die Lebenskraft in eine neue Runde zu schicken und mich voll und ganz bis in die Tiefe erfrischt und erneuert zu fühlen.

Teil 7 – Der Nordstern

Ein Nordstern steht für etwas, das uns Orientierung für unseren weiteren Weg bietet, auch wenn wir es nie vollständig erreichen können. Die Jahreswechsel-Zeit ist eine wunderbare Zeit, um unseren Nordstern zu überprüfen und uns immer wieder neu auszurichten, nach dem was uns am Wichtigsten ist.

Statt mir konkrete, messbare Ziele für das kommende Jahr zu setzen, setze ich meinen Kurs auf Werte, die mir wirklich am Herzen liegen. Ich finde es hilfreich, diese Werte in jedem Jahr wieder neu abzuschreiben und für mich selbst dadurch festzuhalten. Sie könnten auch in Form von Gedichten, Liedern, Bildern oder Skulpturen, selbst symbolisiert von gefundenen oder gekauften Gegenständen eine (an)fassbare Form finden, die mich durch das kommende Jahr begleiten kann, wenn ich ihnen einen Platz in meinem Zimmer schenke.

Hilfreiche Fragen um ihnen auf die Spur zu kommen könnten sein:

  • Was sind die grundlegenden Werte in deinem Leben?
  • Was ist dir am wichtigsten und liegt dir wirklich am Herzen?
  • Was sind die tieferliegenden Bedürfnisse und großen Sehnsüchte, deren Erfüllung du dir immer wieder (neu) wünschst?
  • Mit welchen Intentionen möchtest du in das kommende Jahr gehen?
  • Welche Qualitäten möchtest du einladen, für dich selbst und für alle die mit denen du verbunden bist?

Zusätzlich zur Innenschau bitte ich am Neujahrstag gern irgendein kleines Orakel, mir etwas über das zu verraten, was mich im neuen Jahr erwartet, zum Beispiel indem ich einen Spaziergang mache, bei dem ich eine Frage im Herzen trage. Das weckt meine Neugier, weil es so geheimnisvoll daher kommt und ich dadurch viel aufmerksamer werde.

Besonders hilfreich finde ich dabei diese Fragen:

  • Was wird durch mich kommen?
  • Was kann mich unterstützen?
  • Was brauche ich?
  • Worauf kann ich meine Aufmerksamkeit lenken, das besonders hilfreich wäre?

Oft entdecke ich durch die Ereignisse auf meinem Spaziergang weitere Qualitäten, Werte und Intentionen, die ich ebenfalls einladen möchte fürs neue Jahr.

Einladen und Bekräftigen

Indem ich die Werte in Worte fasse, sie denke oder ausspreche, hole ich sie bereits in den Raum. Auch wenn sie immer Ideale bleiben, die nicht vollkommen verwirklicht sein werden, stellen sie sich als Qualitäten schon ein Stückchen weit ein, sobald ich sie über die schöpferische Wirkkraft der Sprache berühre.

Einen Wert denken, sprechen, beten oder als Symbol/Gegenstand in meine Hand zu nehmen ist für mich, wie eine Tür zu öffnen zu einem Raum voller Möglichkeiten, wo eben diese Qualitäten enthalten und lebendig sind. Insofern ist jedes Werte-Wort ein Zauberwort! :-)

Wenn ich mich wage, es zu sprechen auch wenn andere Menschen dabei sind, kann ich seine Wirkkraft verstärken.

Deshalb mache ich gern am ersten oder zweiten Januar ein Bekräftigungsritual, wo ich (allein oder zusammen mit anderen), all das an Werten, Intentionen oder Qualitäten einlade, was ich mir für das neue Jahr wünsche, und zwar so allgemein wie möglich, ohne es mit konkreten Bildern in Verbindung zu bringen (beispielsweise würde ich um „ein geborgenes Zuhause“ oder um das „Gefühl, voll und ganz zuhause zu sein“ bitten, nicht um „ein Haus mit einem Holzofen und großen Fenstern“).

Für dieses Ritual braucht es eine oder mehrere Gaben, die ich mit meinen Wünschen zusammen verschenke. Ein großes oder kleines Feuer könnte einen guten Empfänger dafür bieten (mit brennbaren Gaben wie beispielsweise Haferflocken oder selbst gesammeltem getrockneten Beifuß), oder ich könnte die Gaben (biologisch leicht abbaubar wie getrocknete Kräuter oder auch Steine, die ich mag) einem fließenden Gewässer übergeben, mit Gebeten für ihre Erfüllung. Auch große Bäume sind manchmal geeignete „Empfänger*innen“ für Gebete und Gaben (und natürlich auch einfach ein Fleckchen Erde, sogar drinnen in einem Blumentopf).

Es kann zutiefst berührend sein, hierbei neben den Gebeten für mich selbst vor allem auch für das Wohlergehen meiner Liebsten und für alle anderen Wesen zu beten und die Qualitäten einzuladen, die ich für die Welt ersehne.

Je mehr ich meine Zeit, Aufmerksamkeit und Lebenskraft zur Verfügung stelle, um das Wohl des größeren Lebensnetzes zu bedenken, desto stärker kann ich mich als Teil des Ganzen und auch selbst davon getragen fühlen.

Teil 8 – Zukunftsbilder

Indem ich Intentionen setze und Qualitäten und Werte einlade, stelle ich in meinem Innern eine Weiche, ich setze meinen Kurs in genau diese Richtung. Ich öffne ein Türchen einen Spalt breit, durch das nun Leben strömen kann. Man könnte auch sagen, ich setze mir eine ganz bestimmte Brille auf, durch die ich nachfolgend die Welt betrachte und leicht verändert oder auch ganz neu wahrnehmen kann.

Die Zeit nach dem rituellen Bekräftigen der Neujahrs-Intentionen, wenn im Januar immer noch tiefe Dunkelheit herrscht, die Landschaft kahl und eisig bleibt, während ab und zu die Misteldrossel wehmütig singt und in den langen dunklen Nächten die Füchse heiser bellen, ist für mich eine besondere Zeit des Nichtwissens-und-damit-gut-Seins.

Im Bauch der Erde ist nun alles Vergangene verdaut und bereit ein fruchtbarer Mutterleib für das Neue zu sein. Ich versuche den ganzen Monat soweit es möglich ist termin-frei zu halten, eine gute Portion Urlaub zu machen und danach auch noch zwei, drei Wochen lang nur meinem eigenen Arbeitsflow zu folgen, damit genug leerer Raum da sein kann, in dem die zarten kreative Funken der schöpferischen Kraft und Inspiration sich einfinden können.

Nach und nach zeigen sich in meinem Innern mehr Bilder darüber, was die Zukunft von mir brauchen könnte und wie sich die gesetzten Intentionen, Werte und Qualitäten in diesem neuen Jahr verwirklichen könnten. Auch konkrete Bilder für Projekte zeigen sich, sowohl für die Arbeit, als auch persönlicher Art. Diese Bilder nähre ich durch meine Aufmerksamkeit, mein Lauschen, mein Hineinspüren – wie würde es sich anfühlen, wenn…?

Erst wenn Anfang Februar das Licht sich verändert, die Knospen der Bäume anschwellen, im Innern ihrer Stämme das Wasser wieder strömt und tief in der Erde die Vorfrühlingskraft sich zu regen beginnt, ist bei uns die Zeit gekommen, unseren immergrünen Strauch- oder Baum-Altar (Fokus-Plätzchen) zu schließen und aus dem Haus zu schaffen, meistens am zweiten Februar.

In kleine Stücke zerteile ich die meist schon ganz trockenen Zweige und Äste. Mit jedem Teilchen davon, das ich ins Feuer gebe, spreche ich die Wünsche und Widmungen für das Jahr, so konkret wie ich sie in meinen inneren Bildern sehen oder erahnen kann.

Prasselnd verbrennen sie und dies ist ein guter Zeitpunkt um auch für all die Einsichten und den Zauber der gesamten Jahreswechsel-Erneuerungszeit zu danken. Jetzt sind die dazugehörigen Rituale für mich abgeschlossen und gemeinsam mit meinen Liebsten feiern wir unser Frohlocken auf alles was kommt, meistens mit einem richtig leckeren Essen hinterher.

Das Drumherum: Einen lebendigen Rahmen gestalten

Tiefes Reflektieren ist anstrengend und fordernd für uns. Es fördert Emotionen an die Oberfläche, die einen Ausdruck finden wollen, und auch die mit ihnen verbundene Energie will umgesetzt werden.

Deshalb empfehle ich dir gerade in Zeiten intensiver Innenschau auch genau das Gegenteil bewusst mit einzuplanen: Oberflächliches, Lustiges, Albernes, Leichtherziges, Verspieltes und pure Unterhaltung.

Für mich sind schon seit vielen Monaten Komiker (beispielsweise dieser hier, auch vor allem dieser und manchmal auch noch der) fast lebenswichtig geworden – ihr frischer Blick auf die Widernisse unserer Zeit hat für mich zutiefst tröstliche Wirkung und lässt mich entweder weniger hilflos fühlen – oder zumindest nicht so allein mit meinem Frust.

Wenn du die Möglichkeit hast, life oder per Telefon mit Kindern in Kontakt zu sein, würde ich dir wärmstens empfehlen, sie zu nutzen. Gerade wenn es nicht deine eigenen Kinder sind, brauchen sie dich vielleicht besonders, weil sie sich in den Ferien vermutlich mit ihren eigenen Eltern und engsten Familienangehörigen ab und zu ziemlich langweilen! :-) Eine Liste kinderfreundlicher Witze, die du am Telefon oder life vor Ort mit ihnen teilst, könnte für euch alle einen Moment herrlicher Leichtigkeit ermöglichen.

Wichtig ist es in der Erneuerungszeit auch, ganz besonders intensiv für deine körperlichen und seelischen Bedürfnisse zu sorgen:

  • viel, viel Wasser trinken
  • lange schlafen 
  • an der frischen Luft bewegen, spazieren gehen
  • Sonne tanken wenn sie sich zeigt
  • kuscheln mit Haustieren, Menschen mit denen dies möglich ist, aber auch flauschigen Decken oder Kissen
  • Berührung schenken und empfangen, auch einfach von dir selbst für dich selbst 
  • leckeres Essen für dich zuzubereiten (oder auch die Gastronomie vor Ort durch Bestellungen zu unterstützen)
  • dir selbst Wärme spenden, um mehr Geborgenheit spürbar zu machen
  • mit großen oder kleinen Taten für jemand anders etwas Liebes tun
  • vor allem wenn du dich ängstlich oder angespannt fühlst und dein Nervensystem Unterstützung dabei braucht, sich selbst zu regulieren:
    • es kann richtig gut tun, extra viel Zeit draußen zu verbringen und dabei Kontakt und Begegnungen mit den nicht-menschlichen Wesen um dich herum zu suchen.(Wenn dich das mehr interessiert, könnte vielleicht unsere Naturkultur-Weiterbildung was für dich sein?)
    • Entspannung sanft fördernde, geführte Meditationen anhören wie diese wunderbaren (englischsprachigen) von Marianne Bentzen, aufgenommen während des Lockdowns im Frühjahr 2020, oder auch die Baum-Meditation von Katharina Voigt (Meditieren ist nicht für alle Menschen wohltuend, sondern kann im schlimmsten Fall starke negative Auswirkungen haben. Es ist hilfreich nur so viel zu meditieren, wie es sich für dich selbst auch wohlig anfühlt.)
  • und was immer deinem Körperwohl noch gut tut!

Möchtest du mehr darüber lernen, wie du Menschen auf deren Lern- und Lebensweg unterstützen
und begleiten kannst? Dann könnte dir unser Online-Paket zum Thema Mentoring gefallen….

Möchtest du Erneuerungs-Räume für dein Team, deinen Freundeskreis oder andere Gruppen ermöglichen? Dann könnte dir vielleicht unser Leadership Training gefallen…

… unsere Gedanken zur politischen Lage rund ums
Thema Impfen und die Anti-Corona-Maßnahmen-Proteste,
von Elke Loepthien-Gerwert & Aaron Gerwert
(You can read this article in English here.)

Lernen aus der Vergangenheit

Als ich in der Grundschule das erste mal über die NS-Zeit hörte, war meine Oma Gertrud fast 80 Jahre alt. Für mich war sie eine tolle Großmutter, die oft stundenlang mit mir spielte. Die „alte Trude“ war eine zierliche, zähe Selbstversorgerin auf dem Land und wurde von den andern Kindern im Dorf oft “die Hexe“ genannt.

