…aufgeschrieben von Elke Loepthien
Corona-Maßnahmen, Klimakatastrophen-Proteste, Streit um Ernährungweisen oder Kindererziehung:
Wenn unterschiedliche Meinungen einander gegenüber stehen, ist dies oftmals so bedrohlich, dass wir uns in Kampf, Flucht oder Starre wiederfinden – und sogar langjährige Freundschaften in Gefahr geraten können.
In mir selbst kann ich gut beobachten, wie die Welt sich auf einmal eng anfühlt, wenn es in einer Situation keinen akzeptablen Ausweg zu geben scheint. In solchen Momenten beginne ich leicht, mich gegen andere Menschen zu richten und zu verurteilen, statt mitzufühlen.
Warum ist es so schwer, einen gemeinsamen Weg zu finden?
Mein 13jähriger Sohn zeigt mir gerade viele Filme über Superheld*Innen, die die Welt retten, von denen er total begeistert ist.
Was das trügerische Superhelden-Idealbild mir vor Augen führt ist, wie tief – auch in mir selbst – der Wunsch danach steckt, auf der Seite der Guten zu sein – und damit verbunden auch eine tapfere Bereitschaft zu kämpfen wenn es notwendig wird, mit allen Mitteln.
Doch das ist keineswegs so vernünftig, wie es zu sein scheint!
Wenn ich an meine Erfahrungen bei den Ju/’hoansi-Buschleuten denke oder an die Geschichten aus anderen friedvollen Kulturen, wie sie beispielsweise Tom Porter erzählt, sehe ich das genaue Gegenteil von einem Action-Film – vielmehr ein beständiges miteinander aufeinander lauschen und große Disziplin dabei, gemeinsame Wege zu finden, im Respekt für die Bedürfnisse der jeweils anderen.
Konditioniert darauf, Recht zu haben
Es ist wohl einer Aspekt unserer westlichen Kultur, dass die menschliche Regung des „Recht haben wollen“ oder auf der „richtigen“ Seite sein wollen, hier bei uns nicht relativiert wird, sondern im Gegenteil von Klein auf noch angefeuert wird – so dass viele von uns dies als Grundgewissheit regelrecht brauchen.
Wir bekommen es in der Schule schon angewöhnt, wie beschämend es ist, falsch zu liegen, wie schmerzhaft und bedrohlich.
Und wenn wir das einmal verstanden haben, beweisen wir unsere „Kompetenz“ beständig (vor allem vor uns selbst) – und dies erscheint leichter, indem wir gegen die „falsche“ Seite kämpfen.
Wir brauchen also die Bösen oder das Böse, könnte man sagen, damit wir selbst die Guten sein können. Ohne passende Gegner*Innen ist es schwierig, diese Gewissheit zu haben.
Und gerade in unsicheren Zeiten wie jetzt, wo die Zivilisation in ihrer bisherigen Form schier zusammenzubrechen scheint und nur sehr vage Zukunftsperspektiven zur Verfügung stehen, wollen doch die meisten Menschen zumindest auf der Seite der Guten sein!
Doch infolge dieses aufrichtigen Bestrebens werden seit Jahrtausenden fruchtlose Kriege geführt, bei denen niemand wirklich jemals gewinnen kann – zwischen Völkern, zwischen Liebenden, zwischen Geschwistern, zwischen uns allen.
Ein Infragestellen unserer eigenen politischen Ansichten wird von unserem Nervensystem tatsächlich ähnlich bedrohlich empfunden, wie ein bewaffneter Angriff.
Dabei ist Wahrheit, falls wir sie überhaupt jemals erfassen können, ein fantastisch buntes, komplexes Puzzle, zu dem alle Teile dazu gehören, die herumliegen.
Diese vielen verschiedenen Teilchen voller Respekt, Achtung und vor allem Humor zusammenzutragen ist eine Kunst, die für ein friedvolles Miteinander unersetzlich ist.
Keine Superkraft der Welt kann mehr Frieden bewirken!
Über den Tellerrand schauen
Bemerke ich, wie ich innerlich ins Verurteilen komme, kann es so richtig gut tun, mal ganz weit raus zu zoomen:
„Overview-Effekt“ heißt der von Weltraumfahrenden beschriebene Bewusstseins-Sprung, den viele von denen erlebt haben, die unseren kleinen blauen Planeten von ganz weit draußen betrachten konnten. Fast alle beschreiben, wie unbedeutend ihnen aus dieser Distanz alle menschengemachten Konflikte erschienen, und viele drückten eine weltumspannende Liebe zu dieser wundersamen Kugel voller Leben aus, die wir unsere Erde nennen.
