Trost und Trösten mit dem Trauerkompass
…aufgeschrieben von Elke Loepthien-Gerwert
und illustriert von Lara Schmelzeisen
Wenn jemand traurig ist, sollen wir dann versuchen zu trösten?
Ja! Aber Trösten ist ein oft missverstandenes Wort. Denn was wir landläufig praktisch darunter verstehen, ist oft das Gegenteil von tröstlich.
Viele von uns haben selbst schon erleben können, dass verbreitete Redewendungen wie „halb so schlimm„, „Kopf hoch“ oder „das wird schon wieder“ einen schlimmen Schmerz sogar noch schlimmer machen können.
Dabei bedeutet trösten gar nicht, zu probieren einen Schmerz klein zu machen, zu relativieren oder ihn sogar weg zu machen!
Der Psychologe Dennis Klass, eine der führenden Persönlichkeiten in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Trauer, veröffentlichte 2012 einen Artikel über Trost, einem in der modernen Trauerarbeit oft gänzlich fehlenden Begriff.
Das Wort „Trost“ gab es schon im 8. Jahrhundert im Althochdeutschen und anderen Sprachen Mitteleuropas. Sein Geschwister-Begriff ist „trust„, das englische Wort für Vertrauen.
Der Ursprung beider Worte sind mehrere noch ältere Ausdrücke für „Baum„, eigentlich wohl sogar für „Eiche„, und sie bedeuten auch „fest“ und „treu„. Trost bedeutete also vor langer Zeit vor allem „Festigkeit“ und über die Jahrhunderte gesellten sich dazu noch die Qualitäten von „Zuversicht, Vertrauen, Hoffnung, Gewährung von Festigkeit im Sinne von Hilfe und Schutz“.
Trost macht Trauer nicht weg – sondern schenkt ihr ein Gegengewicht
Vereinfacht gesagt kann Trost also all das sein, worauf wir (noch oder wieder) vertrauen können, was mitten in einer schrecklichen Zeit trotzdem da ist und uns Halt gibt, obwohl wir solch schlimmen Schmerz erleiden. Trost ermöglicht uns das Erleben von Festigkeit in Momenten, wo ein Verlust uns erschüttert und ins Wanken bringt, uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen scheint.
Wenn wir tatsächlich trösten, versuchen wir also nicht, den Schmerz geringer zu machen – sondern wir stellen ihm eher etwas zur Seite, ermöglichen ein Gegengewicht an Erfahrungen, damit im Innern oder auch kollektiv ein Gleichgewicht wieder gefunden werden kann.
Tröstlich ist, was Vertrauen und Halt ermöglicht
Trost ist, wenn deutlich spürbar wird, dass da etwas und jemand ist, dem ich vertrauen kann: Wo ich Hilfe bekomme mit dem, was mich überfordert, wo ich mich geschützt fühle trotz der großen Verletzlichkeit, wo ich so lange und viel angenehmes, nährendes, liebevolles erleben kann, bis in mir Zuversicht und Lebensfreude keimen und wieder wachsen können.
Soziale Räume, in denen man weinen kann, sind heute selten und sehr wertvoll. Gleichzeitig braucht Trauerarbeit unserer Erfahrung nach noch einiges mehr:
Wie können wir es schaffen, Verluste so zu verarbeiten, dass Lebensfreude und Leichtigkeit wieder möglich werden?
Was braucht es, damit tiefer Schmerz sich wandeln kann – in etwas Fruchtbares für uns selbst und unsere Gemeinschaft?
Zutaten für gelingende Trauerprozesse
In der Trauerarbeit mit Sobonfu Somé, und nach ihrem Tod auch in meiner eigenen Beschäftigung mit traditionellen Trauerritualen, wurde sehr deutlich, dass viele Zutaten für das Begleiten von Trauerprozessen gebraucht sind – die alle Trost spenden können.
Für unsere Arbeit habe ich diesen Trauerkompass entwickelt, den die Dialogkünstlerin Lara Schmelzeisen für uns illustriert hat. (Tatsächlich könnte er auch „Trostkompass“ heißen. :-))
Im Trauerkompass kannst du verschiedene Qualitäten sehen, die unserer Erfahrung nach wichtig sind für das Verarbeiten eines Verlustes und somit auch für das Halten eines Trauerraumes.
Sicherer Raum
Wenn wir beim Trauern in emotionalen Ausdruck und weinen kommen, verlassen wir mit unserer Aufmerksamkeit ein Stück weit das Hier und Jetzt und wandern stattdessen tief nach innen. Wir sind dann nicht so wachsam, können uns selbst nicht gut vor Gefahren schützen, können kaum handeln oder etwas leisten. Deshalb haben wir als Menschen die Fähigkeit, Trauern über lange Zeiträume zu unterdrücken.