Denn sie sprach und benahm sich „verrückt“ – auf eine auch von Psycholog*innen diagnostizierte Weise. Mit ihren schrägen, manchmal lustigen und oft erschreckenden Aktionen ließen sich viele Bücher füllen (zum Beispiel wie sie einmal ihren Spaten schnappte und über Nacht eine gesamte Apfelernte vergrub, damit niemand anders die Früchte klauen könnte).

Was mich aber besonders verstörte: Oma Gertrud war eine glühende Verehrerin von Hitler.

Trotz ihrer kauzigen Art liebte ich meine Großmutter inniglich, und ihre unverschämt rosarote Sicht auf eine der wohl schrecklichsten Phasen der Menschheitsgeschichte beunruhigte mich schon damals zutiefst.

Dabei leuchteten ihre Augen so unschuldig und froh, als sie über die „beste und schönste Zeit“ ihres Lebens sprach – während derer ihre Landsleute schätzungsweise 17 Millionen Menschen grausam ermordeten.

Die Erfahrung mit der Blauäugigkeit meiner Oma angesichts der unfassbaren NS-Gräueltaten entzündete für mich zwei glühende, drängende Fragen, die auch heute noch in mir wirken und in den letzten Monaten immer schmerzlicher und dringlicher in mir brennen:

Was um alles in der Welt kann dazu führen, dass Menschen zu Rädchen im Getriebe einer absolut lebensverachtenden Diktatur werden und es noch nicht mal merken?

Und vor allem: Wie können wir solch eine Dynamik frühzeitig genug erkennen (in anderen und in uns selbst) und das Ganze verhindern?

Die Bedeutung von Fakten

Hannah Arendt, die jüdisch-stämmig und überzeugte Sozialdemokratin war, 1933 vor den Nazis aus Deutschland floh und bis zu ihrem Lebensende in New York lebte und publizierte, beschäftigte sich sehr intensiv mit diesen Fragen.

Eines ihrer bekanntesten Zitate aus ihrer Erforschung des Nationalsozialismus war: „Die idealen Personen für ein totalitäres System sind nicht der überzeugte Nazi oder die überzeugte Kommunistin. Sondern es sind alle die Menschen, denen es überhaupt nicht mehr möglich zu sein scheint, zwischen Fakten und Fiktion (also dem, was real erlebbar ist) sowie zwischen wahr und falsch (als Standard für unser Denken) unterscheiden zu können.

Dabei scheint hier und heute genau das einzutreten. Denn immer wieder höre ich in letzter Zeit in Gesprächen die eine oder andere Variation der Aussage: „Man kann ja gar nicht mehr wissen, was man glauben soll. Jede*r hat seine eigene Sicht auf die Wirklichkeit und die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen oder ganz woanders.“

In unseren Kursen und Artikeln sprechen und schreiben auch wir oft darüber, wie wichtig es ist, die Bedürfnisse und Weltsicht von anderen anzuerkennen, um friedvoll miteinander existieren zu können. Dabei geht es jedoch um persönliche Bedürfnisse und Meinungen.

Dies geht aber immer nur dann, wenn wir genug gemeinsame Basis haben, auf deren Grundlage wir ein Gespräch führen können.

Wir brauchen eine gemeinsame Basis

Genau diese gemeinsame Basis ist gesellschaftlich betrachtet gerade extrem gefährdet.

Denn ausgelöst durch die Pandemie sind wir auf einmal deutlich konfrontiert mit nicht nur all dem, was an altbekannten Themen langsam über Jahrzehnte oder Jahrhunderte entstanden ist, sondern da sind plötzlich hochkomplexe Vorgänge, die für einzelne Personen von vornherein unüberschaubar sind und für die Menschheit insgesamt ganz neu.

Deshalb konnte Corona so rasant verstärken und vervielfachen, was als unterschwellige Entwicklung schon länger zu beobachten ist: die Zerstörung einer gemeinsamen Basis von Fakten, die durch wissenschaftliche Methodik möglichst objektiv gewonnen wird und glaubhaft für alle Menschen eine gemeinsame Grundlage für Gespräche, Verhandlungen und ein friedvolles Miteinander bildet.

Echte Fakten sind essentiell für eine demokratische Gesellschaft

Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder, der sich ebenfalls intensiv damit beschäftigt, wie totalitäre Regime entstehen können, beschreibt es in einem Interview (ab 03:00 min) folgendermaßen:

„Die Deutschen, die Sowjets und andere Nationen, die einen Zusammenbruch der Demokratie erlebten, waren nicht weniger schlau, als wir es heute sind, vielleicht sogar schlauer. Deshalb ist es vielleicht an der Zeit, dass wir von ihnen lernen, was wir tun können, um unsere Demokratie zu schützen. (…) Fakten aufzugeben bedeutet, die Wahrheit aufzugeben. Wenn nichts wahr ist, dann kann niemand Machtausübung kritisieren, weil keine Basis mehr da ist, auf der wir dies tun könnten.

Wenn nichts wahr ist, dann ist alles nur ein Schauspiel. (…) Was ist die Verbindung davon zu ,Post-Truth‘ (= im Deutschen zur„post-faktischen“ Demokratie)?

Das hat damit zu tun, was Faschismus tut: Faschismus suggeriert dir, dass gar nichts wahr ist: Dein tägliches Leben ist nicht wichtig. Tatsachen, die du dachtest zu verstehen, sind nicht mehr wichtig. Das einzige was zählt, ist der Mythos – der Mythos einer vereinten Nation (…).  Wir glauben vielleicht, eine Gesellschaft voller offenkundiger, geduldeter Lügen ist etwas Neues, oder es würde keinen Unterschied machen. Aber was Post-Truth in Wirklichkeit macht, ist, den Weg zu bahnen für einen Systemwechsel.

Denn wenn wir keinen Zugang mehr zu Fakten haben, können wir einander nicht vertrauen. Ohne Vertrauen gibt es keine Gesetze. Ohne Gesetze gibt es keine Demokratie. Wenn du also einer Demokratie ihr Herz herausreißen willst, wenn du sie direkt vernichten willst – dann vernichtest du als erstes die Fakten.“

Die Frage ist also: Gibt es gerade überhaupt echte Fakten und wenn ja, wie können wir sie finden?

Die Macht von Falschmeldungen und Lügen durchschauen lernen

Unser Gehirn ist wie Teflon für Positives und wie Klettverschluss für Negatives“, sagt der Psychologe Rick Hanson. Damit ist auch klar, warum jede Lüge oder Falschmeldung, die wir hören, eine grundsätzliche Wachsamkeit oder Voreingenommenheit erzeugen kann, so nach dem Motto: „Ein Körnchen Wahrheit wird schon dran sein.

Dem ist aber oft überhaupt gar nicht so. Viele öffentlich verbreitete Lügen sind einfach nur komplett falsch. Aber weil Falschmeldungen so intensive (emotionale) Reaktionen auslösen können, verbreiten sie sich auf Twitter etwa sechsmal schneller als echte Nachrichten.

Es scheint außerdem oft regelrecht unmöglich, einmal gehörte Falschnachrichten später vollständig durch andere Tatsachen zu ersetzen – sie scheinen regelrecht in unseren Köpfen festzustecken.

Facebook und Instagram haben 2018 ihren Algorithmus umprogrammiert, von „zeig den Leuten das, was sie am längsten online hält“ zu „zeig ihnen das, was sie zu den stärksten Reaktionen provoziert“.

Die Folge davon ist (wie die Whistleblowerin Frances Haugen im ausführlichen Interview erklärt), dass Menschen in diesen Netzwerken bombardiert werden vor allem mit Nachrichten, die intensive Emotionen auslösen, allen voran Wut. Und was sind das für Nachrichten?

Nicht der Wut verfallen

Natürlich nicht die, die angesichts einer komplexen weltweiten Krise überlegt und sachlich nach Lösungen suchen. Sondern solche, die unsere Entrüstung wecken – beispielsweise also Falschmeldungen, die Wut schüren und meist eine Wut, die wir gegen andere Menschen richten können.

Dazu kommt dann noch, dass wir dazu tendieren, etwas für umso wahrer zu halten, je öfter wir es hören – SOGAR, wenn wir am Anfang eigentlich dachten, dass es nicht stimmt.

Besonders besorgniserregend ist daran: Sogar wenn wir selber weder Facebook noch Instagram, noch andere soziale Medien benutzen, spüren wir doch deren Auswirkungen, durch Ansichten und Verhalten der uns umgebenden Menschen (und Organisationen), die sich in diesen Räumen aufhalten. Laut den veröffentlichten internen Studien ist dies auch bei Facebook allen bekannt und wird in Kauf genommen.

Denn Menschen, die sich in Social Media tummeln (drei Milliarden Menschen allein bei Facebook), werden seit nun fast drei Jahren systematisch darauf konditioniert, mehr Reaktionen zu bekommen, indem sie selbst auch Posts und Kommentare abgeben oder zumindest weitergeben, die Wut provozieren, ein Phänomen, das die Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen auch anspricht.

Verschwörungserzählungen – die folgenschwerste Sorte von Falschmeldungen

Schauen wir zurück zum Nationalsozialismus und der Frage, wie die Menschen der NS-Zeit den Hass und die Gewalt vor sich selbst rechtfertigen konnten?

Wir als Circlewise Institut beschäftigen uns ja sonst sehr viel mit den Forschungen darüber, wie viel Gutes in uns Menschen von Geburt an steckt, und sammeln beglückt seit vielen Jahren die wachsende Zahl von Belegen und Erklärungen dafür, dass wir eigentlich eine zutiefst kooperative und altruistische Spezies sind.

Dass trotzdem das Gegenteil passiert, hat viel mit dem Phänomen von „Entmenschlichung“ zu tun. Dabei wird Personen vereinfacht gesagt ihr „Wie-wir-Sein“ aberkannt.

Und kaum etwas eignet sich besser für das Entmenschlichen von anderen als Verschwörungserzählungen.

Was sind Verschwörungserzählungen?

Zusammengefasst aus der Sammlung der Amadeu Antonio Stiftung und utopia.de geht es um:

  • eine Gruppe von als mächtig wahrgenommenen Personen (den Bösen),
  • die heimlich Geschehnisse steuern und manipulieren würden.
  • Die „Wirklichkeit“ sei also ganz anders als die gängige/öffentliche Meinung zu dem Thema/Ereignis.
  • Damit würden diese Superschurken allen anderen Menschen (den Guten) schaden,
  • und zwar oft mit einem immensen Aufwand an Energie, Technik, Raffinesse u.v.m.
  • Für die Verschwörung werden jede Menge Indizien/Beweise herangezogen (die oft unterhaltsam und auch überraschend, weil scheinbar zufällig sein können).
  • Eingeweihte können diese vermeintlichen Indizien lesen und interpretieren lernen,
  • zum Beispiel durch die Frage danach, wem das Unglück eigentlich am meisten nützt.
  • Verschwörungstheorien lassen sich (anders als wissenschaftliche Theorien) nicht durch Argumente aus dem Weg räumen – egal was man sagt, es kann keinen endgültigen Gegenbeweis geben.

Warum glauben wir sie so leicht?

In ihrer Buchreihe „Fake Facts“ und „True Facts“ erörtern Pia Lamberty und Katharina Nocun ganz ausführlich die Auswirkungen von Verschwörungserzählungen auf Menschen und betonen, wie anfällig wir alle für solche Geschichten sein können.

Je unsicherer eine Situation ist, desto leichter würden Menschen einen gewissen Trost in Verschwörungsnarrativen suchen. Diese bieten uns in einer echt komplizierten Situation etwas ganz Einfaches. Deshalb tauchen sie auch oft direkt im Anschluss an große, verstörende Ereignisse auf – wie beispielsweise nach dem Massaker an der Sandy-Hook-Grundschule in den USA. Hier wird den Eltern und Angehörigen der Kinder noch heute unterstellt, dass sie bezahlte Schauspieler seien, die das Massaker nur inszeniert haben, um Argumente dafür zu konstruieren, dass das Waffengesetz der USA geändert wird.

Die ersten Verschwörungstheorien rund um die Pandemie und damals schon zum Thema Impfen begannen auch direkt nach dem Auftauchen des Corona-Virus zu kursieren.

Auch wenn Verschwörungserzählungen inhaltlich oft verzwickt, verschachtelt und kompliziert sind, bieten sie gleichzeitig doch genau die Form von Einfachheit, nach der wir uns in Momenten der Verunsicherung sehnen: Sie definieren für uns, wer gut und wer böse ist, und natürlich sind wir die Guten.

Damit ist eines unserer Hauptbedürfnisse, nämlich uns selbst auf der Seite der Guten zu wissen, gestillt und versorgt.