Wenn wir weit genug raus-zoomen, sehen wir anscheinend klarer, was uns eigentlich alles verbindet, und unser angeborener Drang die Menschen in „zu mir gehörig“ und „die anderen“ einzuteilen, wird kleiner.
Auch ohne Rakete ist es möglich, mit Hilfe unserer Vorstellungskraft diese Reise anzutreten und von ganz weit entfernt auf die Erde als lebendigen Organismus zu schauen, der inmitten des lebensfeindlichen Weltraums, geschützt durch eine nur hautdünne Atmosphäre, all diese wundervollen Wesen beherbergt, einschließlich uns – der eigentlich allesamt recht seltsamen Menschen.
Für mich ist dies auch ein Inbegriff von Spiritualität – mich bewusst mit dem zu verbinden, was die Verbindung zu allem Leben für mich deutlich spürbar macht.
Diese Art von Verbindung zum ganz großen Ganzen macht es leichter, auch angesichts großer Konflikte und großer Unsicherheit, mich selbst auf eine lebensfördernde Weise zu verhalten und meine Energien zu bündeln für das, was gerade hilfreich und gebrauch ist.
Wieder zueinander finden
Mir hat es gut getan, gerade in diesen letzten Wochen mich immer wieder auf Geschichten zu besinnen, wo trotz gewaltiger Konflikte eine Verbindung wieder möglich wurde.
„Beyond Right and Wrong – Stories of Justice and Forgiveness“ ist ein englisch-sprachiger Film darüber, wie es Menschen gelungen ist, die größten denkbaren Abgründe zu jemand anders zu überwinden und Verbindung zu finden: In der Dokumentation kommen Opfer schrecklicher Gräueltaten zu Wort, die es geschafft haben, mit den Tätern Frieden zu schließen. Der Film beschreibt, wie dadurch tragfähige Brücken gebaut werden, die Verbindungen erschaffen, wo dies völlig aussichtslos und unmöglich erschien – und wie weitreichend die positiven Folgen davon sein können.
Wenn du Lust auf mehr Geschichten dieser Art hast kann ich dir auch das Buch „Peacemaking Circles – From Conflict to Community“ empfehlen. Die Autoren, die unterschiedlichen Ureinwohner-Kulturen in Nordamerika angehören und dort als Friedensstifter tätig sind, erzählen Geschichten von Peacemaking-Prozessen in ihrem Kontext, beispielsweise nach Verbrechen, wo Täter, Opfer und deren Familien und größere Gemeinschaft einbezogen werden, um wahrhaftigen Frieden herzustellen.
Brücken bauen ist möglich
Wenn du in deinem nahen Umfeld mit Menschen zu tun hast, die ganz andere Ansichten vertreten, als du selbst, empfehle ich dir das Buch „How to have Impossible Conversations“. Darin beschreiben Peter Boghossian und James Lindsay die wichtigen Grundschritte, damit ein Gespräch über das konflikthafte Thema gelingen und die Verbindung zu den anderen bestärken kann:
1. Versuche die Position der anderen so klar, deutlich und wohlwollend wiederzugeben, dass diese am liebsten sagen würden: „Danke, ich wünschte ich hätte es selbst so ausdrücken können.“
2. Benenne alle Übereinstimmungen mit deiner eigenen Sichtweise (je themenspezifischer, desto besser).
3. Sprich alles aus, was du von deinem Gegenüber lernen konntest.
4. Erst dann ist ein fruchtbarer Boden dafür bereitet, nun gemeinsam zu erforschen, wie valide die einzelnen Standpunkte sind.
Die eigene Ignoranz einzugestehen schafft Offenheit
Fakten aufzuzählen ist oft nicht so hilfreich. So wenig wie die meisten von uns in der Lage seien wirklich zu erklären, wie unser Telefon funktioniert oder was Radiowellen eigentlich sind, wären die wenigsten Glaubenssätze und Meinungen, die wir übernehmen und benutzen, auf wirklichem objektivem Faktenwissen basiert, schreiben Boghossian und Lindsay.