Jahrzehnte oder jahrhundertelange Phasen von Krieg und Ausbeutung haben für viele Menschen die Lebensrealität geschaffen, dass es im Grunde kaum mal Momente von ausreichend Sicherheit gab oder gibt. So konnte in vielen Familiensystemen das Trauern gänzlich zu einem Tabu werden.
Heute gibt es deshalb viele Menschen, die in ihrer Kindheit fürs Trauern ignoriert, beschämt oder sogar bestraft wurden – wenn nämlich die Erwachsenen selbst überfordert damit sind, Trauer zu begegnen.
Kinder lernen, dass Trauer nicht erwünscht oder sogar gefährlich ist. Und da sie auf die enge Verbindung zu ihren Bezugspersonen zutiefst angewiesen sind, beginnen auch sie, das Trauern als etwas negatives oder sogar gefährliches anzusehen, und lieber mit aller Kraft zu deckeln.
Wenn unser Verlust zu groß ist, kann es sein, dass wir trotzdem trauern können, und sogar mitten auf dem Bahnhof oder beim Einkaufen zu weinen beginnen. Oft aber hält unser Körper die Trauer fest – um uns zu schützen.
Wollen wir ihr Raum geben, braucht es einen Ort, eine Zeit, eine Art von zwischenmenschlichem Miteinander, womit wir uns sicher genug fühlen können.
Gerade für viele Erwachsene erfordert das auch, sich in dem Moment für nichts und niemand anderes verantwortlich fühlen zu müssen – um wirklich loslassen zu können.
Wenn wir wissen, dass Kinder, Arbeit, Haushalt und alle/s andere uns gerade wirklich nicht brauchen, ist es leichter, aus einer Grundhaltung von tapferem Durchhalten und vielleicht sogar Wachsamkeit herauszufinden, und uns für eine Zeit lang unserer eigenen Trauer hinzugeben.
Emotionaler Ausdruck und Entladen
Trauern ist keine rein verstandesmäßige Aktivität, sondern es ist zutiefst mit unserem Körper verbunden. Menschen die trauern, können dabei leise Tränen weinen, aber auch laut schluchzen, zittern, beben, klagen oder sogar schreien. Dabei kann sich Energie entladen und wir können Hitzegefühle und Schwitzen erleben, großen Bewegungsdrang, das Bedürfnis mit den Händen auf den Boden zu trommeln, uns zu schütteln und vieles mehr.
Kleine Kinder sind oft noch in der Lage, dem emotionalen Ausdruck ihres Körpers nachzugeben. Im Laufe der ersten Lebensjahre erleiden sie viele Verluste, die sich wirklich schlimm anfühlen – auch wenn sie für Erwachsene manchmal schwer nachvollziehbar sind.
Als Erwachsene können wir vielleicht ganz gelassen bleiben, wenn sich jemand anders auf unseren Lieblingsplatz setzt oder uns etwas kaputt geht, dass wir gern mochten. Trotzdem kann und wird es Verluste geben, die so schlimm für uns sind, dass unser Verstand allein sie nicht verarbeiten kann, sondern unser Körper sich danach sehnt, wie ein kleines Kind zu weinen und zu trauern oder auch Wut auszudrücken.
Fühlen wir starke Emotionen in uns und unterdrücken sie, kann das schwerwiegende Konsequenzen für unsere seelische und körperliche Gesundheit haben.
Deshalb kann es beispielsweise schwierig sein, richtig zu trauern, wenn nur besonders stille Räume dafür zur Verfügung stehen.
Die Stille kann erst einmal hilfreich sein, in Kontakt mit den eigenen Emotionen zu kommen. Sich in den emotionalen Ausdruck zu wagen fällt vielen Menschen jedoch leichter, wenn es eine Art Teppich an Klängen oder Geräuschen gibt, der so laut ist, dass er uns auch wenn wir laut weinen und schluchzen trägt: Die Brandung des Meeres, das Rauschen eines Flusses oder auch laute Musik, die im Hintergrund läuft, können es uns leichter machen.
Können wir den emotionalen Ausdruck unseres Körpers zulassen, kann sich dies sehr erleichternd anfühlen. Vor allem, wenn noch einige weitere wichtige Zutaten für unseren Trauerprozess mit dabei sind.
Mitgefühl und Fürsorge
Vieles in unserem emotionalen Erleben wird maßgeblich von unserem autonomen Nervensystem beeinflusst. Dabei entwickelt sich unsere Fähigkeit zur Regulation unserer Emotionen erst allmählich, im Laufe der ersten Lebensjahre.
Alleingelassene Neugeborene werden von heftigen Emotionen überwältigt und sind nicht in der Lage, sich nach stressvollen Momenten von selbst wieder zu entspannen, sondern brauchen Bezugspersonen dafür. Nur durch den liebevollen Kontakt mit anderen erlernen Menschenkinder nach und nach die Kompetenz der Selbstregulation.
