Weinen – Wie es laut Wissenschaft heilsam wirken kann…
…aufgeschrieben von Elke Loepthien.
Weinen kann große emotionale Erleichterung bringen – jedoch nicht immer.
Wissenschaftler*innen, die seit Jahrzehnten probieren das emotionale Weinen in Labors zu erzeugen, um es zu untersuchen, wissen dies am besten, denn hier fühlen sich Probanden danach oft kein bisschen besser.
Werden Menschen jedoch nach Wein-Momenten in ihrem “normalen” Leben befragt, ist die überwältigende Mehrheit sich einig: Weinen kann erleichtern und auf kathartische Weise lösen, was vorher so belastend war.
Ein Forschungs-Team von der Universität Süd Florida und einer Universität in den Niederlanden hat deshalb vor gut zehn Jahren zusammen mit zwei anderen WissenschaftlerInnen über 4.000 Menschen aus 30 verschiedenen Ländern interviewt um herauszufinden, welche Faktoren dazu beitragen, WANN weinen denn erlösend wirken kann?
Ihre Ergebnisse unterstützen, was wir in unserer Trauer-Arbeit auch berücksichtigen und nutzen…
1. Soziale Unterstützung empfangen
In den Interviews schätzten die interviewten Menschen rückwirkend ihr Weinen als insgesamt erlösender ein, wenn sie dabei soziale Zuwendung erhalten hatten.
Am leichtesten fiel das den meisten, wenn es nur ein Gegenüber gab, nur ein anderer Mensch dabei war, und dieser auch noch rückversichernde, tröstende, ermutigende Worte, sowie freundliche, zugewandte Mimik und Gestik für die Weinenden hatte.
Dank genauerer Fragen wurde deutlich, dass in Kontexten mit mehreren Menschen nicht so sehr die Anzahl der Personen hier hinderlich sein konnte. Vielmehr handelte es sich in den berücksichtigten Situationen vorwiegend um Kreise, in denen Weinen grundsätzlich nicht oder in diesem Moment nicht willkommen geheißen wurde (über Worte, Mimik, Gestik), so dass eher ein Gefühl von Scham oder Beklommenheit im trauernden Menschen aufkam.
Wenn in einer Gruppe, einem Team oder anderem Kreis Tränen aufkommen, brauchen wir voneinander also umso mehr, dass wir uns deutlich darin bestätigen, dass wir auch mit Tränen und schmerzlichen Emotionen willkommen sind, dass wir in unserem Schmerz gesehen und gewürdigt werden.
2. Den Verlust auf neue Weise verstehen
Als Menschen sind wir Sinn suchende Wesen, und geben aus uns selbst heraus den Dingen Sinn. Wir schenken dem was geschieht eine Bedeutung unserer Wahl (entsprechend unserer Weltsicht, Denkmuster und -gewohnheiten).
So ist es nicht überraschend, dass das erfolgreiche “Finden” eines neuen Sinnes in dem Verlust, dem Leiden oder der Herausforderung, uns dabei hilft, nach dem Weinen einen Zustand der Katharsis zu erleben, wie es auch in der Studie dokumentiert werden konnte.
In dem Moment wo wir unser Verständnis wandeln, hat sich etwas an der Bedeutung des Verlustes für uns selbst gewandelt, und die veränderte Sicht auf die Geschehnisse, ermöglicht die innere Erleichterung.
Wann immer es schwierig ist, sucht unsere Psyche nach einem Sinn für das Schlimme, nach etwas Positivem, das wir dem Schrecklichen abgewinnen können.
Ist die neue Einsicht gefunden, kann sich etwas in unserer Tiefe entspannen und lösen. Das Trauern (und als Teil davon auch das emotionale Weinen) ist eben ein Prozess der Integration, wo schmerzhafte Dinge in unserem Leben (die vorhandenen wie die fehlenden) an ihren gegenwärtig stimmigsten Platz gerückt werden.
3. Mit Demut und Selbstverantwortungsblick schauen
Wenn ich Verantwortung für den Auslöser des Weinens bei mir selbst finden kann, statt sie anderen zuzuweisen, kann ich laut der Studie das Weinen eher als heilsam und erleichternd erleben. Sehe ich die Verantwortung stattdessen vor allem bei meinem Gegenüber, kann ich mich nach dem Weinen zwar körperlich besser fühlen, mental ist es aber weniger erleichternd.
In meiner Erfahrung kann es ein wichtiger Teil für jeden Trauer-Prozess sein, mich zu fragen was ich selbst anders machen würde, wenn ich die Chance dafür noch einmal bekäme.
Indem ich anerkenne, dass niemand anders für meinen emotionalen Zustand verantwortlich ist, sondern alle Mitmenschen sich genau so verhalten wie es ihnen eben möglich ist, und es letztendlich bei mir liegt, wie ich damit umgehe, wie ich mich selbst schützen und für meine Bedürfnisse sorgen kann, bleibt die Verantwortung bei mir – nicht im Sinne von Schuld, sondern im Sinne von Gestaltungskraft.