Der Hunger nach Erkenntnis und Bestätigung lockt uns weiter

Zusätzlich können sie dafür sorgen, dass unser Körper Dopamin freisetzt, wenn wir uns tiefer und tiefer in die verschlungenen Wege der Verschwörungsgeschichte und der darunterliegenden größeren und älteren Verschwörungsmythologie hineinarbeiten (denn alle Verschwörungsgeschichten können nebeneinander existieren, sogar obwohl sich manche logisch eigentlich ausschließen sollten).

Jedes Puzzle-Teil, das wir finden, setzt Glücksgefühle frei und stärkt nach und nach in uns die Gewissheit, dass wir nicht nur zu den Guten gehören, sondern bald auch zu den Eingeweihten, zu denen, die die Sache erkennen, verstehen und durchblicken, wie sie wirklich ist – im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung.

Das vermeintlich Böse im andern zu sehen begründet Radikalisierung

Ein wichtiger Aspekt für die gesellschaftlich schädigende Wirkweise von Verschwörungserzählungen ist die Mächtigkeit oder eigentlich Übermächtigkeit, die den Verschwörer*innen zugesprochen wird:

In dem Moment, wenn wir uns selbst als schwach und wie ausgeliefert gegenüber einem absolut übermächtigen Gegner empfinden, kann in uns ein echter Überlebensmodus erwachen.

Das bedeutet, was auch immer notwendig ist, um uns selbst und unsere Liebsten zu beschützen, erscheint dann gerechtfertigt.

Die Nazi-Gräuel begründeten sich auf jahrzehntelangem Anfeuern von teilweise jahrhundertealten Verschwörungsmythen gegen Menschen jüdischer Abstammung.

Wenn alle Mittel wie Notwehr erscheinen

Seit fast zwei Jahren radikalisieren sich in vielen Ländern weltweit immer mehr Menschen im „Widerstandskampf“ gegen eine vermeintliche übermächtige „Elite“ und deren „Handlanger“.

Ein Grund, warum die Verschwörungs-Narrative rund um Corona und das Impfen sich so rasant verbreiten konnten, ist aus meiner Sicht die Beteiligung der rechten Szene von Anfang an.

Medien und Menschen, die den Holocaust leugneten oder verharmlosten, wurden zur Plattform und nutzten die Anfangszeit, als große Unsicherheit selbst unter den Expert*innen bestand, um Halbwahrheiten oder Lügen eine Bühne zu geben und damit selbst ein größeres Publikum zu erreichen.

Auch die entstehende Querdenker-Bewegung hatte von Anfang an Verbindungen in die rechte Szene. Immer wieder gab es Redner*innen von rechts außen, eine sich immer noch verstärkende Nähe zur AfD.

Wenn man sich nicht klar gegen rechts abgegrenzt

Anders als viele Protestbewegungen der letzten Jahre (Ende Gelände, Hambi bleibt, Friday’s for Future u.v.m.) grenzt sich die Querdenker-Bewegung nicht von rechtsextremem Gedankengut und Akteur*innen ab. In ihrem Manifest heißt es vielmehr: Wir sind überparteilich und schließen keine Meinung aus.“

Wir vermuten, dass dies unter anderem daran gelegen haben könnte, dass in den Querdenker-Kreisen Menschen zusammenkamen, die sich schon viele Jahre lang kaum oder gar nicht für Politik interessierten – einfach weil es nicht notwendig war.

Politikwissenschaftler*innen haben immer wieder gezeigt, dass man rechte Propaganda oft schwerer erkennen kann, wenn man nicht weiß, worauf man achten muss. Der Grund dafür ist, dass rechtsextreme Parteien und Organisationen eben populistisch agieren, also öffentliche Ängste, Stimmungen und Meinungen aufgreifen und instrumentalisieren, so wie es ihnen gerade passt, einfach um so viele Menschen wie möglich auf ihre Seite zu ziehen.

Wenn Wut blind macht

Die gut erforschte Grund-Strategie rechtspopulistischer Gruppierungen ist es, Reiz-Themen, die viel Wut-Potential in sich tragen, aufzugreifen, hierzu die öffentliche Stimmung weiter und weiter anzuheizen und sich dann als einzige Rettung zu präsentieren – eben so wie die AfD dies seit letztem Jahr praktiziert, leider erfolgreich: In einer Studie zu Querdenker*innen in Baden-Württemberg zeigte sich, dass 2021 doppelt so viele von ihnen die in Teilen vom Bundesverfassungsgericht als rechtsextrem eingestufte AfD wählen wollten.

Von den aktuellen „Spaziergängen“ sind viele von Rechten mitorganisiert, und diese sind präsent dabei. Der Rückenwind der vielen Teilnehmenden wird von einzelnen genutzt, um öffentlich Journalist*innen zu bedrohen und anzugreifen.

Gewalttätige Parolen, Symbole und Forderungen werden durch die intensive Beteiligung von Rechtspopulisten zu einer neuen Normalität gemacht, die von den Anwesenden in diesem emotional aufgeladenen Raum oft anscheinend widerspruchslos akzeptiert wird.

Wenn Gewalt normalisiert wird

Rechtsextreme Gruppierungen schrecken nicht vor Gewalt zurück und immer mehr Menschen aus der bürgerlichen Mitte, die eigentlich Frieden und Gemeinschaft wollen, radikalisieren sich mit ihnen.

Es bricht mir das Herz mitzubekommen, wie Journalist*innen, Politiker*innen, Ärzt*innen und einfach Bürger*innen auf den Demos und in der Zeit dazwischen bedroht oder angegriffen werden.

Viele von ihnen berichten über Wellen von Drohungen, ihre Privatadressen und Fotos werden in den sozialen Netzwerken veröffentlicht, mit der Aufforderung, ihnen das Leben schwerzumachen, gerade Journalistinnen bekommen Vergewaltigungsdrohungen geschrieben oder zugerufen.

Politiker*innen wird gedroht, sie zu hängen oder zu erschießen – und mitlesende, mitlaufende Menschen nehmen das einfach hin. Wenn diese Art von verbalen Wutausbrüchen und Drohungen so massenhaft akzeptiert wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Taten folgen.

Und auch das wurde in den letzten Monaten schon sichtbar, wie viel tätliche Gewalt bei den Anti-Masken-/Anti-Impf-Demos geduldet wurde.

Wenn Gewalt weiter mobilisieren soll

Mich hat es bis in die Knochen erschüttert, als eine Gruppe von Menschen sich mit brennenden Fackeln vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin versammelt hat. Solche schrecklichen, verstörenden Bilder kenne ich nur aus der Geschichte, von der SA, der „Sturmabteilung“ der NSDAP, die im Dritten Reich durch solche Aufmärsche (Fackelaufmärsche und auch Vorbeimärsche) Macht demonstrierte. Der Historiker Daniel Siemens sagt in einem Interview: „Die SA war eine Art Werbetruppe für die NS-Bewegung, die ja im Parlament lange Zeit gar nicht vertreten war. Man nutzte die Gewalt der Straße, um auf sich aufmerksam zu machen. Zugleich war die SA wichtig, um durch gemeinsame Erlebnisse wie Aufmärsche, paramilitärische Lager und auch gewaltsame Überfälle Gemeinschaft zwischen den Nationalsozialisten zu stiften.“

Seit dem ersten Aufmarsch dieser Art ist unzählige Male zu weiteren „Hausbesuchen“ aufgerufen worden, und einige andere wurden auch gestartet (und glücklicherweise vorher gestoppt).

Mordpläne, Anschläge auf Impfzentren, Grabkerzen vor Arztpraxen, Drohbriefe gegen Medien oder Politiker*innen  und tägliche Tötungsaufrufe – das alles zu dulden, sich nicht explizit und vehement dagegen auszusprechen, erwächst in meinem Verständnis einer zutiefst menschenverachtenden und skrupellosen Demonstrationskultur.

Wenn sogar Töten legitim erscheint

Selbst der Mord an einem Studenten wurde von vielen Querdenker*innen nicht verurteilt, sondern unfassbarerweise vielmehr gefeiert. Er hatte als Tankwart einen Kunden auf die Maskenpflicht hingewiesen, woraufhin dieser eine Pistole holte und dem 20-Jährigen in den Kopf schoss, um, wie er der Polizei später sagte, „ein Zeichen zu setzen“.

Wenn du das alles liest und denkst, dass das weit, weit weg von uns ist, lass mich dir erzählen, dass auch Menschen aus unserem größeren Netzwerk im Dunstkreis von Querdenken unterwegs sind und sogar auf uns zugekommen sind, uns einladen haben, doch auch Teil dieser angeblichen Protestbewegung für „Frieden und Freiheit“ zu werden.

Da war bei einigen Menschen, die selber schon Verbindungskultur-Veranstaltungen erlebt haben, vielmehr eher Verwunderung oder sogar Erschrecken darüber, dass wir nicht von vornherein Teil des Ganzen sein wollen und sind.

Woran liegt es, dass Menschen aus unserem Umfeld sich zu Querdenken zugehörig fühlen können?

Wir sind nicht automatisch „die Guten“

Immer wieder erleben wir, wie verbreitet es in naturverbundenen, spirituellen Kreisen ist, sich selbst und die Peergroup als „irgendwie einfühlsamer, bewusster, gesünder, vernünftiger, aufgeklärter, wissender“ und vieles mehr zu empfinden und zu präsentieren.

Seit vielen Jahren setzen wir uns dafür ein, dieses im Kern regelrecht selbstherrliche Bild durch mehr Demut zu ersetzen – weil es einfach nicht trügerischer sein könnte und, wie wir jetzt gerade erleben müssen, unendlich viel Leid in die Welt zu bringen vermag!

Denn leider haben Geschichte und Sozialforschung gezeigt, dass die Prioritäten in naturverbundenen, esoterisch-spirituellen Kreisen schon öfter eben überhaupt gar nicht besonders menschenfreundlich gesetzt wurden und werden.

Mich beschäftigt dabei seit langem die Lebensreform-Bewegung der vorletzten Jahrhundertwende, ein buntes Sammelsurium aus Menschen, die für naturnahes Leben, Einfachheit, spirituelle Erfahrungen, Tierrechte und biologische Landwirtschaft, alternative Heilkunde und körperliche Freizügigkeit und Wohlergehen sowie Gemeinschaft eintraten – also eigentlich für das Gute im Menschen, oder?

Eine verbreitete Version der Geschichte ist, dass die Nazis diese wundervolle Bewegung auslöschten.

Nicht nur für was wir einstehen zählt, sondern auch was tabu ist und bleibt

Tatsächlich aber sind viele der Menschen aus der Lebensreformbewegung im Nationalsozialismus regelrecht aufgegangen, wurden zu Akteur*innen innerhalb der NSDAP und bereiteten den geistigen Boden für die nationalsozialistische Ideologie.

Einer der prominenteren Vertreter der Lebensreform gründete beispielsweise schon 1919 den Hakenkreuz-Verlag als ein „Geistesbollwerk für kultur-völkische Ziele“.

Ebenso erschreckend sind die rassistischen und antisemitischen Wurzeln der Anthroposophie, auch wenn Rudolf Steiners eigene antisemitischen Äußerungen laut Waldorf-Verbänden von anderen Äußerungen relativiert werden, in denen er sich deutlich gegen den Antisemitismus aussprach.

Viele Historiker*innen sehen einen klaren Zusammenhang zwischen der Natur-Romantik in deutschsprachigen Ländern und latenten Vorurteilen gegenüber allen möglichen Formen der Moderne, unter anderem eben auch gegenüber der oft explizit als „jüdisch“ angesehenen Schulmedizin“ (ein Begriff, der vom Homöopathie-Begründer Hahnemann geprägt wurde).

Für uns ist ganz klar die Hauptfrage hierbei: Wenn Naturheilkunde-Fanatismus historisch solide dokumentiert schon einmal den Steigbügel für ein totalitäres Regime gehalten hat – wie können wir verhindern, dass das wieder passiert?

Vor allem scheint es sehr deutlich, dass wir unsere Werte nicht nur auf eine positive Weise nutzen sollten, – als das, wofür wir uns einsetzen -, sondern auch als ein Standard-Maß, mit dem wir überprüfen können, wofür wir uns auf keinen Fall einsetzen wollen, selbst wenn es uns Vorteile bieten würde.

Die Rolle des Themas Impfen

Besonderen Aufwind bekam die alternative Heilkunde in der NS-Zeit, unter anderem aufgrund eines polarisierenden Umgangs mit dem Thema Impfen (denn damals gab es bereits mehrere Jahrzehnte lang eine Impfpflicht und 1930 auch das größte Impfunglück des 20. Jh., als in Lübeck 77 Säuglinge aufgrund von verunreinigten Tuberkulose-Präparaten sterben ).