Essentiell für diese Co-Regulation ist ein Gegenüber, das sich selbst regulieren kann, also in der Lage ist, Gelassenheit zu bewahren und nach aufregenden Situationen wieder zur Ruhe zu finden.
Obwohl die Selbstregulationsfähigkeit mit den Lebensjahren zunimmt, kann sie auch bei Erwachsenen beeinträchtigt sein, vor allem wenn wir gestresst und überfordert sind oder Krisen und Katastrophen unser Leben durchschütteln.
In Ausnahmesituationen, wie wenn wir schlimme Verluste und den Schmerz darüber als überwältigend erleben, brauchen wir ein Leben lang die Unterstützung anderer Menschen (oder nicht-menschlicher Mitwesen), um unser emotionales Gleichgewicht wiederzufinden, unser Nervensystem zu regulieren.
Deshalb ist es umso wundervoller, dass unser Körper zeitlebens Co-Regulation nutzt, wenn die Gelegenheit sich bietet. Vereinfacht gesagt ist unser autonomes Nervensystem in der Lage, am Nervensystem von anderen Menschen (oder auch unseren Haustieren) anzudocken, und sich dort zu „holen“, was es braucht, um wieder zur Ruhe zu finden.
Wir brauchen einander
Während der Trauerrituale mit Sobonfu Somé sang sie mit uns ein Lied aus ihrer Kultur (die Dagara in Westafrika), dessen Text sie übersetzt hat als: „Ich kann dies nicht alleine schaffen.“
Traditionelle Trauer- und Begräbnisrituale und Bräuche in allen Teilen der Erde beinhalten vielmals, dass die Menschen aus der Gemeinschaft sich um die Hinterbliebenen kümmern, Aufgaben übernehmen und für sie da sind.
Eine Art von mehr als alltäglicher Fürsorge zu erfahren ist eine Form von Trost, die wir spenden können, wenn jemand Trauer durchleidet. Je angenehmer und nährender der Rahmen ist, in dem wir uns bewegen, desto tröstlicher kann er sein, und desto leichter ist es, sich auf den Trauerprozess tief einzulassen.
Genau dafür sind wir von unserer Biologie her bestens ausgestattet: In schweren Zeiten sich einander zuwenden und füreinander sorgen ist tatsächlich eine unbewusst ablaufende (oft vergessene, aber gut erforschte) Überlebensreaktion des Menschen.
Mit Einstimmung
Mich in ein trauerndes Gegenüber einzufühlen oder einzustimmen („attunement„) hilft der anderen Person, sich gesehen und „gefühlt“ zu fühlen. Einstimmung ist für die gesunde seelische Entwicklung von Kindern essentiell. Wir können sie schenken, indem wir aufmerksam hinschauen, hinhören, hinspüren, innere Urteile und Gedanken immer wieder beiseite schieben, wahrnehmen mit allen Sinnen und fürsorglich sprechen und handeln.
Diese Art von Einfühlung auch als Erwachsene geschenkt zu bekommen, ist notwendig für gesunde und glückliche Beziehungen.
Doch viele Generationen lang wurden Eltern in diesem Teil der Welt systematisch dazu angehalten, Säuglingen und Kindern keinerlei Einstimmung zu geben. Dies war oft politisch motiviert, damit die vertrauensvolle Beziehung zwischen Eltern und Kind sich gar nicht erst entwickeln konnte. Die Folgen dieser Erziehung sind heute noch spürbar und werden erst langsam aufgearbeitet.
Ein Ergebnis davon ist es, dass es eben für viele Menschen heute leider keine alltägliche Erfahrung ist, Einstimmung zu erfahren oder „spürbar von jemand anders gefühlt zu werden„, wie der Psychiater Daniel Siegel es nennt.
Dabei kann gerade im Schmerz genau das so wohltuend sein – zu erleben, dass wir nicht ganz allein sind, sondern andere Menschen uns einfühlsam beistehen.
Mit Mitgefühl
Mitgefühl („compassion„) beinhaltet Einfühlung, das Mitfühlen mit einem anderen Wesen. Gleichzeitig verstehen wir darunter auch, während dessen einen liebevollen Wunsch in sich präsent zu halten: Für das Wohlergehen dieses anderen Wesens.
Das ermöglicht, nicht angesichts der Emotionen oder des Leids der anderen wie darin verloren zu gehen. Einen Teil meiner Aufmerksamkeit auf der Möglichkeit zur Linderung des Schweren zu belassen, auf dem Wohlsein, was ich mir für diese Person wünsche, kann vielmehr wie ein Anker sein.