Ein Drittel der Momente des Weinens ereignen sich laut der Studie am späten Abend, zwischen 22:00 Uhr und Mitternacht. In dieser Tageszeit, wo es oft gerade nichts anderes mehr zu erledigen gibt, zeigen sich die Emotionen vielleicht leichter und nachdrücklicher. Die späten, dunklen Stunden schenken uns außerdem die Möglichkeit, nach dem Weinen mit mehr Ruhe zu reflektieren und uns neu auszurichten, neue Entscheidungen zu beschließen.
Auch wenn sich Gefühle von Reue dabei einstellen – das Trauern und Weinen über das, was ich selbst versäumt habe (weil ich selbst auch nur nach meinen eigenen Möglichkeiten handeln konnte) kann die Tür öffnen für hilfreichere Denk- und Verhaltensweisen in der Zukunft, welche ich durch das Trauern unter Umständen bereits ein Stück weit auf den Weg bringe.
Denn ich verbinde auf eine sinnhafte Weise die vergangenen Ereignisse mit meinen (zukünftigen) Bedürfnissen und meinen Werten.
4. Eine Lösung (er)finden
Der selbstverantwortliche Blick erleichtert auch die vierte Zutat für kathartisches Weinen, nämlich das Eintreten einer Lösung, einer Veränderung der auslösenden Umstände, mit Aussicht auf weniger Verlust und Leiden.
Denn bei vielen Herausforderungen denen wir uns gegenübersehen, können wir selbst eine Veränderung auf den Weg bringen, uns für irgendein Verhalten oder die Veränderung einer Einstellung entscheiden, die eine Verbesserung der schwierigen Situation ermöglichen oder zumindest begünstigen kann.
Bei Beziehungsthemen wurde eine Wiederannäherung an die andere Person als ein Faktor für Erleichterung nach dem Weinen beschrieben. Ebenso auch eine mit Hilfe des Weinens sich zeigende Veränderung für die gegenwärtigen Situation des Weinenden.
Im Einzelnen werden in der Studie folgende “Lösungen” als hilfreich benannt: mich selbst wieder stabil fühlen, ein Ziel erreichen, eine neue Wahrnehmung der Situation, sowie Frieden finden mit der Situation, die das Weinen ausgelöst hat.
Als Hauptgrund für Weinen auslösende Situationen werden Verluste genannt.
Auch Konflikte sind häufig ein Auslöser, vor allem für Frauen.
Allgemein können ganz unterschiedliche emotionale und mentale Zustände Weinen mit sich bringen. Laut eines Berichts im Journal for Holistic Nursing zählen dazu: Freude, Frustration, Traurigkeit, Wut, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Angst, Reue, Kummer, Einsamkeit, Scheitern, Dankbarkeit und Empathie, sowie Vergnügen, Gnade, Versuchung, ein entfliehen wollen oder auch Rache.
Und wieso Freudentränen?
Männer weinen häufiger Freudentränen als Frauen. Wenn unser Herz vor Freude überfließt geschieht dies, weil besonders tiefe Freude und Angst oder Traurigkeit wie zwei Seiten einer Medaille sind. Was mir zutiefst wichtig ist, weil ich es liebe, birgt die größten Verluste in sich.
In ihrem Text über “Weinen das heilt” (engl. “Crying that Heals”) beschreiben Griffith, Hall & Fields, dass Freudentränen eigentlich ein Ausdruck für all die Ängste, den Kummer über einen möglichen Verlust sein könnten, der eben glücklicherweise nicht eingetreten ist.
Ein Beispiel: Weine ich vor Freude über ein gesund von einer langen Reise heimgekehrtes Kind, sind in diesem berührenden, freudenreichen Moment all die vielen Möglichkeiten mit im Raum, in denen es hätte verunglücken oder verloren gehen können.
Freudentränen schenken somit scheinbar die Möglichkeit, in einem sicheren Rahmen, wenn die Gefahr quasi vorüber ist, ich nicht mehr tapfer zu sein brauche, die (vielleicht auch vielfach unbewusste) Anspannung und Stress einer angst- oder schmerzbesetzten Vor-Situation zu lösen, mit Weinen als tief gehendem emotionalen Ausdruck.
Was noch fehlt…
In meiner Erfahrung spielen noch weitere Faktoren eine Rolle dafür, ob ein Moment des Weinens als heilsam empfunden wird, vor allem ob im Anschluss ans Weinen ein Willkommen heißen und Bekräftigen des Prozesses durch andere stattfindet, verbunden mit einem nährenden Versorgen der körperlichen und seelischen Grundbedürfnisse, und auch einem Erzählen des Durchlebten und Durchlittenen.
Dieses Willkommen heißen hinterher gibt die Möglichkeit, alle schon genannten Punkte zu verfestigen und somit eine runde Gesamt-Erfahrung zu kreieren.
Diese Gesamterfahrung, bei der es mir gelungen ist, durch Weinen Erleichterung und Heilung zu finden, wird es mir bei der nächsten Gelegenheit leichter machen.