Reichsärzteführer Gerhard Wagner betonte 1933 die ‚Überlegenheit‘ der Alternativmedizin gegenüber der ‚verjudeten Schulmedizin‘. Um dieser die Homöopathie entgegenzusetzen, gründeten die Nazis 1935 die ‚Reichsarbeitsgemeinschaft Neue Deutsche Heilkunde‘. Deren Mitglieder waren unter anderem der ‚Deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte‘, der ‚Reichsverband der Naturärzte‘ und die ‚Vereinigung anthroposophischer Ärzte‘. 1933 zeigt das NS-Propagandablatt ‚Der Stürmer‘ die Karikatur einer Mutter mit Baby im Arm. Daneben steht ein ’naturferner und verirrter Mediziner‘ mit einer Spritze in der Hand. Mit der Hakennase des Arztes erfüllt die Karikatur klar antisemitische Klischees. Skeptisch blickt die Mutter auf den Mediziner: ‚Es ist mir sonderbar zumut, denn Gift und Jud’ tut selten gut.‘

Im Zusammenhang mit Impfungen habe der Antisemitismus eine lange Geschichte, sagt der Medizinhistoriker Malte Thießen, der am Institut für Regionalgeschichte Münster und an der Universität Oldenburg forscht. Das Impfen werde teils als ‚Verschwörung einer Elite‘ begriffen, ‚die in den Körper eingreift‘.

Wenige Menschen hätten voraussehen können, dass heute ausgerechnet das Thema Impfen wieder (und vermutlich sogar in stärkerem Maße) so eine prominente und potente Rolle im gesellschaftlichen Diskurs bekommen würde. Es ist jetzt dreißig bzw. vierzig Jahre her, seit die Pocken-Impfpflicht in Deutschland aufgehoben wurde.

Ein altes Thema, das sich gut zum Polarisieren eignet

Wer hätte geglaubt, dass sich das Thema Impfen tatsächlich anbieten würde, von Rechten genutzt zu werden, um derart zu polarisieren und Menschen zu mobilisieren, die vorher in der gesellschaftlichen Mitte oder sogar mit eher linken Einstellungen unterwegs waren?

Aber das ist genau das, was im Moment geschieht – somit ist dieses Thema, das persönliche Aspekte hat, aus unserer Sicht gerade einfach kein neutrales oder rein persönliches Thema mehr.

Ein rein persönliches Thema war das Impfen zu Beginn der NS-Zeit eben auch nicht. Schon seit dem Aufkommen der allerersten Impfungen (gegen die Pocken) gab es eine Scheu vor dem Impfen.

Von den Nazis wurde diese ganz gezielt weiter angestachelt und für Propaganda genutzt. In einem mdr-Beitrag hierzu wird zitiert: Durch ,Einimpfen von Krankheiten‘ solle die Menschheit der ,jüdischen Geldherrschaft unterworfen‘ werden. Und Julius Streicher, der Gründer und Herausgeber des Hetzblatts ,Der Stürmer‘, fabulierte, dass ,Impfungen von den Juden als Rassenschande in die Welt gebracht worden seien‘, so der Medizinhistoriker Thießen.“

Das änderte sich übrigens bald wieder, als erkannt wurde, dass fehlende Impfungen die Wehrmacht im Kampf gegen die anderen Nationen schwächen würden. Der NDR schreibt: „Am Ende setzt sich jedoch das Reichswehrministerium mit seinen Argumenten durch, eine Abschaffung der Impfpflicht könnte der Schlagkraft und Wehrfähigkeit des Deutschen Reiches schaden. Die Diphtherie-Impfung bleibt allerdings freiwillig. Aber der soziale Druck ist hoch, denn die Impfung wird als Dienst an der Volksgemeinschaft verstanden. Propagandafilme sollen die Impfwilligkeit in der Bevölkerung stärken. Die Nationalsozialisten arbeiten mit Parolen, die überzeugender sind als jede Impfpflicht.“

Das alles sind Zusammenhänge, die heute in unserem alternativen Umfeld kaum jemandem bewusst zu sein scheinen.

Die Fallstricke der Esoterik

Für mich ist im Kern des Ganzen, was da passiert, ein tiefer Zynismus wahrnehmbar – den ich aus der Esoterik kenne, und der manchmal unter dem Sammelbegriff „Spiritual Bypassing“ läuft – wenn ich mir das Unbequeme in der Realität durch pseudo-spirituelle Konzepte quasi weg-erkläre, Mit-Verantwortung oder auch ganz natürliche Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit einfach wegschiebe.

In der Esoterik-Szene ist es beispielsweise sehr verbreitet, Kranken die Schuld für ihr Leiden selbst zuzuweisen. „Schandtaten in einem früheren Leben“ werden da genauso genannt wie „falsche Ernährung“ oder „zu viel Negativität im Denken“.

Ähnliche menschenverachtende Aussagen habe ich auch immer wieder über die Corona-Toten gehört: „Die wären sowieso gestorben.Wer krank wird oder stirbt, hat einfach irgendwas falsch gemacht, vielleicht einfach zu viel Angst vor dem Virus gehabt?

Warum sind wir „alternativen Leute“ so anfällig für Verschwörungs-Ideologien?

In der alternativen Szene, zu der wir uns (zumindest bis jetzt noch!) auch zählen, ist die Fixierung auf ein ideales Leben, ein echtes, wahrhaftiges, bestes Leben so groß, dass die Sehnsucht danach manchmal wohl den gesunden Menschenverstand beim Denken und Entscheiden behindert.

Vor allem aber scheint die Gefahr groß, sich selbst zu überhöhen und in Arroganz zu verfallen.

Eine Studie vom letzten Sommer für Baden-Württemberg hat gezeigt, dass die gesamte Querdenken-Bewegung hier zu einem Großteil aus Personen besteht, die dem alternativen Milieu und/oder dem anthroposophischen Milieu angehören.

Es heißt darin: „Die beiden Milieus weisen strukturelle und ideelle Gemeinsamkeiten und Überschneidungen auf. Unter anderem Ganzheitlichkeit, Individualität, Selbstbestimmung und Naturverbundenheit stellen geteilte Bezugspunkte (dar). (…) Es führt aber kein direkter Weg vom (ehemaligen) linksalternativen Milieu zum ,Querdenkertum‘ im 21. Jahrhundert.

Es handelt sich gerade um die Transformation dieses Milieus, in der von den linken Politikformen und linken Werten wie Solidarität und Gleichheit im Grunde nichts mehr übrig ist.“ (Hervorhebung von mir)

Wenn Selbstverwirklichung und individuelle Freiheit im Zentrum stehen

In der Studie heißt es weiter: „Geblieben sind vor allem Lebensstile der Körperpolitik und der Selbstverwirklichung, die Idee der Ganzheitlichkeit, häufig (aber nicht immer) eine spirituelle und vor allem anthroposophische Überzeugung und ein libertäres Freiheitsverständnis.“ 

Besonders verstörend ist dabei, dassdie Bewegung durch eine tiefe Entfremdung von Kerninstitutionen der liberalen Demokratie gekennzeichnet ist. 

Der parlamentarischen Politik und den Parteien, der Wissenschaft und den Medien – allen öffentlichen Institutionen schlägt großes Misstrauen entgegen. Die von uns analysierten Wählerwanderungen legen die Grunddynamik der Querdenken-Bewegung offen, die sich auch für Baden-Württemberg zeigt: Es ist eine Bewegung, die teilweise eher von links kommt, sich aber nach rechts bewegt.“

Auch die Zahlen sprechen hier eine klare Sprache: Während es im Herbst 2017 nur 8 % der Befragten waren, die die AfD wählten, wollten das im Herbst 2021 etwa 20 % Prozent der Personen in der Studie.

Wenn kein Interesse für Politik besteht

Auch andere kommen zu dem Schluss, dass ein Hauptproblem der Mangel an politischem Interesse (und damit auch Kenntnissen und Orientierung) der Menschen ist, die aus der Esoterik-Szene nun im Querdenken gelandet sind.

Wer nicht weiß, wie rechter Populismus funktioniert, kann dem, was man Volksverhetzung nennen kann, so viel leichter zum Opfer fallen. Dies ist vermutlich ein Grund dafür, warum Rechtsextreme schon seit Jahren gezielt die Esoterik-Szene als Brücke ins bürgerliche Milieu nutzen.

Die Illusion, selbst und von alleine die besten Entscheidungen treffen zu können

Ein weiterer Stolperstein gerade jetzt und heute ist sicherlich die irrige Annahme, alle Entscheidungen immer am besten „nach meinem eigenen Gefühl“ zu treffen.

Dies ist vermutlich oft richtig, wenn ich an Entscheidungen denke, die nur mich ganz allein, persönlich betreffen.

Wenn „mein Gefühl“ zu befragen nicht reicht – bei einer Entscheidung, die viele betrifft

Aber es könnte nicht falscher sein, wann immer es um Entscheidungen geht, die Konsequenzen für andere Menschen haben, wie das eben auch beim Thema Impfen ist.

Und ich halte es auch für höchst fragwürdig, wenn es um Entscheidungen geht, bei denen Informationen, Fakten, Kenntnisse eine Rolle spielen, die ich selbst einfach nicht haben, nicht wissen kann.

So ein Fall ist für mich die Frage, ob ich mich gegen Corona impfen lassen sollte oder nicht.

Diese Frage haben wir jedenfalls nicht nur „nach Gefühl“ beantwortet. Sondern uns Wissen, Informationen, Hintergründe und Fakten von vielen Expert*innen angeschaut, die sich seit fast zwei Jahren (und manche schon viele Jahrzehnte lang) damit beschäftigen.

Dabei zeigt sich für uns eine ähnliche Situation wie rund um das Thema Klimawandel: Eine große Mehrheit der Wissenschafts-Community wie auch der Mediziner*innen weltweit sind sich in den meisten Punkten einig.

Eine kleine Anzahl von Personen redet voll dagegen, und beharrt auch auf der Richtigkeit ihrer Argumentation.

Wie also können wir mit all dem umgehen?

Sich trauen, mit Fakten-Checks althergebrachte Vorannahmen zu hinterfragen

Manche Falschinformationen oder Verschwörungstheorien sind so absurd, dass man sie leicht erkennen kann. Andere klingen so unauffällig und sind schon so lange im Umlauf, dass es echt schwer ist, sie überhaupt zu bemerken.

Ich habe auch erst im letzten Jahr herausgefunden, dass die von vielen Menschen in meinem Umfeld wie selbstverständlich vertretene Meinung, dass Impfen an sich gefährlich ist, im Grunde auf jahrhundertealten Verschwörungsmythen basiert.

Seit ich selbst Mutter wurde, habe ich kritische Stimmen zum Impfen gehört und mit so ähnlicher Vehemenz und Souveränität weitergegeben wie die ganz klare Empfehlung, dass man Kindern eben keinen Alkohol zu trinken geben sollte.

Es gibt auch heute jede Menge Heilpraktiker*innen und sogar Ärzt*innen, die grundsätzlich vom Impfen abraten.

Es zeigt sich: Alle grundsätzlichen Impfbedenken sind schon lange widerlegt

Dabei wurden und werden die einzelnen der dramatisch klingenden „Kritikpunkte“ gegen das Impfen schon seit langer Zeit untersucht und ganz klar widerlegt, beispielsweise eine vermeintliche Studie vom britischen Arzt Andrew Wakefield, der 1998 behauptete, die Masern-Mumps-Röteln-Impfung würde Autismus auslösen. Seine These wurde vielfach weitergegeben, obwohl Wakefields Studie (für die er, wie später herauskam, einen hohen Geldbetrag von den Anwälten der Eltern der zwölf in der Studie untersuchten Kinder erhielt) schon in sich so fehlerhaft und/oder regelrecht betrügerisch war, dass sie von der Fachzeitschrift zurückgezogen wurde und er sogar sein Recht verlor, als Arzt zu praktizieren.

Die gesamte Geschichte rund um Wakefield und die unfassbar weiten Kreise, die seine Falschbehauptungen heute noch ziehen, wurde kürzlich investigativ aufbereitet und dokumentiert in einem sehr sehenswerten Dokumentarfilm die online auf arte zu finden ist: „Impfgegner – wer profitiert von der Angst?“.

Vieles von dem, was überliefert ist als Risiken für das Impfen überhaupt, hat also bei genauerem Hinschauen gar keine Grundlage.

Und weil das jetzt vielleicht für dich ganz persönlich oder für andere, die diesen Artikel lesen, ein echter Schock ist, schreibe ich es nochmal langsam:

Vieles von dem, was überliefert ist als Risiken für das Impfen überhaupt, hat bei genauerem Hinschauen gar keine Grundlage!

Hier gibt es einen kurzen und knappen Fakten-Check zu den verbreiteten Behauptungen übers Impfen, mit Erklärungen und Links und hier auch einen noch kürzeren Faktencheck auf deutsch.