Zum einen ermöglicht mir diese Haltung, präsent da zu sein und zu bleiben, es kann sogar in helfenden Berufen die tiefgehende Erschöpfung eines emotionalen Burnouts verhindern.
Auch für mein Gegenüber kann mein Mitgefühl wie ein Anker sein, weil neben der Einstimmung und Empathie eben auch eine Erdung und Gelassenheit spürbar sind – so wichtig gerade im Angesicht schwierigster Umstände.
Ghandhi soll gesagt haben: “Mitgefühl ist ein Muskel, der kräftiger wird wenn wir ihn benutzen.” Es ist auch eine Frucht des eigenen, persönlichen Leidenswegs: Studien haben gezeigt, dass Menschen, die selbst Schlimmes durchgemacht haben, besser in der Lage sind, auch angesichts größeren Leides mitfühlend da zu bleiben.
Gemeinschaft und Lebensnetz
Unserer Erfahrung nach können Verbindung, Beziehung und somit auch Gemeinschaft langfristig nur gelebt werden, wenn Trauer einen Platz hat. Der Stress, die Erschöpfung, Reizbarkeit und emotionale Abstumpfung, die sich wie ein dunkler Schleier über unser Leben legen, wenn wir Trauer nicht verstoffwechseln, führen über kurz oder lang dazu, dass wir nicht nur für uns selbst nicht richtig da sind, sondern auch für andere nicht richtig da sein können.
Leidvolle Emotionen, die unterdrückt werden, können dazu führen, dass wir nicht nur uns selbst zusätzliches Leid verursachen. Es kann auch bedeuten, dass wir zunehmend abweisend, reizbar oder sogar aggressiv unseren Mitmenschen handeln, was oft vor allem unsere Liebsten trifft.
Auch zwischenmenschliche (und innere) Konflikte gehen mit Verlusten einher, die betrauert werden wollen. Jede Form von Gemeinschaft oder Beziehung braucht also Trauerprozesse, damit sie weiter bestehen kann.
Gleichzeitig braucht Trauerarbeit auch Gemeinschaft. Oft sind mit unserer Trauer Geschichten verbunden, die so schrecklich sind, dass man sie kaum anhören kann. Es kann sogar traumatisieren, Erlebnisse von Gewalt und unerträglichem Unglück und Leid zu hören.
Gerade für diese allerschlimmsten Schmerzen kann eine Gemeinschaft von Menschen Rückhalt und Trost spenden. Denn die Last der Geschichten braucht dann niemand allein zu tragen, sondern sie verteilt sich auf viele Schultern und wird dadurch handhabbar.
Unsere nicht-menschliche Mitwelt
Wir alle gehören nicht nur unterschiedlichen menschlichen Gemeinschaften an (und können in Trauerräumen ein Teil von Gemeinschaften auf Zeit werden), sondern sind auch ein untrennbarer Teil der gesamten Biosphäre des Planeten Erde.
Je mehr wir in Kontakt mit den „anderen“ da draußen kommen können, desto mehr können wir Halt und Unterstützung auch von nicht-menschlichen Wesen erfahren: Vom Wind der uns zärtlich streichelt, dem Regen, der kühl unsere Haut erfrischt, einer Blüte deren süßer Duft uns tröstliches Zeichen dafür ist, dass das Leben trotz allem weiter geht.
Verbindung zum Größeren
Manche Verluste sind so gewaltig, dass selbst viele Menschen nicht als Gegenüber auszureichen scheinen, um den Schmerz mit uns gemeinsam zu ertragen. Für diese Momente, oder gerade auch wenn wir allein zuhause ins Trauern kommen, kann es helfen, in Verbindung zu gehen mit etwas, das ganz viel größer ist, als wir selbst.
Für viele Menschen ist es schwer, sich jemand anderem zuzumuten in Momenten der Not. Wir wollen niemanden belasten oder überfordern. Damit wir uns trotzdem ins Trauern hineinwagen, kann uns ein ganz besonders kraftvolles und großartiges Gegenüber helfen.
Die Kraft des Feuers kann so ein Gegenüber sein. Selbst in der kleinsten Kerzenflamme ist genug Feuer-Kraft vorhanden, um einen ganzen Waldbrand zu entfachen.
Auch ein natürliches Gewässer kann uns helfen, denn Wasser ist das Element, was sich um und durch die Erde bewegt, bis in den Himmel aufsteigt und ganz woanders wieder herauskommt. Was unseren Körper erfüllt und irgendwie immer in Bewegung bleibt, manchmal nur sehr langsam, doch letztendlich unaufhaltsam.
Spirituelle Kräfte und Wesen, wie Gott oder auch unsere Ahn*innen können auch helfen – wenn ich sie mir vorstellen kann und an sie zu glauben vermag.
