Trauer ist viel mehr als traurig sein

…wie wir Menschen tiefen Verlust erleben und bewältigen

Trauer ist eine unmenschliche Erfahrung, die in einem menschlichen Körper stattfindet.“

Christina Rasmussen

In Trauer sein bedeutet, einen unfassbar schlimmen Verlust zu erleben. Kein Mensch bleibt davon verschont, wir alle sind Trauer schon begegnet, und die meisten von uns viele Male.
Trauer bedeutet, etwas oder jemanden zu verlieren, der so bedeutsam und geliebt war, dass ich tiefen Schmerz durchleide, gleichzeitig ein Stück weit auch den Sinn und die Orientierung in meinem Leben verliere, ein Stück meiner Identität mir entgleitet, ich orientierungslos werde und nicht mehr spüren kann, wer ich selbst bin.
Unfassbar ist es, wenn ich jemanden verliere, der mir sehr nah und inniglich verbunden war, dem wir ich mich zugehörig erlebt habe, der oder die ein wichtiger Teil meines Lebens war. Dies kann ein Mensch sein, auch ein Tier, ein Haus in dem ich gelebt habe, ein vertrauter alter Baum, oder ein Platz, der mir Geborgenheit geschenkt hat.
Unfassbar ist es, wenn ich ein Stück von meiner eigenen Identität aufgeben muss, einen geliebten Beruf nicht mehr ausüben kann, oder durch Unfall oder Krankheit eine plötzliche Einschränkung meiner eigenen Fähigkeiten erleide.
Unfassbar ist die voranschreitende Zerstörung der Erde, die wir tagtäglich durch Nachrichten oder auch eigene Erfahrungen miterleben und mitansehen.

Ein Teil des Lebens

Trauer bedeutet, in eine Krise einzutauchen, die mich verändern wird, auf eine Weise, die niemand vorhersagen kann.

Du wirst nicht über den Verlust des Geliebten hinweg kommen, sondern lernen, damit zu leben. Du wirst wieder heil werden und dich selbst neu erschaffen, um diesen Verlust herum, den du erlitten hast. Du wirst wieder ganz sein, aber du wirst nie wieder so sein wie vorher, und solltest das auch nicht und würdest es auch selbst nicht wollen.“― Elisabeth Kübler-Ross

Trauer gehört von Anfang an schon zum menschlichen Leben dazu: Im Moment meiner Geburt erlebe ich als Mensch nicht nur das neu geboren sein in diese Welt, sondern auch den Verlust von fast allem, was bis dahin mein Leben ausgemacht hat – weil ich nicht länger wie eins sein kann mit dem mich umgebenden, tragenden, nährenden und wärmenden Mutterleib, ihren Herzschlag hörend, mit ihren Bewegungen schwingend. Auch im weiteren Heranwachsen durchlaufe ich immer wieder unterschiedliche Lebensphasen, zwischen denen jeweils Verlust und Abschied mich erwarten. So natürlich wie dieser Vorgang ist, so furchteinflößend und schmerzvoll ist er gleichzeitig auch, weswegen naturverbundene Kulturen diese Übergänge oft mit Ritualen begleitet haben.