In diesem Artikel hier sind einige der wenigen bisher aufgetretenen Fälle von tatsächlichen Impfschäden aufgeführt – die keineswegs vertuscht wurden, sondern allesamt öffentlich durch die Medien gingen. (Zu den möglichen Nebenwirkungen der Corona-Impfung später noch mehr.)

Wie geht ein Fakten-Check?

Es ist zum Glück so viel leichter als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, Falschinformationen zu entlarven.

Für mich ist eine oft sehr fruchtbare und sehr einfache Strategie: eine Online-Suche nach dem Begriff, um den es geht, ODER mit einer bestimmten Behauptung aus einem Fake-News-Beitrag – UND dazu einfach „Faktencheck“ einzugeben.

Oft dauert es nur wenige Tage oder sogar Stunden nach der Veröffentlichung von Beiträgen, bis jemand anders sich die Mühe gemacht hat, sorgfältig den Wahrheitsgehalt zu prüfen oder eben aufzuzeigen, welche Teile der Behauptung oder Argumentation fehlerhaft oder irreführend sind.

Aufdecken, was alles nicht stimmt

Zum Glück gibt es inzwischen einige Menschen, die viel Zeit investieren, um potentielle aktuelle Falschmeldungen und auch althergebrachten Quark direkt aufzudecken. Sie finden und überprüfen Meldungen und zeigen einfach und nachvollziehbar auf, was daran einfach wirklich gar nicht stimmt.

Richtig viele Faktenchecks finden sich auf Plattformen wie https://correctiv.org oder https://faktencheck.afp.com, Faktenfuchs vom BR oder beim „Volksverpetzer“-Team. Hier lohnt es sich auch, einfach mal durchzustöbern und so vielleicht mehr zu erfahren über die eine oder andere Nachricht, die in den letzten Wochen durch die sozialen Medien Verbreitung fanden.

Eine andere Möglichkeit, die ich oft nutze, wenn ich für unsere Blog-Artikel recherchiere: die Autor*innen eines Beitrags oder auch den Titel und die Urheber einer bestimmten News-Plattform oder Webseite einzugeben und dazu „Kritik“ als Stichwort.

So finde ich schnell Beiträge darüber, welche hier vorgetragenen Meinungen oder Vorgehensweisen als kritikwürdig angesehen werden und von wem.

Einen umfangreichen Fundus an Informationen über medizinische Themen gibt es auf dieser Seite: https://medwatch.de:Das Team von MedWatch scannt das Netz nach gefährlichen und unseriösen Heilungsversprechen. Einen Schwerpunkt bilden Recherchen aus der Grauzone des Netzes, in der vermeintliche Heiler ihre Wunder anbieten. MedWatch berichtet und klärt auf.“

(Übrigens konnte ein Großteil der Falschkampagnen rund ums Impfen im englisch-sprachigen Facebook-Raum auf nur ein Dutzend Urheber*innen zugeordnet werden, die diese über diverse Accounts verbreitet haben.)

Kann ich das auch irgendwie abkürzen?

Fakten zu überprüfen ist immer aufwendig, vor allem am Anfang, wenn man selbst überhaupt noch gar nichts über ein Thema weiß.

Es gibt aber eine Menge Kommunikations-Strategien, die als Grundmuster in vielen Falschnachrichten gleich auf den ersten Blick erkennbar sind, beispielsweise falsche Behauptungen als Fragen zu formulieren, eine Technik, die in Boulevard-Medien schon seit langem genutzt wird.

Je besser ich diese Grundstrategien kenne, desto leichter und schneller kann ich Desinformation erkennen.

Hier ist eine umfangreiche Liste von correctiv.org, die ich sehr hilfreich finde, oder auch diese hier vom Landesmedienzentrum Baden-Württemberg.

Und wie steht es um deine Nachrichtenkompetenz? Hier gibt es einen Selbst-Test, der einen Einblick darin ermöglicht, wie gut man im Dschungel der Meldungen und Plattformen zurechtkommt.

Insgesamt kann ich öffentlich-rechtliche Medien sehr empfehlen, oder auch alteingesessene private Medien wie beispielsweise „Die Zeit“ und gerade für investigative Themen auch die „taz“.

Ein Vorteil all der genannten ist, dass deren Berichterstattung zwar auch nicht perfekt ist, sie aber bei Fehlern sogar Richtigstellungen hinterherschicken. Das ZDF hat beispielsweise eine eigene Seite extra dafür.

Die Zukunft braucht, dass wir wissenschaftlichen Erkenntniswegen vertrauen – nicht nur zum Thema Impfen

Wir verfolgen Studien und wissenschaftliche Veröffentlichungen zu allen möglichen Themen und eben auch rund um das Corona-Virus und Covid-19. Natürlich sind auch Wissenschaftler*innen Menschen und können sich somit immer auch irren, Daten falsch interpretieren oder sich von egoistischen Interessen leiten lassen.

Doch der fortlaufende wissenschaftliche Austausch, in den sich unzählige Menschen verschiedenster Institutionen weltweit einbringen, ist für uns einer der inspirierendsten Lernräume überhaupt und ein unglaubliches Geschenk unserer Zeit.

Hier beispielsweise gibt es eine Webseite, auf der Wissenschaftler*innen aus aller Welt sich Medienberichte vornehmen und danach durchsieben, welche Behauptungen wirklich stimmen: https://healthfeedback.org.

Denn so, wie sie es im Titel ihrer Webseite aussprechen, sehen wir es auch:

Korrekte Informationen sind die Grundlage für gelingende Demokratie.

Die Bedeutung dieses offenen, freien und dadurch sehr schnellen Austauschs von Wissenschaftler*innen, öffentlich geteilt mit jedem Menschen, der Zugang zum Internet hat, ist für mich einer der größten Hoffnungsschimmer in der heutigen Zeit. Denn gerade wenn wir an die Klimakatastrophe denken, und an den Umgang mit den vielen Herausforderungen, die sich daraus ergeben werden, wird unser Überleben als Menschheit entscheidend davon abhängen.

Im Grund ist die Frage, wie viel Einflussnahme wir denjenigen Menschen ermöglichen können, die daran interessiert sind herauszufinden, was wirklich hilfreich ist – statt primär politischem oder unternehmerischem Kalkül zu folgen.

Angesichts der Klimakatastrophe, die weltweit schon lange stattfindet und vorhersehbar auf weitaus heftigere Weisen sich weiter ereignen wird, halten wir es für absolut essentiell, den Wissenschaftler*innen zu vertrauen, die dem Aufzeigen echter Fakten verpflichtet sind und ihr Bestes geben, um hilfreiche Strategien zu entwickeln.

Wir stehen dafür ein, dass diese echt tapferen Leute Wertschätzung, Zuspruch und Rückenwind durch unser Handeln und Kommunizieren bekommen, statt wie in den letzten 1,5 Jahren aufgrund ihres Einsatzes für das Impfen und andere unbeliebte aber wichtige Maßnahmen mit Shitstorms und grauenvollen Drohungen bombardiert zu werden.

Warum wir uns für die Impfung entschieden haben

DISCLAIMER: Wir sind offensichtlich beide keine Medizin-Spezialisten! Alles, was wir hier geschrieben haben, ist unser persönliches Verständnis der Situation, sind nur unsere Meinungen und Interpretationen. Wir teilen sie hier, weil verschiedene Menschen uns in den letzten Wochen angesprochen und gefragt haben. Vielleicht können sie eine Anregung sein, selber die aufgelisteten Quellen zu studieren und dort fachlich fundiertere Aussagen zu finden. 

Covid-19 ist eine gefährliche Krankheit

Auf eine Weise ist es tragisch dumm gelaufen, dass Covid als erstes den Ruf einer „Grippe-ähnlichen“ Erkrankung bekam. Denn tatsächlich handelt es sich eher um eine Multi-System-Erkrankung. Neben den akuten Gefahren wie Organschäden und Tod durch Lungenversagen oder Herzstillstand, werden schon seit Sommer 2020 die potentiell verheerenden Langzeitfolgen in Studien immer sichtbarer, beispielsweise eine andauernde Entzündung von Hirnzellen.

Nach einer Studie mit 250.000 ungeimpften Erwachsenen und Kindern in den USA litten mehr als die Hälfte der Erkrankten auch noch sechs oder mehr Monate später unter Langzeitfolgen, von denen viele die Lebensqualität stark beeinträchtigen können (wie der anhaltende Verlust des Geruch- und Geschmackssinns, Konzentrationsschwäche, Gedächtnisstörungen oder Lungenschwäche).

Schäden wurden bei Untersuchungen häufig überall im Körper gefunden, auch an Geweben und Organen, wo die Betroffenen selbst keinerlei Beschwerden feststellen konnten.

Auch Kinder leiden an Long-Covid, selbst wenn die eigentliche Infektion bei manchen völlig symptomlos verlief. Wie viele davon betroffen sind, variiert stärker als bei Erwachsenen, in manchen Studien war aber ebenfalls die Hälfte der infizierten Kinder betroffen.

Im Moment ist es nicht absehbar, welche wirklich langfristigen Folgen die Erkrankung nach sich ziehen wird.

Anfang Januar warnte der finnische Gesundheitsminister, dass Long-Covid die häufigste chronische Krankheit im Land werden könnte und sprach dabei insbesondere die Gefahr einer Vervielfachung von Alzheimer und Parkinson-Fällen aufgrund der neurologischen Auswirkungen im Gehirn an.

Impfen hilft, auch wenn es Ansteckung nicht verhindert

Leider ist Covid keine Krankheit wie die Pocken, die durchs Impfen fast wie völlig ausgeschlossen werden kann. Deshalb wäre es sachlich auch falsch zu sagen, „wer Angst hat, könne sich ja selber impfen und damit schützen“. Vielmehr ist es umso wichtiger, dass so viele Menschen wie möglich solidarisch sind und sich impfen lassen, um mit der Zeit kollektiv eine allmählich wachsende Immunität zu kreieren.

Jetzt mit der Omikron-Variante kann man sagen: Dreifaches Impfen schützt immer noch signifikant vor Ansteckung (und damit auch davor, selber andere Menschen anzustecken). Vor allem aber schützt es deutlich vor schweren Verläufen und damit vor der Notwendigkeit ins Krankenhaus zu kommen, davor an Lungen- oder Herzversagen zu sterben, und es schützt vermutlich (zumindest zeigt sich das in einigen Studien) auch vor Long-Covid-Symptomen.

In einer Studie in Südafrika verringerte selbst eine nur zweifache Impfung den Anteil schwerer Verläufe um 70 %.

Für Schwangere, die an Covid erkranken, besteht ein erhöhtes Risiko, ihr Kind zu verlieren oder selbst einen schweren Verlauf zu haben – gerade für sie wird eine Impfung also besonders empfohlen.

Nicht nur die Impfungen wollen zumindest bis jetzt immer wieder aufgefrischt werden: Am Anfang der Pandemie nahm man noch an, eine Infektion könne vielleicht sogar zu vollständiger Immunität führen. Inzwischen ist jedoch sicher, dass jemand, der schon eine Covid-Infektion durchlitten hat, eine Neu-Infektion erleben kann, sogar schon drei Monate nach der ersten Erkrankung, schätzen einige Forscher*innen.

Impfen hilft, auch wenn es einen Impfdurchbruch gibt

Dabei war der Verlauf in einigen Fällen sogar noch schwerer. Bis jetzt sei es deshalb nicht sicher, aber auch nicht auszuschließen, dass beispielsweise die Antikörper von der ersten Infektion eine zweite sogar verschlimmern könnten. In den frühen Fällen von Re-Infektion sind die Verläufe weniger schlimm gewesen. Insgesamt ist die Datenlage hier aber noch ziemlich dünn. Impfdurchbrüche scheinen auf jeden Fall durchweg milder zu verlaufen.

Dass mehrfaches Impfen einer der bestmöglichen Wege ist, um sich und andere zu schützen, ist aber unangefochten, auch wenn nicht klar ist, wie oft das notwendig sein wird, um beständiger geschützt zu sein.

Deshalb bin ich und sind wir dreimal geimpft. Und deshalb beschäftigen wir uns weiter mit dem Thema – weil auch die Expert*innen beständig dazulernen und sich mit neuen Varianten und vielem mehr die Rahmenbedingungen beständig entwickeln und verändern.

Bei allen diesen Punkten wird deutlich: Nichts verspricht gegenwärtig eine schnelle und endgültige Lösung. Die Krankheit ist eine riesige Herausforderung und es gibt bisher wenig verbindliche Erkenntnisse, und wenn ja, können diese sich auch weiter verändern.