Wichtig ist, dass wir, beispielsweise im Rahmen von Ritualen, einen persönlichen Kontakt erleben können, wenn wir uns mit unserer Trauer diesem Großen Gegenüber zeigen, so dass ein Gefühl von gesehen und bezeugt sein sich einstellen kann und vor allem das Erleben, selbst ganz klein sein zu dürfen, und trotzdem sicher und gehalten zu sein.
Vielen Menschen hilft es auch, sich ihr großes Gegenüber wie eine empfangende Kraft für unsere Trauer vorzustellen, die das was ausgedrückt und mitgeteilt wird, wie aufnimmt und verwandelt oder zumindest uns dabei hilft, im Inneren den Schmerz zu verwandeln.
Und worin verwandelt er sich wenn alles gut läuft? In das, was wir manchmal „Medizin“ oder einfach „etwas Fruchtbares“ für unsere Gemeinschaft nennen. Der Wunsch danach, dass der Schmerz sich in „Medizin“ (unser Begriff für etwas Hilfreiches im weitesten Sinne) wandeln mag, kann eine kraftvolle Ausrichtung und Intention sein, um sich in einen Trauerprozess bewusst hinein zu wagen.
Integration und (Neu-)Ausrichtung
Wenn Trauer sich zeigt, kann das verunsichernd oder sogar furchteinflößend sein. Denn Trauer zu durchleben verändert uns. Das, was verloren gegangen ist, oder schon immer gefehlt hat, können wir beim Prozess des Trauerns auf eine Weise verinnerlichen.
Das Bild von unserem Leben, unserer Identität, was durch den Verlust (oder auch schon einen in der Zukunft drohenden Verlust) in tausend Stücke zersprungen ist, werden wir beim Trauern wieder zusammen setzen – aber auf eine neue Weise.
Es ist für viele Menschen nicht einfach, sich dem Trauern anzuvertrauen und sich in die Tiefen der inneren Seelenwelt hineinzuwagen, wo die Überreste unseres alten Selbst wie in einem Kessel durchgerührt, geköchelt und dann irgendwie neu miteinander verbunden werden.
Wofür willst du trauern?
Damit wir es wagen, kann es hilfreich sein zu reflektieren und zu wählen, wofür ich eigentlich trauern möchte? Eine konkrete Ausrichtung auf etwas Bestimmtes macht es viel leichter, mich zu trauen zu trauern. Es kann der Wunsch nach mehr Freude und Leichtigkeit in meinem eigenen Leben sein, der mich zieht, oder auch der Wunsch, für meine Liebsten jetzt und in der Zukunft mehr da sein zu können.
Auch der Wunsch, angesichts einer Notlage nicht resigniert, verzweifelt und wie in Ohnmacht zu verharren, sondern mich weiter engagieren zu können, ist für viele Menschen eine Motivation, ihre Trauerprozesse aktiv anzugehen.
Integration ist ein wesentliches Prinzip des Lebens
Daniel Siegel hat den Begriff der Integration für wesentliche Vorgänge des Geistes oder Verstandes geprägt. Sie ermöglicht, dass was verloren, chaotisch und unverbunden in uns ist (beispielsweise nach Verlusten oder auch nach traumatischen Erlebnissen), sowie alle unsere Gedanken, Emotionen, Sinneseindrücke und vieles mehr in ein zusammengehöriges größeres Ganzes eingewoben wird.
Integration lässt sich auch sozial oder sogar ökosystemisch denken. Dabei meint sie nicht, dass alles irgendwie ein und dasselbe wird, sondern dass gerade eben eine Vielfalt einzigartiger Bestandteile Verbindungen miteinander eingeht, die somit dann ein kohärentes Gesamtbild ermöglichen.
Trauerprozesse sind meines Erachtens nach im Kern Integrationsprozesse: Beim Weinen und Klagen tauchen wir tief ins Land unserer Seele, wir blenden das Hier und Jetzt ein ganzes Stück weit aus und erleben traumähnliche sinnliche Eindrücke, eine Mischung aus Erinnerungen, Bildern, Geräuschen. Beim Trauern können Menschen auch Dinge riechen, die nicht physisch da sind, Berührungen empfinden, Worte hören und vieles mehr erleben, das nur sie allein wahrnehmen können.
Dadurch verarbeiten wir den Verlust und holen nach innen, was uns im Außen genommen wurde. Wir durchleben vielleicht tausende Male die Momente bedingungsloser Liebe, die wir mit unserer verstorbenen Großmutter erleben konnten – bis sie ein Teil von unserem neuen, gewandelten Selbst werden, wir sie verinnerlicht haben.
Im Ergebnis kann das bedingungslose Lieben auch ein Teil von unserem eigenen Sein und unserer durch das Trauern gewandelten Persönlichkeit und Identität werden.