Was ich oft hilfreich finde ist es, gemeinsam in die Tiefe zu tauchen:
„Was sind die Werte die für mich/dich im Kern hinter dieser Überzeugung stehen?“ „Warum sind mir gerade diese Werte so wichtig/heilig?“
So können wir es schaffen, für uns selbst und für unsere Gesprächspartner Druck rauszunehmen und buchstäblich den Horizont des Gespräches zu erweitern – um mit mehr Weite im Herzen und Verstand eine gemeinsame Basis zu finden, auf der Verbindung möglich ist.
Selbst in Momenten wo ich mich nicht traue, diese Fragen wirklich laut zu stellen, kann ich spüren, wie sie auf mich selbst und mein eigenes Vermögen dem anderen mit Offenheit zu begegnen wirken, sogar wenn ich sie einfach nur im Stillen für mich selbst beantworte.
Viele unserer Überzeugungen sind für uns regelrechte Anker im Dasein. Gerade solche Sichtweisen in Frage zu stellen, die uns vielleicht schon lange im Leben begleiten (auch wenn sie vielleicht wenig hilfreich oder sogar schädlich für uns selbst oder andere sind) kann deshalb große Unsicherheit mit sich bringen.
Es fällt viel leichter, sich darauf einzulassen, wenn mein Gegenüber zum eigenen Unwissen und der eigenen Ignoranz steht, diese ganz ehrlich zugibt (beispielsweise durch Aussagen wie: „Ich hab mich auch bis vor Kurzem gar nicht damit beschäftigt.“ oder „Das ist was ich bisher verstanden habe.“)
Damit können wir einander sozusagen auf neutralerem Boden begegnen – eine gute Voraussetzung für behutsameren und mehr Verbindung schaffenden Austausch.
Es gibt Fragen, die hier für uns selbst und für unser Gegenüber die Anhaftung an unsere (natürlich immer begrenzten) Sichtweisen etwas lockern können, und dadurch ein Stück weit Erleichterung und Öffnung, vor allem aber die Möglichkeit für echtes Mitgefühl mit der Wahrnehmung der anderen Person schenken:
– „Gäbe es Umstände unter denen ich/du diese Sache anders bewerten würde?“
– „Könnte man trotzdem ein guter Mensch sein, selbst wenn man diese bestimmte Sache anders sehen würde?“
– „Gibt es irgendeinen Menschen, der für mich/dich ein „guter Mensch“ ist, und diese Sache (vermutlich) anders sieht?“
Verschwörungs-Geschichten erkennen
Desinformationen rund um teilweise alte Verschwörungstheorien und deren viele kleine, an die Pandemie angekoppelten Ableger haben potenziert von den sozialen Medien in den letzten Monaten unzählige Menschen aus allen gesellschaftlichen Milieus erreicht (vor allem tatsächlich ältere Menschen, die mit den Tücken des Internets wenig vertraut sind) und tiefgreifendes Misstrauen gegenüber unseren demokratischen Systemen und Institutionen gesät.
Es ist leicht möglich, sich im „Kaninchenbau“ der verschiedensten und oft komplizierten Geschichtenstränge zu verlieren, die sich im Kern darüber einig sind, dass irgendwelche „Bösen“ es auf uns vollkommen unschuldige, gute Menschen abgesehen hätten.
Verschwörungstheorien bieten Menschen im ersten Moment oft ein Gefühl von Sicherheit – nicht weil sie inhaltlich einfach sind, sondern weil sie emotional einfach sind: Wenn man sie hört oder liest, kann man sich selbst sofort und ohne Zweifel auf der Seite der Guten verorten und damit direkt entspannen.
Im Dokumentarfilm „Das Dilemma mit den sozialen Medien“ erzählen die Mit-Entwickler*innen über die erschreckenden Schattenseiten der von ihnen in die Welt gebrachten Technologien. Eine davon sei es, dass „falsche Nachrichten“ sich sechs mal so schnell verbreiten würden wie echte Tatsachen. Und was wir oft hören, das glauben wir eher als etwas, dass wir seltener hören.
Selbst angesichts der absurdesten Behauptungen und längst widerlegten Falschinformationen schafft die Wiederholung es, dass wir trotzdem innerlich ein „irgendwas Wahres wird schon dran sein“ erleben – und ein leichtes Grundgefühl von Misstrauen abspeichern, an dem spätere Meldungen andocken und darauf aufbauen können.