Vor allem sind wir auch aus Solidarität geimpft und für die Freiheit – nicht für unsere persönliche, sondern für die kollektive Freiheit, vor allem auch für diejenigen Menschen, die sich wirklich nicht impfen lassen können, beispielsweise die Jüngsten in unserer Gesellschaft.

Denn auch wenn Kinder insgesamt meist mildere Verläufe haben, breitet gerade Omicron sich so rapide aus, dass an vielen Orten Kinder vermehrt in die Krankenhäuser kommen. Auch leiden sie wie schon geschrieben unter Umständen hinterher an Long-Covid-Symptomen, die ihr Leben wirklich einschränken könnten.

Was wir noch tun können

Gleichzeitig ist es immer noch ganz klar relevant und wirkungsvoll, Schutzmasken zu tragen. Die Ansteckung findet nicht ausschließlich über Tröpfchen-Infektion statt (was nur möglich ist, wenn wir in enger räumlicher Nähe sind), sondern auch über Aerosole (das sind auch Tröpfchen, aber mini-kleine), die sich unter Umständen lange in der Luft eines geschlossenen Raumes halten können.

Umso klarer ist daher die Empfehlung, in Innenräumen Masken zu tragen, vor allem wenn diese nicht gut durchlüftet sind (beispielsweise auf öffentlichen Toiletten, in Gängen usw.).

Schmierinfektionen (durch das Berühren von Oberflächen) sind außerhalb des Gesundheitswesens nicht nachgewiesen und somit zwar nicht ausgeschlossen, vermutlich aber eher selten.

Hände zu waschen und Flächen zu desinfizieren ist also wichtig – Maskentragen, Abstandhalten und Lüften scheint aber wesentlich dringlicher und relevanter.

Impfen hilft – wir alle haben von den Impfungen der Geschichte profitiert

In meiner Lebenszeit konnte ich frei von Impfpflicht leben. Weil viele, viele Jahrzehnte lang Menschen in unterschiedlichen Teilen der Welt für viele der verheerendsten Krankheiten der Geschichte Impfungen entwickelt und verbreitet haben, deren Auswirkungen die Menschen von heute immer noch schützen, zum Beispiel was die berüchtigten Pocken betrifft.

Im 20. Jahrhundert allein starben schätzungsweise 500 Millionen Menschen an Pocken, 30-40 % der Nicht-Geimpften. Manche Forscher*innen gehen davon aus, dass die von weißen Siedlern eingeschleppte Viruserkrankung in Nordamerika je nach Region sogar zwischen 50-90 % der nordamerikanischen Ureinwohner*innen tötete.

Dank der Impfungen jener unzähliger Menschen, die vor allem während des letzten Jahrhunderts ihre persönlichen Zweifel überwanden, bin ich mit dem Privileg aufgewachsen, mich zu meinen Lebzeiten nie um die Pocken kümmern zu müssen, nie auch nur einen Schimmer von Angst davor haben zu brauchen, dass ich selbst oder meine Liebsten von ihnen betroffen sein könnten.

Eine Möglichkeit, die zumindest nicht unwahrscheinlich ist: dass Covid-19 mittelfristig endemisch bei uns werden und dann auch deutlich entspannter für alle Menschen verlaufen könnte.

Damit die Pandemie eine Chance sein kann

Für mich hat die Pandemie viele Prozesse ausgelöst, die ich sonst nicht in dem Maße durchlaufen hätte:

  • der Kontakt mit Falschmeldungen und Verschwörungsgeschichten und mit der Zeit das immer deutlichere und ernsthafte Hinterfragen von Informationen und ihren Quellen,
  • mehr Wissen und Hintergrundinformationen über rechtsextreme Gruppierungen und Personen in Deutschland und Europa,
  • eine ganz neue Wertschätzung für Medien, die ihren Auftrag für sachliche und wahrheitsgemäße Berichterstattung ernstnehmen,
  • Hochachtung für Virolog*innen und andere Expert*innen, die vom Start der Pandemie an im Kreuzfeuer von Erwartungen, Ungeduld, Forderungen, Beschimpfungen, Drohungen standen und trotzdem weiterhin ihr Wissen geteilt haben,
  • eine echte und anhaltende Freude darüber, dass die absolute Mehrheit der Bevölkerung in diesem Land bereit war und ist, Einschränkungen auf sich zu nehmen, jetzt ja schon über einen langen Zeitraum, um vor allem andere Menschen zu schützen.

Gleichzeitig haben die Kontakt-Einschränkungen und anderen Maßnahmen vielen Menschen unsägliches Leid gebracht, was in keinster Weise beschönigt werden kann:

Häusliche Gewalt hat sich vervielfacht, vor allem gegen Kinder und Frauen, angefeuert unter anderem von Quarantäne-Zeiten und Geldsorgen. Depressionen und Angstzustände gerade auch bei Kindern und Jugendlichen haben stark zugenommen.

Jede siebte Firma bangt schon allein in Deutschland um ihr Überleben (so wie wir auch) – wo auch Menschen dran hängen, deren Familien unter der Existenzangst leiden.

Weltweit wurden und werden Millionen von Menschen in den Hunger getrieben.

Gerade weil die Kontaktbeschränkungen vielen Menschen so an die Substanz gehen, sehen wir es jedoch umso mehr als Chance, hier möglichst schnell Linderung zu ermöglichen, wenn viele Leute sich impfen lassen.

Eine andere wichtige Frage ist es, inwieweit wir zusätzlich Verantwortung für unsere Mitmenschen übernehmen können, indem wir selbst auch weniger privilegierte Personen in unserem Umfeld aktiv unterstützen, und eben auch durch unser Verzichten auf individuelle Privilegien dazu beitragen, dass die Lage sich ein klein wenig entspannter weiterentwickeln kann.

Für sonst privilegierte Menschen können Impfen und andere Maßnahmen eine Übung im Verzichten sein

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Unannehmlichkeiten von Maskentragen, Abstandhalten, Kontaktbeschränkungen und Sich-impfen-Lassen vergleichsweise harmlos erscheinen könnten – verglichen mit den Einschränkungen, dem Verzicht oder sogar Leiden, den die weiter fortschreitende Klimakatastrophe für uns bereithält.

Mit all dem, was schon jetzt unwiderruflich aus dem Gleichgewicht geworfen ist, und den Folgen, die das in den kommenden Jahren mit sich bringen wird, werden wir in der Zukunft sicher nicht nur Mobilität neu denken und anders konsumieren müssen als bisher.

Vielleicht wird es vielmehr darum gehen, unseren westlichen Wohlstand und unsere meistenteils durch Jahrhunderte der Ausbeutung entstandenen Privilegien mit dem Rest der Weltbevölkerung zu teilen. Platz zu schaffen für Klimaflüchtlinge, Ressourcen-Knappheiten auszuhalten.

Mir liegt für diese uns bevorstehenden Jahre und Jahrzehnte am Herzen, dass nicht nur meine Liebsten, sondern auch die Gesellschaft im Ganzen sich auf mich verlassen kann – auf meine Solidarität und auf mein aktives Mit-Wirken.

Krisen können das Beste aus Menschen rausholen – aber nur, wenn wir uns auch solidarisch verhalten

Was wir in der Zukunft wohl am dringendsten brauchen werden, ist Zusammenhalt! Dabei schaut die Menschheit auf wenige Jahrtausende voller Zerwürfnisse und gewalttätiger Feindschaft zurück, manche Anthropolog*innen gehen aber davon aus, dass dahinter viele Jahrzigtausende liegen könnten, die von einer Abwesenheit von Krieg geprägt waren.

Viele Sozialforscher*innen vertreten schon seit vielen Jahren die immer besser belegte These, dass wir das Potential und die Vorliebe für friedvolles Miteinander als quasi biologische Grundausstattung mitbringen. Auch insbesondere in schweren Krisenzeiten können unsere Fähigkeiten zur Nächstenliebe regelrecht aufblühen und die Gemeinschaften tragen.

Für uns haben die Monate mit Corona gezeigt, dass Milliarden von Menschen bereit sind, Opfer zu bringen, um zuallererst andere zu schützen. Gerade in der Anfangszeit der Pandemie war das deutlich, als man noch davon ausging, dass die Krankheit vor allem für Ältere und gesundheitlich beeinträchtigte Menschen schwerwiegend verlaufe und für fitte Menschen fast nur glimpflich bleibe.

Es war und ist wunderbar, einen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu spüren, der in den Jahren vor der Pandemie kaum vorstellbar gewesen wäre. An diesem echten und aufrichtigen Zusammenhalt wollen wir teilnehmen, denn wir brauchen einander jetzt – und werden einander in Zukunft immer noch stärker brauchen.

Und was, wenn wir uns trotzdem einfach nicht impfen lassen wollen?

Uns ist natürlich bewusst, dass viele Menschen in unserem Umkreis nicht geimpft sind UND gleichzeitig Gewalt ablehnen und sich selbst niemals als politisch rechts einordnen würden.

Das Tragische gegenwärtig ist jedoch, dass viele dieser Personen, mit denen wir im Gespräch zu diesen Themen sein konnten, sich trotzdem (und zwar ohne es zu wissen) auf Quellen beziehen, die ganz klar rechte Verbindungen hatten oder sogar selbst in der Vergangenheit als Holocaust-Leugner*innen oder Antisemit*innen in der Öffentlichkeit sichtbar waren.

Wenn wir zurückschauen in die NS-Zeit, sehen wir, dass die NSDAP in ihrem ersten Jahr nur 1.700 Mitglieder hatte. Während der gesamten Dauer der Diktatur war es nur ein geringer Anteil der Bevölkerung, der selbst aktiv Gewalt-Taten ausübte. Aber diese Taten wurden getragen, gedeckt und mit stiller Zustimmung legitimiert von vielen Millionen Menschen, die einfach grob dieselbe Ideologie vertraten.

Es ist nicht nur bezüglich Impfen wichtig, wofür wir unsere Zustimmung geben und wofür nicht

Das Impfen gegen Corona ist zu einem Thema geworden, das uns allen die Chance bietet, ganz genau hinzuschauen, welche Quellen wir nutzen, wem wir vertrauen.

Für mich sind das ganz klar jene Akteure der liberalen Demokratie, die laut der Querdenker-Studie gerade so viel Misstrauen ernten, vor allem die wissenschaftliche Community und die freien und öffentlich-rechtlichen Medien. Auch die wissen nicht alles, machen Fehler und verhalten sich oft eigennützig. Aber sie haben ein Auge aufeinander und sind bereit, sich zu korrigieren, aus ihren Fehlern dazuzulernen.

Das Greater Good Science Center der Universität in Berkeley, Kalifornien hat in empirischen Studien ermittelt, dass eben diese Bereitschaft die vielleicht wichtigste Kernzutat dafür sein könnte, eben nicht den Desinformationen rund um die Pandemie zum Opfer zu fallen.

Sie nennen dieses Bündel von Kompetenzen „intellektuelle Demut“ und schätzen ihre Bedeutung als so zentral ein, dass sie gerade in dieser Woche sogar Stipendien ausgeschrieben haben für journalistische Arbeiten, die sich mit dem Thema beschäftigen.

Die Bedeutung von intellektueller Demut

Diese Aspekte werden dazugezählt:

  • Ein Bewusstsein für die eigene Ignoranz und Fehlbarkeit und das Zugeben davon, dass das so ist: „Ich akzeptiere, dass meine Überzeugungen und Einstellungen falsch sein könnten, und ich gebe es zu, wenn ich etwas nicht weiß.“)
  • Ein Bewusstsein dafür, dass die Sichtweisen anderer Menschen wertvoll sind, diese anzuhören und auch korrigierendes Feedback anzunehmen: „Ich höre anderen zu und erkenne einen Wert in ihren Meinungen, auch wenn sie anders sind als meine eigene.“)

Demut macht also nicht nur nachweislich glücklicher, wie in unserem Blog-Artikel vom letzten Jahr beschrieben.

Sie hilft uns auch dabei, Nachrichten zu sortieren und einzuordnen, und somit auch beim Entscheidungentreffen – insbesondere wenn diese nicht nur uns selbst, sondern die gesamte Gesellschaft betreffen, wie eben beim Impfen.

Angesichts der vielen hörbaren Stimmen in unserer Gesellschaft kann das anstrengend und nervenaufreibend sein. Vor allem wenn es um ein Thema geht, bei dem sich dann auch ganz schnell und dauernd wieder irgendwas verändert – wie das rund um das Impfen und Corona im Allgemeinen der Fall ist und sicherlich noch eine ganze Weile sein wird.

Aber gerade wenn sich Müdigkeit zeigt, sich mit einem umstrittenen Thema weiter zu befassen, kann es umso sinnvoller und wichtig sein, zwar Pausen einzubauen, aber insgesamt doch dranzubleiben.