Sinn und Bedeutung
Einen Sinn („purpose„) in unserem Leben zu verorten, ist verbunden mit besserer seelischer und körperlicher Gesundheit. Diese Art von Sinn zu finden ist nichts, was wir einmal erreichen und dann für immer sicher geschafft haben. Denn unsere Geschichte davon, wer wir sind, woher wir kommen und wofür wir hier sind, wohin wir unterwegs sind – all das ist etwas, das sich im Laufe unseres Lebens immer wieder verändern darf.
Manchmal hören wir Redewendungen wie „Du wirst schon sehen, das hat alles seinen Sinn„, oder sogar ganz konkrete Zuweisungen von Bedeutungen für bestimmte Ereignisse. Das ist sehr heikel, vor allem wenn es um schmerzliche Erlebnisse geht.
Denn Leiden hat keinen Sinn an sich!
Wenn uns das Leben durch schlimme Verluste auf die Knie zwingt und wir uns fühlen wie nicht viel mehr als ein Häufchen Staub, ist es umso wichtiger, dass die Menschen, die uns begleiten, uns die Deutungshoheit überlassen über das, was wir durchleiden.
Denn Sinn und auch Bedeutung sollten nicht von außen übergestülpt werden, sondern sie sind etwas, das wir als Menschen selbst suchen, wählen und verleihen.
Gerade inmitten unserer Gesellschaft voller unterschiedlicher kultureller Wurzeln, individueller Lebensverläufe und diverser spiritueller Bezugssysteme und Werten, ist es essentiell, hier voll und ganz selbst entscheiden zu dürfen.
Oft lassen sich Sinn und Bedeutung nur mit Blick auf die Zukunft wählen
Eine leidvolle Erfahrung kann später Sinn machen, für die Person die sie erlebt hat. Doch fast nie findet sich Sinn im Ereignis selbst und oft noch nicht einmal in der Gegenwart, sondern erst in der Zukunft.
Eine Frage, sich dem anzunähern könnte sein: Was will und werde ich daraus machen?
Besonders hilfreich finde ich auch diese Frage, die ich vor vielen Jahren von Paul Raphael (Anishinabe und Friedensstifter in seiner Gemeinschaft) gelernt habe: „Wie kann das, was ich erlebt habe, mir dabei helfen, anderen zu helfen?“
Verlust als Zugkraft
Unsere Gesellschaft ist noch immer voller Diskriminierung für Menschen mit Beeinträchtigungen, Menschen anderer Hautfarbe, Menschen die geflüchtet sind, die sich nicht dem binären-Geschlechtssystem zugehörig fühlen oder von der heterosexuellen Norm abweichen, für Menschen die zu jung sind, oder zu alt oder schwach oder arm und vieles mehr.
Angesichts so viel anmaßender Herablassung, scheint es noch viel schwieriger, in Verlust und Leiden Sinn finden zu können.
Gerade viele schwerwiegende Verluste, beispielsweise Verlust eines Kindes durch Abtreibung, das Leid von Suchterkrankungen, das Erleben sexualisierter Gewalt oder auch einen geliebten Menschen durch Suizid zu verlieren, sind gesellschaftlich regelrecht stigmatisiert, und über sie zu reden, erzeugt oft beim Gegenüber nicht Mitgefühl, sondern sogar Abwehr.
Was helfen kann ist, die verbreitete Sicht hinter uns zu lassen, das Schicksalsschläge oder schlimme Lebensbedingungen einen Menschen fast notwendigerweise und irreparabel „kaputt“ machen würden.
Ich bin sehr dankbar im Kontakt mit Sobonfu Somé immer wieder ihre ganz besondere Sicht erleben zu können, die sich in etwa so zusammenfassen ließe:
„Dies alles schreckliche ist dir widerfahren? Wow, was wohl aus dir mal alles werden wird!!!“
Statt zusätzlicher Herabwürdigung der Leid tragenden Menschen begegnete sie ihnen mit Respekt, Achtung, Ehrfurcht und auch Neugier darauf, was für Gutes und Bedeutsames aus dem Tragischen erwachsen würde.
Was hast du verloren?
Unser Verstand ist schlau genug zu wissen, dass die Verletzungen der Vergangenheit nie wieder ungeschehen sein können. Das Leiden, vielleicht die Gewalt oder die traumatischen Erlebnisse, die wir hatten, verschwinden nicht einfach.
Doch statt uns lebenslang darauf zu fokussieren, durch sie wie gebrandmarkt zu sein, voll mit Narben und Makeln, die nie wieder weggehen, können wir uns der Möglichkeit öffnen, dass wir aus all dem Schlimmen dennoch, oder sogar umso mehr, etwas wunderbares machen können.