„Leben bedeutet, zu verlieren was du liebst.“

Warren Brush

Dem Schmerz begegnen

Im menschlichen Leben ist Schmerz allgegenwärtig. Und er will von Anfang an bezeugt und gespiegelt werden. Sobonfu Somé, die dem Dagara Volk in Westafrika angehörte, lehrte uns, dass bereits ein Baby, wenn es weint, Erwachsene braucht, die ihm anschaulich Empathie schenken. Am besten gelingt dies, wenn sie seine Mimik, Gestik und seine Laute widerspiegeln, und dem Worte geben, was es fühlt. So erlebe das kleinste Kind, dass seine Gefühle wahrhaftig und von seinem Gegenüber angenommen sind. Würde es stattdessen ignoriert, aus dem Kreis der vertrauten Menschen weggeholt, oder müsste sich ein „das ist doch gar nicht schlimm“ anhören, würde ihm nicht nur die Verbindung zum anderen verwehrt, es bekomme auch suggeriert, das mit ihm selbst etwas nicht stimme.
Aus einer auf natürliche Weise ausgedrückten Trauer, der nicht mit heilsamer Empathie und Verständnis begegnet wird, kann im Kind eine tiefe Scham entstehen, ein festsitzendes Gefühl „nicht gut“ oder nicht „wertvoll“ zu sein, das sich wie Gift in die Psyche des (heranwachsenden) Menschen einnistet und seine Fähigkeit schwächt, in gesunder Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen zu sein.

Einander beistehen

Auch als Erwachsene brauchen wir die Zeugenschaft und das Mitgefühl von anderen Menschen in Zeiten der Trauer. „Ich kann dies nicht alleine schaffen,“ heißt es in einem Lied der Dagara, dass traditionell beim Begräbnisritual gesungen wurde. Inmitten der tiefen Krisen, die uns fordern, den Sinn unseres Lebens (wieder) zu finden, braucht es unbedingt den Beistand anderer Menschen, deren Aufmerksamkeit, Handlungen und Worte uns zu verstehen geben, dass wir nicht allein sind – auch und gerade weil wir uns in Zeiten der Trauer oft furchterregend allein fühlen.
Trost spenden bedeutet deshalb vor allem, mitzufühlen und die trauernde Freundin durch unsere Anwesenheit daran zu erinnern, dass wir da sind – für sie, mit ihr.
Elizabeth Kübler-Ross setzte sich dafür ein, dass wir trauernde Menschen, die wir begleiten, als LehrerInnen ansehen. Wir sollten ihnen erlauben, uns darüber zu lehren, was ihre Erfahrungen sind, statt bestimmte Ziele und Erwartungen zu konstruieren.

“Es ist nicht möglich, Systeme, Regeln oder emotionale Landkarten anzuwenden. Unsere Aufgabe ist es, selbst als Menschen präsent zu sein, nicht als Erretter. Eher ein Begleiter eher als ein Führer. Eher ein Freund als ein Lehrer. ” – Jon Welshons

Der Trauer-Berater Alan D. Wolfelt hat aus seiner Erfahrung mit Ritualen eine Art Modell fürs Begleiten bei schweren Verlusten entwickelt, in dem er beschreibt, wie ich als Unterstützende den Betroffenen erleichtern kann, ihren erlittenen Verlust zu integrieren, indem ich einfach präsent mit ihnen bin und sie aufmerksam beobachte – meinem Gegenüber also ein Gefährte oder Begleiter bin, und ihn ehre, Raum für ihn halte und ihn bezeuge.
Er schreibt:

  • Begleiter sein, bedeutet, mit dem Herzen zuzuhören, nicht mit dem Kopf zu analysieren.
  • Begleiter sein bedeutet neugierig zu sein, statt die eigenen Erfahrungen mitzuteilen.
  • Begleiter sein bedeutet, mit dem Schmerz des anderen präsent zu sein, nicht den Schmerz wegnehmen zu wollen.
  • Begleiter sein bedeutet jemandem zur Seite zu stehen, nicht selbst die Führung zu übernehmen.
  • Begleiter sein bedeutet, Chaos und Verwirrung zu respektieren, nicht Ordnung und Logik aufzudrängen.
  • Begleiter sein bedeutet, sich in die Wildnis der Seele eines anderen Menschen aufzumachen, jedoch nicht sich verantwortlich dafür zu fühlen, den Weg wieder heraus zu finden.

Trauer ist nicht dasselbe wie Depression

Im Gegenteil: Nur wenn ein seelischer Schmerz keinen Ausdruck und dadurch Integration und Heilung findet, kann er chronisch werden, sich verdichten, mit zahlreichen ernsthaften Krankheitssymptomen einhergehen (beispielsweise auch Krebs) und unter anderem zu schwerwiegenden und langwierigen Depressionen und auch Suizid führen.