Denn wie es in einem bekannten Spruch so gruselig heißt: „Mit der Politik ist es wie mit der Zahnpflege: Wenn man sich länger nicht wirklich drum kümmert, wird am Ende alles braun.“

Was können wir also tun?

Es ist extrem wichtig, angesichts von falschen Fakten und Verschwörungserzählungen nicht stillzubleiben. Denn diese sind nicht und werden auch nicht dargestellt als persönliche Meinungen.

Vielmehr gehen sie mit einem Wahrheitsanspruch einher, der sie wirklich zerstörerisch macht.

Deshalb raten Pia Lamberty und Katharina Nocun dazu, sie nicht einfach stehenzulassen, sondern direkt anzusprechen (wenn auch vielleicht erstmal zu zweit statt vor versammelter Familie).

Denn viele Menschen sind sich überhaupt nicht bewusst, dass dieser Video-Clip, dieses Interview, dieser Artikel, der sie gerade so inspiriert hat, tatsächlich nur die Spitze von einem gewaltigen Verschwörungsideologie-Eisberg ist.

Dieser Rat hat uns an die Lehre von Karl Popper erinnert, einem Philosophen, der in Wien geboren wurde, in der NS-Zeit floh, aber sechzehn Familienmitglieder durch Mord durch die Nazis verlor. Später wurde er in England für sein Werk über Totalitarismus und andere Themen zum Ritter geschlagen.

Das Toleranz-Paradoxon

Popper beschrieb mit klaren Worten sein sogenanntes Toleranz-Paradoxon:

Ein Toleranz ermöglichender Raum könne nur dauerhaft tolerant erhalten werden, wenn dieser (auf intolerante, also nicht duldende Weise) geschützt bliebe vor Intolerantem. Als intolerant definierte Popper dabei Menschen oder Gruppen mit folgenden Eigenschaften:

  1. Verweigerung eines rationalen Diskurses
  2. Aufruf zur und Anwendung von Gewalt gegen Andersdenkende und Anhänger anderer Ideologien

Beides sind ganz klar Aspekte von Verschwörungserzählungen bzw. Mythen. Deshalb geschehen immer wieder Gewaltverbrechen, die motiviert sind von Verschwörungstheorien und terroristische Vereinigungen (wie damals eben die NSDAP) beziehen in der Regel Verschwörungsgeschichten in ihr Training mit ein.

Zusammengefasst

  • Die Nazis in Deutschland kamen historisch nicht an die Macht, weil von Anfang an eine Mehrheit der Bevölkerung hinter ihnen stand.
  • Sie schaffen es zunächst, einzelne Bevölkerungsgruppen zu überzeugen.
  • Menschen der naturverbundenen, spirituellen, esoterischen Lebensreform-Bewegung waren hierbei eine (von mehreren) Zielgruppen, von denen viele sich frühzeitig hinter die nationalsozialistische Agenda stellten.
  • Erst im Verlauf konnten die Nazis immer mehr Menschen überzeugen, vor allem indem sie in der krisengebeutelten Zeit nach der Spanischen Grippe und der Weltwirtschaftskrise heftige Kritik an der Regierung übten.
  • Dabei nutzten sie Populismus – sie griffen die in der Bevölkerung vorhandenen Reizthemen und Verschwörungsmythen auf, übertrieben, polarisierten, demonstrierten ihre Gewaltbereitschaft in den Straßen, und stellten sich als einzige Retter*innen dar.
  • Erst als die Nazis 1933 an der Macht waren, schafften sie es, durch fortlaufende Propaganda, Gewalt, Unterdrückung und Auslöschung ihrer Gegner*innen, die politische Macht voll und ganz an sich zu reißen.
  • Rechtsextreme befeuern auch heute Verschwörungsmythen und Erzählungen, welche Menschen in kürzester Zeit enorm radikalisieren können.
  • Damit sorgen sie auch insbesondere in den letzten zwei Jahren dafür, dass immer mehr Menschen Gewalt nicht nur dulden, sondern sogar als richtig ansehen, als den einzig möglichen Weg, und schließlich sogar bereit sind, selbst Gewalt anzuwenden. Sie normalisieren Gewalt.

Die Corona-Pandemie und Impfen ist seit zwei Jahren das zentrale Thema, das die rechtsgerichteten Parteien und Gruppierungen dafür missbrauchen, Menschen gezielt zu radikalisieren, Gewalt zu normalisieren und sogar ursprünglich links-orientierte Menschen auf ihre Seite zu ziehen.

Das bedeutet für uns: Nicht jede*r Mensch, der Impfen und insbesondere die Corona-Impfungen kritisch sieht, ist ein Nazi.

Aber jede Art von Falschinformation und Verschwörungs-Erzählung (zum Thema Corona oder Impfen, aber auch zu anderen Themen, wie Klimakatastrophe, Migration, Terrorismus uvm.) spielt gerade heute unweigerlich rechtsextremen Kräften in die Hände.

Als Menschen sind wir alle (mehr oder weniger) anfällig für Verschwörungsdenken.

Heute werden wir über soziale Medien regelrecht in Falschmeldungen gebadet. Während diese wie von allein auf uns einprasseln ist es ist zeitaufwendig und nervenaufreibend, diese immer wieder zu relativieren und zu entkräften.

Deshalb brauchen wir einander umso mehr dafür, Geschichten und Meldungen gemeinsam und füreinander sorgfältig zu hinterfragen, immer wieder den eigentlichen Fakten auf den Grund zu gehen.

Es ist wichtig, dabei uns selbst und andere nicht für unsere „Leichtgläubigkeit“ zu verurteilen. Denn die falschen Fährten, denen wir gefolgt sind, wurden ja eigens dafür entwickelt, zu täuschen.

Gemeinsam können wir es schaffen

Die Verschwörungs-Expert*innen Pia Lamberty und Katharina Nocun beschreiben in ihren Büchern („Fake Facts“ und „True Facts„), dass ein sich Abnabeln von Verschwörungs-Erzählungen und den darauf aufbauenden Bewegungen für Menschen oft ähnlich schwer erlebt würde, wie der Ausstieg aus Sekten.

Das was vielen ermögliche, den großen schweren Schritt zu wagen, sich einzugestehen, dass sie inmitten ihrer radikalen Überzeugungen schlichtweg falsch gelegen haben könnten, seien laut der Forscher*innen – du wirst es raten – persönliche Beziehungen.

Am meisten können wir also bewirken, wenn wir uns klar und deutlich von Verschwörungsgeschichten und Hetz-Kampagnen abgrenzen – und gleichzeitig den Menschen selbst weiter liebevoll, mitfühlend und willkommen heißend begegnen.

Dabei gelte laut Lamberty und Nocun: Steter Tropfen höhlt den Stein. Oft ließen sich Personen nicht innerhalb eines oder sogar mehrerer Gespräche direkt überzeugen.

Was solche Gespräche aber leisten könnten: Zweifel säen, die mit der Zeit einen neuen, kritischeren Blick auf die Verschwörungs-Narrative ermöglichen können und damit auch andere Einsichten und Standpunkte.

Möglichst solche, die unsere (ganz sicher mehr als ausbaufähige!) Demokratie erhalten und auf eine lebensfreundliche Weise weiterentwickeln helfen.

 

Ein wichtiger Teil von Verbindungskultur ist das, was wir oft Willkommens-Kultur nennen. Diese ist aber nur möglich, langfristig zu erhalten, wenn Räume geschützt werden gegen Stimmen und Kräfte, die eben dieses Willkommen als eine Basis für Verbindung beschädigen.

Wie wir Räume gestalten kannst du hier in unserem Circlewise Leadership Training lernen.

Möchtest du mehr darüber lernen, wie wir Menschen auf ihrem Lern- und Lebensweg unterstützen
und begleiten? Dann könnte dir unser Online-Paket zum Thema Mentoring gefallen.

demut

…eine kleine Sammlung zur Demut, aufgeschrieben von Elke Loepthien

Demut ist eine Art Meister-Tugend – wenn Menschen sie entwickeln, kann sie andere Tugenden herbeiführen“, schreibt der Tugend-Forscher Everett Worthington.

Zur Demut gehören laut ihm und anderen Autor*innen Eigenschaften und Verhaltensweisen wie:

  • ein Gewahrsein unserer persönlichen Stärken und unserer Schwächen, ebenso eine Bereitschaft, zu diesen Schwächen zu stehen während wir daran arbeiteten, sie besser zu machen.
  • die Überzeugung, dass andere Menschen ganz genauso gut und wertvoll sind wie ich selbst, die sich auch darin zeigt, wie ich mich selbst darstelle.
  • eine Offenheit dafür, dass noch unbekannte, ganz neue Informationen möglich warten könnten, die meine Sichtweisen vielleicht sogar verändern.
  • ein aufrichtiger Fokus auf dem Wohlbefinden der Menschen um mich herum und die Bereitschaft, ihnen und ihren Ideen zuzuhören.
  • Wertschätzung für die Stärken und Beiträge von anderen.
  • ein Interesse an Ratschlägen und Feedback.
  • kein rücksichtsloses Erteilen von nicht hilfreichen Ratschlägen und Feedback an andere.
  • Bereitschaft, Verantwortung für meine eigenen Fehler zu übernehmen und diese wiedergutzumachen.
  • Ein Fehlen von arroganten oder überheblichen Verhaltensweisen, Stolz und narzisstischem Anspruchsdenken
  • Wahrhaftigkeit und Einfachheit, Anspruchslosigkeit.
  • keine Neigung dazu, Regeln zu umgehen oder sich durchzumogeln.
  • die Abwesenheit von manipulierenden, gierigen, heuchlerischen oder sich anbiedernden Verhaltensweisen

Demütige Menschen sind körperlich und seelisch gesünder. Sie verhalten sich auch großzügiger, sind hilfsbereiter und dankbarer – was sie attraktiv für andere macht. Außerdem fällt es ihnen leichter, ihre eigenen Impulse bewusst zu lenken und sie überstehen stressige Erlebnisse mit weniger negativen Folgen.

Und Demut kann noch vieles mehr:

Demut ist schlau und macht noch schlauer

In einer Studie mit Schulkindern fanden Forscher heraus, dass Kinder, die ihr eigenes Wissen von vornherein als nicht besonders groß einschätzten, allgemein eine höhere Punktzahl im Intelligenztest erreichten. Die Kinder, die in einem kooperativen Spiel dazu tendierten, Fragen an andere weiterzugeben (ein Indikator für größere Demut), achteten insgesamt mehr auf ihre eigenen Fehler oder waren sich stärker darüber bewusst, wenn sie einen Fehler gemacht hatten.

Indem wir unsere Fehler reflektieren, statt sie zu ignorieren oder zu verleugnen, können wir auch unser Scheitern in eine Gelegenheit zu lernen verwandeln.

Eine andere  Studie kam zu dem Schluss, dass demütigere Schüler mehr Lust aufs Lernen hatten, von ihren Lehrern als wissbegieriger wahrgenommen wurden, und effektivere Strategien nutzten, um ihr eigenes Verständnis zu verfeinern, zum Beispiel indem sie sich selbst prüfende Fragen stellten.

 

Demut statt Verblendung

Demutsvolle Rücksicht ist das ziemliche Gegenteil von Theorien die davon ausgehen, dass unser eigenes Leben makellos wird, sobald wir uns nur auf Licht und Liebe konzentrieren. Wann immer wir so einem Irrglauben verfallen, können wir nicht mehr wahrnehmen, was unser eigenes Handeln eventuell für Schaden anrichtet.

Wenn wir die oft schmerzhafte Auseinandersetzung mit unseren eigenen Schwächen und Problemen zu vermeiden versuchen, indem wir uns die Ursache für unsere Schwierigkeiten im Alltag und in unseren Beziehungen primär über spirituelle oder magische Konzepte erklären, verfallen wir Spiritual Bypassing – dem aussichtslosen Versuch dem eigentlichen menschlichen Leben, das voll von Schattenseiten und Schwierigkeiten ist, zu entgehen und lieber gleich zu Engeln zu werden.

Betrachten wir die Welt von ganz weit oben durch die verzerrte Brille solch einer demutslosen Überzeugung, kann das im schlimmsten Fall zu der tragischen Einstellung führen, dass Menschen, denen Schreckliches widerfahren ist, auf irgendeine Weise selbst daran schuld sein müssen – und wir selbst somit keinerlei Verantwortung dafür tragen oder unterstützend eingreifen könnten. Dabei steht es heute vielmehr an, sich mit den eigenen, oft über Jahrzehnte oder Jahrhunderte entstandene und verstärkte Privilegien auseinanderzusetzen, aufgrund derer viele von uns hier mitten in Europa in eine machtvollere Stellung innerhalb der Gesellschaft quasi hineingeboren werden und von der fortbestehenden, subtilen oder offenen Unterdrückung anderer profitieren.