Eine Möglichkeit dafür, die sich bei uns bewährt hat, ist die leidvollen Erfahrungen durch die Brille von „Verlusten“ zu betrachten. Als ich ein kleines Kind war und vielleicht von meinen Bezugspersonen geschlagen wurde – was habe ich in dem Moment verloren? War es Sicherheit, Vertrauen, Unbefangenheit, ein Gefühl von Würde oder Kontrolle über meinen Körper?
Heute können wir nichts mehr an der Vergangenheit ändern – obwohl sie uns immer noch sehr stark belasten mag. Das kreiert ein fast unerträgliches Dilemma.
Das wunderbare an der Verluste-Brille ist, dass wir mit den Antworten, die wir finden, auch heute noch ganz schöpferisch weitergehen können: Es ist nie zu spät, mehr Sicherheit, Vertrauen, Unbefangenheit, Würde oder Kontrolle über meinen Körper in mein Leben zu bringen, für mich selbst Weichen zu stellen, Rahmen zu finden oder zu schaffen, die das Nachholen von dem ermöglichen, was mir damals verloren ging (oder vielleicht sogar schon immer gefehlt hat.)
Statt mit Ohnmacht und Hilflosigkeit konfrontiert zu sein, sind wir auf einmal handlungsfähig.
Eine Zugkraft im Leben
Gelingt es uns, die Verluste unseres Lebens auf diese Art und Weise zu betrachten, können wir oft auch unser Verhalten, unsere Entscheidungen und Wirken auf eine neue Weise wertschätzen. Denn nicht selten kann genau das, was wir selbst schmerzlich verloren haben, zu einer tiefen Sehnsucht in unserem Leben führen. So kann sich eine starke Zugkraft entfalten die bewirkt, dass wir aktiv, bewusst oder unbewusst, dem entgegen streben, was wir ersehnen.
Während wir auf dem Weg dahin sind, kreieren und bewirken wir selbst durch unser Handeln und Sein in der Welt Möglichkeiten und Räume dafür, dass eben diese Qualität sich einstellt – nicht nur für uns selbst erlebbar wird, sondern vor allem auch für andere.
Wenn mir beispielsweise als Kind das Erfahren von Sicherheit gefehlt hat, könnte ich – sofern ich mir dieses Verlustes bewusst werde und ihn betrauern kann – zeitlebens empfindsamer sein, was das Sicherheitsgefühl von mir selbst und anderen betrifft.
Körperliche oder auch emotionale Sicherheit könnte eine große Rolle spielen, in allem was ich in die Welt bringe. Meine verstärkte Wahrnehmung dafür und meine wachsende Kompetenz im Ermöglichen von Sicherheit kann im Laufe meines Lebens unzähligen anderen Menschen (oder auch anderen Mitwesen) zugute kommen.
Die Wellen der Trauer
In unserem Verständnis kommt Trauer in Wellen zu uns, die sich durch uns bewegen, oder von denen wir uns mitnehmen lassen. Wenn wir kleine Kinder beobachten, denen ein Verlust widerfährt, sie sich beispielsweise weh tun, können wir diese Wellen manchmal erkennen.
Sie verlaufen immer einzigartig, doch zeigen sie auch gewissen Ähnlichkeiten:
Am Anfang ist da ein Erschrecken, ein abruptes Innehalten, verbunden mit einem Orientieren im Raum. Oft halten sie sogar den Atem an, bis sie den beruhigenden Blick einer Bezugsperson erkennen, oder noch schnell zu ihr hinlaufen, Augen und manchmal auch den Mund weit aufgerissen.
Mit der Sicherheit kommt die Trauerwelle und sie geben sich dem emotionalen Ausdruck und dem Entladen der Anspannung im Körper hin.
Das Weinen und Schreien ist anstrengend und kräftezehrend. Oft kommt es uns selbst ewig lang vor (vor allem wenn es unsere eigenen Kinder sind und wir uns gerade in der stillen Stadtbücherei aufhalten! :-)). In Wirklichkeit dauert es meist nur wenige Minuten, in denen nichts weiter gefordert ist, als dass jemand mitfühlend und präsent da bleibt. Manchmal schauen die Kinder währenddessen, oft sind sie aber ganz in ihrem eigenen Prozess „unterwegs“.
Wenn die Trauerwelle abebbt, ist oft Erschöpfung spürbar. Mit ihr kann sich eine angenehme Leere einstellen, eine Stille oder innere Ruhe sich zeigen. Dies ist oft der Moment, wo das Kind wieder wie „auftaucht“, wo Augenkontakt wieder möglich ist.
Bei Kindern geht es oft sehr schnell, dass dann auch direkt Heiterkeit entsteht und sogar Freude oder Begeisterung sich zeigen. Während die Eltern sich noch den Schweiß von der Stirn wischen, ist das kleine Kind vielleicht schon längst kichernd und juchzend unterwegs zum nächsten Abenteuer.