„Ob ich trauere oder nicht ist nicht mir selbst überlassen – denn wenn Trauer da ist und ich mich dagegen entscheide bedeutet dies nur, es auf jemand anderen zu schieben, der diese Last dann für mich tragen muss.“

Martín Prechtel

Den Sinn im Trauern selbst finden

Viele Tierarten trauern um verstorbene Familien- oder Herdenmitglieder, beispielsweise Elefanten, Höckerschwäne, Löwen oder Schakale. Manche Wissenschaftler, wie Randolph Nesse sprechen davon, dass der Schmerz des Verlustes dabei helfe, sich auch in Zukunft, sogar umso mehr für den Schutz von beispielsweise den eigenen Kindern einzusetzen. Andere Forscher, wie John Archer gehen davon aus, dass Trauer einfach eine Kehrseite von unserer Fähigkeit ist, innige, tragfähige Bindungen miteinander einzugehen.
Martín Prechtel, der tief vertraut ist mit dem guatemaltekischen Volk der Tz’utujil, schreibt dass ohne Trauer die Welt aufhören würde, sich zu erneuern, aufhören würde, zu existieren.
Sie ist tatsächlich ein fundamentaler Bestandteil unserer Menschlichkeit und Verbindungsfähigkeit.

„Trauer ist dasselbe wie Lobpreisen, es ist die natürliche Weise, mit der die Liebe das ehrt, was sie vermisst.“

Martín Prechtel

Trauern und Lobpreisen sind die Lieder der Liebe

shutterstock_50114662Trauer zeigt uns und den Menschen um ums herum, was wir so inniglich geliebt haben. Indem wir unsere Trauer zeigen und miteinander teilen würdigen und feiern wir das (oder denjenigen), das wir verloren haben. Unsere Tränen seien wie Nahrung für die Ahnen, sagte Sobonfu Somé. Nur das was ich liebe, kann ich betrauern. Und so kann die Trauer mir selbst zeigen, wie viel Liebesfähigkeit in mir wohnt. Die Kraft zu lieben macht mich so verletzlich. Und in dieser Verletzlichkeit bin ich verbunden, mit allen anderen Menschen. Denn die Trauer besucht jeden von uns.

Die Antwort zum Geheimnis des Lebens ist die Liebe, die dir manchmal so wenig perfekt erschien, und wenn der Verlust dich zum Erkennen der tieferen Schönheit und Heiligkeit darin erweckt, kannst du dich eine lange Zeit nicht von deinen Knien erheben, nicht wegen der Last des Verlustes, sondern wegen der Dankbarkeit für das was vor dem Verlust kam.“  
― Dean Koontz

So schlummern inmitten der größten Traurigkeit oft auch große Dankbarkeit, Wertschätzung, und Weisheit. Bei den Dagara, wie auch bei den Anishinabe in Nordamerika und vielen anderen naturverbundenen Kulturen sind das Danken, Würdigen und Feiern, und sogar das herzhafte, befreiende Lachen ein willkommener und wesentlicher Teil des Trauer-Prozesses.
Das von Innen heraus sich wellenartig ausbreitende Schütteln bei tiefem Lachen ebenso wie bei tiefem Weinen vollbringt unser Körper mit denselben Muskeln – beide sind also ganz nah verwandt, und manchmal geht das eine ins andere über und wandert wieder zurück. Indem ich mir erlaube, frei heraus und im Fluss mit den Ereignissen des Lebens zu trauern, wächst auch meine Kapazität, Freude und sogar Glückseligkeit tiefer und intensiver zu empfinden.