Der Effekt verstärkt sich mit der Zeit, vor allem wenn niemand da ist, der kritisch hinterfragt.
In der NS-Zeit wurde das Verschwörungsdenken auf die Spitze getrieben, es beflügelte unvorstellbare Greueltaten und überzeugte unzählige Menschen davon, dass unfassbare Verbrechen notwendig seien und geduldet werden sollten.
Und auch heute birgt der Glaube an Verschwörungsideologien das Potential für Gewalttaten, bei denen Täter*innen sich als gerechte Vollstreckende und sogar Held*innen fühlen können.
Willkommen sein ist ein menschliches Grundbedürfnis
Laut Katharina Nocun und Pia Lamberty sind es wenn überhaupt oft die engeren persönlichen Beziehungen in unserem Leben, die Menschen ermöglichen können, den Ausweg aus der oft „alles-auf-der-Welt-erklärenden“ Einbahnstraße der miteinander korrespondierenden Verschwörungserzählungen zu finden.
Sie beschreiben in ihrem Buch, warum es notwendig ist, hier nicht wegzuschauen oder Aussagen widerspruchslos stehen zu lassen, sondern eine andere Perspektive daneben zu stellen.
Nichts dagegen sagen könne wie Zuspruch wirken, schreiben sie. Zu heftige Ablehnung könnte dazu führen, dass die Person sich noch weiter in soziale Nischen-Räume wie innerhalb von Messenger-Diensten wie Telegramm zurückziehen und mit der Zeit immer weniger Kontakt zu Menschen die nicht dieselbe Verschwörungstheorie vertreten pflegen würde.
Doch das, was spontan die angenehm erleichternde Erkenntnis ermöglicht, ganz sicher auf der „guten Seite“ zu sein, entpuppe sich später oft als Einbahnstraße hin zu immer stärkeren sozialen, politischen Ängsten und einem tatsächlich wachsendem Gefühl von Hilflosigkeit oder Verzweiflung.
Gewaltfantasien, Drohungen und Gewalttaten der letzten Wochen könnten ein Versuch für Linderung persönlichen Leids sein, das durch die Wirkung von Verschwörungsgeschichten bis ins Unerträgliche vervielfacht wurde.
Es sind dies Ereignisse, die wir als deutliches Zeichen dafür nutzen können, Geschichten und Theorien über gesellschaftliche, politische oder auch gesundheitliche Phänomene, die in unserem eigenen Leben oder dem unserer Liebsten kursieren, kritisch in den Blick zu nehmen, uns Faktenchecks darüber zu suchen, sie zu hinterfragen und vor allem uns dabei Unterstützung von Menschen zu suchen, die Verschwörungstheorien auf den Grund gehen und die zugrunde liegenden Fehlinformationen entlarven.
Mögen wir es schaffen, füreinander immer wieder Anker zu sein in eine Wirklichkeit, die komplex und manchmal schwer auszuhalten ist, wo „Gut“ und „Böse“ nicht so leicht voneinander zu trennen sind, wo Nicht-Wissen uns manchmal hilflos fühlen lässt, wo Informationen für das Treffen wichtiger Entscheidungen manchmal auf sich warten lassen und wir (oder auch Virolog*innen und Politiker*innen) manchmal erst hinterher wissen, was besser gewesen wäre.
„Jenseits von Richtig und Falsch ist ein Garten – dort werden wir zusammenfinden.“
Rumi
Dieser Satz von Rumi weißt nicht nur darauf hin, dass Verbindung möglich ist, wann immer wir die Welt nicht mehr in Richtig und Falsch einteilen, sondern einander auf einer tieferen Ebene begegnen möchten.
In dieser Zeit heute ist er für mich außerdem ein mahnender Appell daran, dass wir den Glauben an die festgefahrensten und urteilsvollsten Geschichten darüber, was oder wer in der Welt „richtig“ und was oder wer „falsch“ ist, abschütteln können und uns stattdessen in einem Raum wiedertreffen, wo wir alle einfach Menschen sind, die gemeinsam lernen und sich weiter entwickeln.
Möchtest du mehr darüber lernen, wie wir einander als Menschen willkommen heißen können,
genau so wie wir sind?
Dann könnte dir unser Online-Paket zum Thema Mentoring gefallen, du findest es hier….