Denn auch ein bereits Vorhandensein von “erfolgreichen” Trauer-Erfahrungen in der Vergangenheit der interviewten Menschen ist ein Faktor, der sich in der Studie des internationalen Forscherteams deutlich darauf ausgewirkt hat, ob Momente des Weinens als kathartisch erlebt werden konnten.
Kathartisches Weinen verbindet Körper, Verstand und Geist
Im Konzept vom “Weinen das heilt” (engl. “Crying that Heals”) beschreiben Griffith, Hall & Fields, dass heilsames Weinen, wenn ganzheitlich betrachtet, den Abgrund zwischen Verstand, Körper und Geist zu überbrücken scheine, auch wenn wissenschaftlich (noch) nicht erklärbar ist, wie genau dies vonstatten gehe.
Sie greifen die Idee auf, dass es sowohl für Weinende, als auch für Bezeugende einen tiefgreifenden spirituellen Transzendenz-Prozess ermögliche, dass es “ein Fenster zum inneren Selbst eröffne, ein Fenster, das ein spirituelles Erwachen möglich mache, durch das wir tiefe Ruhe und inneren Frieden erleben” könnten. Sie sprechen von einem ganz besonderen spirituellen Erleben, das das Selbst und das tiefere Sein erfrischen, die Seele wieder erwecken und damit sowohl körperliches als auch seelisches Leid lindern könnte.
Zwar existieren einzelne Schilderungen von weinenden Hunden, Affen und Elefanten, doch scheint das emotionale Weinen im Großen und Ganzen vor allem ein menschliches Phänomen zu sein.
Ich sehe darin ein unfassbar kraftvolles Geschenk der Schöpfung für unser Leben und Zusammenleben, dass uns immer wieder ermöglicht, mit erneuerter Weichheit, Liebe und Verletzlichkeit in Verbindung mit einander zu sein und zu wachsen.
Wir brauchen einander zum Weinen und Trauern, jetzt!
Der Schmerz über den Zustand der Erde und der Menschheit hat für viele von uns nie dagewesene Ausmaße erreicht. Manchmal schaffen wir es, ihn auszublenden. Manchmal spricht er durch uns mit einer aufbrausenden Stimme von Aggressivität und Schuldzuweisungen. Die weitere Entwicklung der Erde und der Menschheit ist ein Thema, das stark polarisiert.
Die sozialen Medien sind voll von heftigen Auseinandersetzungen über Theorien und Gegentheorien, von gegenseitigen Schuldzuweisungen, Vorwürfen, Anfeindungen gegen Menschengruppen unterschiedlichster Art. Wenn Trauer da ist und sie keinen gesunden Weg findet, zeigt sie sich vielleicht in Hass und Aggressivität, und statt als Menschheit zusammenzuhalten bekämpfen wir uns gegenseitig. Manchmal verhärtet sie uns scheinbar zu resignierter Bitterkeit und Starre, so dass wir mehr tot als lebendig durch unsere Tage gehen.
Doch wir sind dem nicht ausgeliefert – das Trauern kann uns immer wieder aus der Krise in die Katharsis helfen, und Freude zurückholen.
Die Trauer um die Natur und um die gefährdete Zukunft betrifft uns alle, wir sind alle mehr oder weniger selbst mit verantwortlich (und können diese Selbstverantwortung auch zu uns nehmen), und sie nutzen um demutsvoll unser Verständnis der Situation immer wieder zu vertiefen und zu erneuern.
Wir können im Trauern, durch das Trauern Lösungen finden und bekräftigen, die von der aufgeweichten, in Sanftmut wirkenden Energie unseres Schmerzes genährt genau das in die Welt bringen können, was wir als Menschheit zu verlieren drohen oder glauben schon verloren zu haben – die tiefe, nährende und fürsorgende Liebe zwischen uns und der gesamten Schöpfung.
Martín Prechtel, Autor und Sammler von Erfahrungen in tiefer Verbindung mit der Natur, vermag in Worte zu fassen, was vielleicht möglich ist:
“Wenn wir selbst als Individuen unser Verlorensein und unsere Orientierungslosigkeit anerkennen und betrauern, können wir unser Einheimisch sein auf der Erde wieder zurück ins Leben erinnern. Wir können unser Verlorensein auf diese Weise zu wertvollem spirituellem Kompost verdauen, welcher uns erlaubt genau da innezuhalten wo wir stehen, und nicht vor unserer seltsamen Vergangenheit wegzurennen, sondern klein zu sein, unbewaffnet, tapfer und schön.
So können wir das Heilige in der Natur mit jenen Früchten der Schönheit füttern, die an jenem Baum reifen, zu dem die Erinnerung an unsere indigene Seele heranwächst. Dieser Baum wächst und gedeiht im kompostierten Scheitern unseres einstmaligen Drängens, die Welt zu erobern. Er wird gewässert von den Tränen der Trauer unserer gesamten Kultur.
Auf diese Weise können wir vielleicht zu Ahnen werden, die es würdig sind,
von ihnen abzustammen,
indem wir einen Ort der Hoffnung erwachsen lassen,
für eine Zeit jenseits der unsrigen.”
Martín Prechtel
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