„Nur Menschen, die in der Lage sind voll und ganz zu lieben, können auch großen Schmerz durchleiden, doch genau dieses Bedürfnis, zu lieben, schenkt ihnen einen Gegenpol zu ihrer Trauer und heilt sie.“

Leo Tolstoi

 

Viele Gesichter

Viele Menschen, vor allem auch kleine Kinder durchleben laut Sobonfu Somé einfache, auf einen Moment beschränkte Trauer in bestimmten Phasen.
Wenn ein Kind sich weh tut, lassen sie sich oft gut beobachten: Auf den ersten Schock/Schreck folgen mehr oder weniger starke Emotionen wie Wut oder Traurigkeit, die ganz natürlich einen stimmigen Ausdruck finden. Danach stellt sich ein Gefühl von Entspannung und Leere ein, ein Raum in dem innerer Frieden und später auch Leichtigkeit und Humor oder sogar Freude wie von selbst Einzug halten.
Bei Erwachsenen ist Trauer oft von vornherein komplexer und dockt zudem oft an vergangener, nicht vollständig ausgedrückter Trauer an. Deshalb ist es kaum möglich, klar abgrenzbare Phasen oder Abläufe zu beschreiben, die als besonders hilfreich oder unterstützend gelten könnten. Die Wissenschafts-Journalistin Ruth Davis Konigsberg hat hierzu ganz verschiedene Studien ausgewertet, die letztendlich vermitteln, dass es kein einheitliches Trauer-Erleben oder Verarbeiten gibt. 
Trauer hat so viele verschiedene Gesichter wie es Menschen gibt: Leugnen und Stumpfheit, Zorn und Raserei, Angst und Panik, Einsamkeit und Hilflosigkeit, Schock und Starre, Rastlosigkeit oder Antriebslosigkeit, Erzählen, Stille, weinen und zittern, sich übergeben, schwitzen oder frieren, Schmerzen oder Empfindungslosigkeit, Atemlosigkeit, Sehnsucht, Erregung, Erschöpfung, schreien, wehklagen, singen oder wimmern, etwas kaputt machen wollen, sich bewegen oder rennen wollen die Augen schließen, sich einrollen und verstecken wollen, gehalten werden wollen oder überhaupt gar nicht berührt werden wollen… all dies und viel mehr sind Ausdrucksformen der Trauer, die dabei helfen können, die Trauer zu bewegen und zu verarbeiten.

Trauern wieder erlernen – für eine friedvolle Kultur

 

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Das Trauer-Feuer, inspiriert von nordamerikanischen und mitteleuropäischen Formen des Not-Feuers oder Heiligen Feuers, schenkt einen geborgenen, heilsamen Raum dafür, einander in Zeiten der Trauer zu bezeugen und zu begleiten. Am Feuer können Geschichten und Gefühle geteilt und Tränen geweint werden, und in der Stille vor dem Knistern der Flammen kann selbst das gehört werden, wofür es keine Worte gibt.

Das Feuer, das Element das nur wir Menschen in unsere Mitte geholt haben, bringt uns als Gemeinschaft zusammen, so dass wir in unserem tiefsten Menschsein einander beistehen können. Es verbindet uns mit der Welt der Ahnen, all derer die vor uns gegangen sind.
Das Feuer hat die Kraft zu verwandeln. Aus der Asche des Verbrannten hilft es uns, das Wesentliche zu erkennen und uns daran zu erinnern, wer wir sind.
Das gleißende, wärmende Licht des Feuers hilft uns zu sehen, welches Geschenk dem schlimmen Verlust innewohnt. Wie die Trauer darüber uns selbst helfen kann. Und wie sie uns mit ihrer Medizin eines Tages helfen kann, anderen zu helfen.

Wenn du mehr über das Trauer-Feuer erfahren möchtest, sei herzlich willkommen! Mehr Informationen dazu findest du hier…

Ab November 2019 bieten wir eine 1jährige Ausbildung zum Trauer-Feuer-Facilitator an. Mehr Informationen darüber findest du hier…

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