Demütig auf unsere gesellschaftliche Situation zu schauen bedeutet auch, anzuerkennen, dass mir selbst die vielen Ressourcen, auf die ich zugreifen kann, nicht mehr (oder weniger) zur Verfügung stehen, als allen anderen, weil alle Menschen gleichwürdig sind und dasselbe Recht auf die Versorgung ihrer Lebensbedürfnisse haben (sollten) wie ich selbst.

Es hilft mir auch, mein eigenes Handeln darauf auszurichten, dass dies in Zukunft mehr gelingen kann, indem ich meine Privilegien (wie ausreichend finanzielle Mittel, die Möglichkeit, auf der politischen Ebene Einfluss zu nehmen oder den Zugang zu Wissen und Bildung) bewusst und aktiv mit denen teile, die ohne dies keinen oder nur begrenzten Zugriff darauf haben.

Es bedeutet, nicht blindlings als erste über die Zielgerade zu sprinten, sondern mich umzusehen, Rück-Sicht zu üben und dafür zu sorgen, dass ich andere ein Stück weit mitnehmen kann.

Mit Demut Brücken bauen

Nicht nur zwischen den politischen Ansichten der Menschen rund um den Umgang mit dem Corona-Virus haben sich tiefe Meinungs-Klüfte aufgetan, verstärkt durch die einseitigen News-Blasen in denen sich die viele Menschen aufgrund der Algorithmen von Facebook & Co bewegen (dank derer sie immer nur mehr von denselben Meinungen und Erklärungsmodellen vorgesetzt bekommen).

Innerhalb persönlicher Beziehungen scheint auch hier bei uns ein Trend dahin zu gehen, gar nicht mehr über streitbare politische Fragen miteinander zu sprechen, wie es sich im extrem in den USA beobachten lässt.

Dabei ist eigentlich ganz klar, das fast alle schwerwiegenden Probleme die direkt vor uns liegen, sich nur lösen lassen werden, wenn wir zusammenhalten – egal ob in der Familie oder global als gesamte Menschheit.

Viele Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass Demut hilfreich dafür sein kann, auch angesichts vordergründiger politischer Differenzen in Verbindung zu bleiben und gemeinsame Wege finden zu können. Demut erleichtert es uns, über unsere eigenen Kampf- oder Flucht-Impulse, die nicht selten durch die Konfrontation mit einer anderen politischen Sichtweise in unserem Nervensystem ausgelöst werden, hinaus zu wachsen. Demut ermöglicht es, trotzdem zuzuhören und dabei auch wirklich Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, auch wenn wir unsere Meinung bereits gebildet hatten.

Denn tatsächlich liegen wir oft falsch mit unseren Vermutungen darüber, was in einem anderen Menschen vorgeht, und wir wären meistens gut beraten, statt unserem ersten Eindruck zu glauben, lieber nachzufragen und wirklich zuzuhören. 

Demut schärft die Wahrnehmung

Unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit ist zumeist verzerrt zugunsten dessen, wovon wir überzeugt sind, und wird zudem von vielen anderen vorübergehenden Faktoren stark beeinflusst, wie immer mehr Studien eindrücklich beweisen. Anzuerkennen, dass unsere Sicht und unser Verständnis begrenzt sind: auf die Welt, das Leben und die Situation in der wir uns jetzt gerade gesellschaftlich befinden, ist deshalb ein wichtiger Gedankenschritt, der immer wieder erinnert werden will.

Demut hilft uns auch dabei, die Menschlichkeit in „denen“ von der anderen Seite weiterhin zu erkennen – was uns als Menschen zunehmend schwer fällt, wann immer wir uns in einer Situation finden, in der es „die anderen“ gibt. Entmenschlichung fällt oft erst dann auf, wenn sie Verbrechen nach sich zieht, ist aber auch im Alltagsleben vorhanden, als ein oft nicht bewusster Aspekt von Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit. 

Tugend-Forscher Worthington sagt, dass es demütigen Menschen leichter fiele, Gespräche über kontroverse Themen zu führen, sogar wenn sie selbst klar eine entgegengesetzte Meinung vertreten würde, einfach weil sie die Argumente ihres Gegenübers nicht belächeln oder den anderen Menschen für seine Gedanken verachten würden, so dass diese Person sich weniger verteidigen müsse, sondern es zu einem gemeinsamen Austausch kommen könnte.

Demut macht uns freundlicher

In einer Studie über „soziopolitische intellektuelle Demut“ wurde festgestellt, dass Menschen mit mehr Demut diejenigen mit anderen politischen Meinungen besser behandeln und weniger feindselig ihnen gegenüber sind.

Demütigen Menschen fiele es leichter, anzunehmen, die andere Seite könnte Erfahrungen gemacht haben oder über ein Wissen verfügen, dass ihnen selbst fehle und ihre Sichtweise verändern könnte. Im Gegensatz dazu glaubten Menschen mit weniger Demut häufig, diejenigen mit einer anderen Meinung wären weniger intelligent, kriminell oder es fehlte ihnen an Werten. Inwieweit jemand die eigene Position als unfehlbar ansähe, wäre entscheidend dafür, wie sehr diese Person dazu bereit sei, die jeweils „anderen“ zu dämonisieren, sagt Brian Newman, der die Studie mit geleitet hat.

In einer anderen Studie wurde gezeigt, dass religiöse Anführer mit mehr Demut wesentlich toleranter gegenüber anderen Religionen sind, egal was ihre eigentliche Religion war oder ob sie sich politisch den Konservativen oder den Liberalen zuordneten.

“Wenn du dir der Beschränkungen in deinem eigenen Glaubenssystem bewusst bist und dich erinnerst, wie du zu deinen Überzeugungen gekommen bist, dann bist du vielleicht dem Gedanken weniger abgeneigt, dass du nicht über die ganze Wahrheit verfügst“, sagt Joshua Hook, Co-Leiter der Studie.

Demütige Führungskräfte sind die Besseren

Im Wallstreet Journal wird Demut als die allerwichtigste Charaktereigenschaft für Führungskräfte benannt.

Auch Bill Taylor schreibt im Harvard Business Review, dass demutsvolle Leader ganz klar und erwiesenermaßen wesentlich mehr bewegen, als arrogante dies tun.

Er zitiert eine Gruppe von IBM Mitarbeiter*innen: „Die allermeisten Menschen, die die Welt verändern, sind demütige Leute. Sie konzentrieren sich auf die Arbeit, nicht auf sich selbst. Sie streben nach Erfolg – sind strebsam – aber wenn er eintritt, sind sie bescheiden… Sie glauben von sich selbst, dass ihnen Glück zuteil wurde, nicht, dass sie selbst sehr mächtig wären.“

In schwierigen Situationen handeln demütige Führungskräfte nicht vorschnell, tun nicht so, als hätten sie immer alle Antworten, sondern wissen, dass ihre Aufgabe vorrangig darin besteht, im richtigen Moment die richtigen Menschen zu ermächtigen.

Ihre Arbeit führe dazu, dass die von ihnen geleiteten Teams besser zusammenarbeiteten, viel mehr schafften und schneller lernten. Während viele Jahre lang deshalb die Anerkennung hauptsächlich die Mitarbeitenden erreiche, werde jetzt deutlicher, welche Bedeutung die Demut der Teamleitenden für die Erfolge hat. Sie bereiteten den Boden für eine Kultur der Fehler-Freude, wo alle Beteiligten frei heraus Ideen äußern, offene Fragen stellen, ihr Nicht-Wissen leichtherzig zugeben und gemeinsam nach Lösungen suchen.   

Im Rekrutierungssektor gibt es deshalb inzwischen Tests die eigens dafür gemacht sind herauszufinden, wie viel Demut die sich bewerbende Person mitbringt. Einer der Entwickler dieses Tests, Ryne Sherman sagt: „Die meisten Leute glauben, Führungskräfte sollten charismatisch sein, gern im Mittelpunkt stehen und andere von sich überzeugen. Aber solche Personen ruinieren ihre Firmen oft, denn sie nehmen sich mehr vor, als sie händeln können, sind überheblich und hören nicht auf das Feedback von anderen.“

In seinem Buch beschreibt Tom Porter, ein ehemaliger Chief der Mohawk-Nation, dass für Führungspositionen innerhalb ihrer Kultur niemals Menschen ausgewählt wurden, die von sich aus gern Anführer sein wollen. Wird dies bei Kindern oder Erwachsenen beobachtet, gilt das automatisch als Ausschlusskriterium, denn in ihrem Verständnis handele es sich bei diesem Hunger nach Ruhm, Einfluss und Macht um eine Art Geisteskrankheit („mental sickness“) – die schlechteste Voraussetzung dafür, eine gute Führungskraft sein zu können.

Demut in der Politik

Leider werden bei uns gesellschaftliche Führungspositionen oft nicht so vergeben, dass machthungrige Menschen dabei ausgespart werden.

Trotzdem wird es immerhin in Wissenschaft, öffentlichem Diskurs, in den meisten Medien und in vielen sozialen Kreisen von vielen Menschen als Wert anerkannt, die eigenen Standpunkte und Überzeugungen in Frage zu stellen und fruchtbaren Austausch mit Menschen zu suchen, die andere Erfahrungen, Herangehensweisen und Meinungen vertreten.

Es ist eine gängige Praxis auch bei uns, intellektuelle Demut zu beweisen, indem gegenteilige Meinungen einander gegenüber stehen, immer wieder neue Aspekte berücksichtigt werden, einmal gefällte Urteile zu hinterfragen und auch von anderen hinterfragen zu lassen.

Doch das allumfassende Ausmaß der Bedrohung, mit der wir als Menschheit gerade konfrontiert sind, zunehmend spürbar auch für uns als vorwiegend weiße Menschen in Europa, eine der meist privilegierten Bevölkerungsgruppen weltweit, kann zu so intensiven Gefühlen von Ohnmacht und Haltlosigkeit führen, dass wir mehr als sonst geneigt sind, unsere Demut zu opfern zugunsten einer (leider irrigen) Gewissheit.

Angesichts von überwältigenden Ereignissen wächst die Sehnsucht danach, Erklärungen dafür zu finden, die uns eine Einfachheit ermöglichen, inmitten von etwas das überhaupt nicht einfach ist, beispielsweise indem darin „Schuldige“ benannt werden, und uns die Theorien damit  erleichternder Weise bestätigen, dass wir selbst auf der Seite der „Guten“ stehen.

So ist es kein Wunder, dass die sogenannten Verschwörungstheorien, wie beispielsweise die Theorien rund um das Leugnen des Klimawandels, aber auch viele andere Themen, gerade jetzt so viel Verführungskraft haben.

Wir Menschen sind „Meaning making Creatures“ – Lebewesen, die ihrer gesamten Umgebung, allen Aspekten ihres Daseins gern einen Sinn, eine Bedeutung verleihen und Muster zu erkennen. Wir bewegen uns was das angeht immer noch wie steinzeitliche Fährtenleser*innen durch die Welt, die aus wenigen sichtbaren Zeichen umfassende, gerade unsichtbare Geschichten ableiten wollen.

Wenn wir nun intellektuell demütig sind (oder wie in der wissenschaftlichen Welt den rigiden Richtlinien für wissenschaftliches Arbeiten folgen, wie beispielsweise Kontrolle durch andere Menschen vom Fach), wird dieser Hunger nach Bedeutungen kombiniert mit allerlei Hinterfragen, Zweifeln, in andere Richtungen denken, nicht glauben, was nicht voll und ganz bewiesen ist und selbst danach trotzdem immer weiter eine grundsätzliche Offenheit bewahren, weil wir uns bewusst sind, dass wir im Grunde erst ganz wenig wirklich wissen.   

Hoch-mütige Theorien

Doch für Verschwörungstheorien ist es eben gerade ein wesentliches Kennzeichen, dass kein Argument, kein Gegenbeispiel, kein Widerspruch innerhalb der eigenen Argumentation, keine neue Entwicklung, egal wie sehr sie von vormals aufgestellten Zukunftsprognosen abweicht, jemals genügt, um die aufgestellte Theorie an sich in Frage zu stellen.

Im Gegenteil: Über Argumentationsschleifen werden alle offenen Fragen beantwortet und alle neuen Entwicklungen dafür verwendet, die Theorie noch weiter zu untermauern (während solche Fragen in der Wissenschaft offen verbleiben und weiterführende Erforschung geradezu einfordern).

Das letzte Jahr hat gezeigt, wie anfällig wir Menschen dafür sind, Verschwörungstheorien zu glauben.

Dafür gibt es viele Erklärungen:

Sie ordnen die Welt in Gut und Böse und lindern damit die unterschwelligen Gefühle von Überforderung angesic