Auch große, komplexe Trauer kommt in Wellen
Je älter wir werden, desto komplexer werden die Verluste, die wir erleiden oder derer wir gewahr werden. Trotzdem verlaufen die körperlich expressiven Prozesse des Trauerns wie Wellen – nur brauchen wir viele, sehr viele davon.
Im Alltag sind wir vielleicht oft allein mit ihnen, was viel viel besser ist, als gar nicht zu trauern.
Was wir trotzdem als Wesentlich erachten ist, zumindest irgendwann hinterher, mit einem anderen Menschen (oder wenn dies nicht geht einem Baum, einem Stein, einer Pflanze), unsere Geschichte zu teilen, damit wir gesehen und bezeugt werden können mit dem, was da Wesentliches in uns passiert ist.
Gerade wenn wir Phasen erleben, wo die Trauer kein Ende mehr zu nehmen scheint, wir das Gefühl haben, fast nur noch zu weinen, kann dies die fehlende Zutat sein: Denn indem wir bezeugt werden, wird unser innerlicher Prozess im Außen bekräftigt und kann sich dadurch echter und wirklicher anfühlen und ein Stück weit wie besiegelt werden.
Wir können dies nicht alleine schaffen, sondern brauchen dafür andere Menschen.
(Wenn dir niemand einfällt, dem du deine Trauergeschichte erzählen könntest, gibt es die Möglichkeit, dich bei der Mail– oder Telefonseelsorge zu melden, wo dir jemand einfühlsam zuhören und dich bezeugen wird.)
Auch Lachen spendet Trost
Eine oft verkannte Zutat für Trauerprozesse ist die Möglichkeit und der Raum, zwischen allem Weinen auch viel Lachen zu können. Vor über zwanzig Jahren lernte ich in einem Jahr an der Schauspielschule, dass die Muskel-Kontraktionen für Weinen und Lachen fast identisch sind, weshalb wir beides in ein und derselben Übung trainieren konnten.
Es besteht also eine gewisse Verwandtschaft zwischen Lachen und Weinen, und unserer Erfahrung nach ergänzen sie einander besonders gut. Ich würde sogar soweit gehen zu behaupten, dass nach einem intensiven Weinen sich mit der Erleichterung oftmals ein Drang zu lachen von ganz allein einstellt.
Während wir Lachen laufen dann eine Reihe von Vorgängen in unserem Körper ab, die Stress abbauen, Ängste und Anspannung wie weggeblasen erscheinen lassen, Schmerzen lindern und sofort zu mehr Wohlgefühl fühlen.
Auch hierfür spielt die Gemeinschaft eine wichtige Rolle: Wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind, ist es 30 mal wahrscheinlicher, dass wir lachen, als wenn wir allein sind. Dabei lachen wir kaum über Witze im engeren Sinne, sondern zumeist einfach über irgendwelche Aussagen. Während Menschen in Studien angeben sie würden lachen, weil sie etwas lustig fänden, lachen wir anscheinend vor allem um zu zeigen, dass wir einander mögen, verstehen und irgendwie zusammengehören.
Vielleicht könnten Lachen oder zumindest ein noch so zartes Lächeln ein Ausdruck davon sein, dass ein wenig Trost inmitten der Trauer angekommen ist.
Hier kannst du mehr erfahren, wie du dir selbst zuhause oder unterwegs einen guten Rahmen für Trauerprozesse gestalten kannst:
In unserem E-Büchlein „Mein Herz erleichtern“.
Wünschst du dir, in sicher gehaltenem Rahmen gemeinsam mit anderen Menschen zu trauern?
Dann könnte eine unserer Trauer-Veranstaltungen vielleicht das richtige für dich sein, wie unsere Trauerworkshops im November 2024 oder Juni 2025.
Möchtest du von und mit uns lernen, selbst Trauerprozesse für andere zu begleiten?
Dann findest du hier alle Infos über unsere Weiterbildung in Trauerprozessbegleitung.
DISCLAIMER:
Die Empfehlungen in diesem Text ersetzen keine therapeutische Begleitung.
Wenn du das Gefühl hast, unter Angstzuständen, Depressionen oder anderen schwer auszuhaltenden seelischen Zuständen zu leiden – wisse, du bist nicht allein!
Hilfe bekommst du bei zugelassenen Psychotherapeut*innnen, beispielsweise den hier im Verzeichnis aufgeführten Personen, vielleicht auch in deiner Region: https://www.somatic-experiencing.de/traumatherapeuten-finden/
In dringenden Fällen kannst du dich auch direkt an ein Krankenhaus wenden oder den Notruf 112 wählen.
Auch die Telefonseelsorge ist 24 Stunden kostenlos erreichbar (auch anonym): (0800) 1110111 oder (0800) 1110333 (für Kinder/Jugendliche) Im Internet: www.telefonseelsorge.de