Schlagwortarchiv für: Trauerarbeit

angst vor dem krieg

So viel Angst vor dem Krieg und rund um den Krieg, die in vielen von uns und um uns spürbar ist –
wie können wir trotzdem klarkommen und irgendwie hilfreich sein?

Sieben mögliche Handlungsfelder, aufgeschrieben von Elke Loepthien-Gerwert…

 

Das Grauen über den Krieg schnürt vielen die Kehle zu. In einer Umfrage zu Beginn des Krieges sagten fast 70 % der Menschen in Deutschland, sie würden den Ausbruch eines dritten Weltkriegs befürchten. Doch auch ohne Atomraketen ist die Lage schlimm genug.

Lähmend ist die Hilflosigkeit angesichts des Leidens, das gerade jetzt und immerzu auf die Menschen hereinbricht, in der Ukraine und auf der Flucht, die gerade in diesem Moment mit Todesangst, Hunger und Kälte, mit Rassismus oder Menschenhandel konfrontiert sind, ebenso die Angst davor, was daraus noch weiter erwachsen könnte.

Es ist wie ein Erwachen in einer niemals gewollten Wirklichkeit, von der überhaupt nicht absehbar ist, wie sie sich entwickeln wird.

Der Angst begegnen

„Ein großer Unterschied zu anderen, irrationalen Ängsten ist, dass diese Angst real ist“, sagt Jörg Angenendt, Leitender Psychologe der Psychotraumatologischen Ambulanz des Uniklinikums Freiburg im Gespräch mit der ZEIT.

Wie können wir damit klarkommen? Wie können wir selbst gesund bleiben, für unsere Liebsten sorgen, hilfreich für die vielen Menschen sein, die unsere Unterstützung wirklich gut gebrauchen können UND dann auch noch dazu beitragen, dass die Klima-Katastrophe aufgehalten werden kann?

Diese Fragen haben wir uns oft gestellt in den letzten Tagen. Hier sind  sieben haltgebenden Handlungsmöglichkeiten, die wir finden konnten…

1. Nachrichten- & Medien-Konsum regulieren, aber nicht komplett vermeiden

Schlimme Nachrichten lösen Stress aus, und unsere Fähigkeit klar zu denken wird zunehmend eingeschränkt.

Die CIA-Analystin Cindy Otis beschreibt, was uns passieren kann, wenn wir tagtäglich so viel negative Nachrichten erfahren:

  • Gleichgültigkeit – wenn uns das Schlimme irgendwann ganz „normal“ erscheint.
  • Lähmung – wenn wir so überfordert und überwältigt sind, dass wir uns außerstande fühlen, irgendwas zu tun
  • Endzeitstimmung – wenn jede weitere Neuigkeit uns in Alarmbereitschaft versetzt, dass bald alles vorbei sein könnte
  • Depression oder Post-Traumatische Belastungsstörungen – selbst wenn wir gar nicht life dabei waren – schlimme Meldungen nur allein zu hören, genügt manchmal um beides auszulösen
  • Physische Symptome – Schwindel, Kopfschmerzen, Fieberschübe, Konzentrationsschwäche, Erschöpfung usw.

Doch unsere Wahrnehmung konzentriert sich nun einmal besonders auf alles was gefährlich sein könnte. Deshalb interessieren wir uns vorwiegend für negative Neuigkeiten, nicht nur in Kriegszeiten. Schon 1977 zeigten  71,4 Prozent aller TV-Nachrichten Hilflosigkeit.

Dabei kann gerade das wiederholte Betrachten von Hilflosigkeit regelrecht ansteckend sein. Wir lernen dabei quasi, uns selbst hilflos zu fühlen und unsere Bereitschaft, aktiv gesellschaftlich mitzuwirken, könnte sogar sinken – so dass wir weniger hilfsbereit handeln.

Den Teufelskreis durchbrechen

Wenn wir erstmal Angst haben, fühlen wir noch stärkeren Drang, immer mehr beängstigende Informationen zu sammeln. „Exzessiver Nachrichtenkonsum ist ein Versuch, die Kontrolle wieder herzustellen, die wir gerade aber nicht haben können“, sagt Ceylan Schuster, aus der Angstambulanz Frankfurt.

Sie empfehlt einen reduzierten Medienkonsum, warnt aber gleichzeitig davor, sich den Nachrichten komplett zu entziehen: „Durch Vermeidung wird die Angst nur größer.“

Menschen, die bewusst gar keine Nachrichten konsumieren, begründen ihre Entscheidung oft damit, dass die Meldungen ihre Stimmung schwer beeinträchtigen würden und sie nicht das Gefühl hätten, „irgendetwas tun zu können“.

Nach Tröstlichem und Ermutigendem suchen

Viele Menschen verspüren deshalb einen Wunsch nach mehr Berichten über Lösungen in den Medien. Dies ist nicht nur ein psychologisches Bedürfnis, sondern auch gesellschaftlich relevant.

Denn sehen zu können, wie jemand anders aktiv lebensförderlich handelt, wirkt ebenfalls ansteckend.

Tapferes oder menschenfreundliches Verhalten zu erleben oder darüber zu erfahren, hilft uns nachweislich dabei, uns selbst auch großherziger zu verhalten.

Deshalb sind es also berührende Meldungen über tapfere Taten, aktive Nächstenliebe und Solidarität, die jetzt gerade so wichtig für uns alle sind.

Oft ist es das Verhalten von Einzelnen, das vielen anderen Mut geben kann

Die Journalistin Ronja Wurmb-Seibel beschreibt, wie sie fast zerbrach an dem unermesslichen Leid, dass sie als Berichterstatterin in Afghanistan miterlebte. Sie suchte Wege, wie sie ihrer Arbeit nachgehen und dabei trotzdem seelisch gesund bleiben könnte.

Ihre Erkenntnis: Wir brauchen Geschichten, die Mut machen. Nicht weil sie problemfrei wären, sondern weil sie „Probleme plus X“ enthielten – entweder Lösungen oder zumindest „eine Person, die alles dafür gab, damit sich Dinge ändern, die damit anderen Zuversicht schenkte“

Einige solcher Geschichten, aktuell aus der Ukraine finden sich in dieser fortlaufend wachsenden Sammlung der ZEIT.

Humor kann alles leichter machen

Dmitro Chayka, ein 25jähriger Filmproduzent schreibt: „Humor ist ein Weg, mit dem Krieg umzugehen, ein coping mechanism. Die sozialen Medien sind voll von Witzen über den Krieg. Warte, ich scrolle mal kurz durch mein Handy. Ah, hier. Also: Die russische Propaganda behauptet gerade, dass die Ukrainer Biowaffen entwickeln, um Russen zu töten. ‚Biowaffen?‘, schreibt einer. ‚Meinen die Russen den Borschtsch, der seit zwölf Tagen in meinem Eisfach feststeckt?‘“

Der Dalai Lama, geistlicher Führer der Tibeter, hat selbst Flucht und fast den Genozid seines eigenen Volkes miterlebt. Er beschäftigt sich intensiv mit Leid und Missständen auf der Welt. Er beschreibt wie grundlegend es für unsere seelische Gesundheit ist, dem Leben immer wieder mit Humor zu begegnen.

Wo ausgelassen aus tiefstem Bauch heraus gelacht wird, kann auch die größte Angst zumindest kurz schmelzen und ein Raum entstehen, in dem Vertrauen, Liebe und Frieden erlebbar sein können.

2. Angst akzeptieren & uns daran erinnern, dass sogar positive Auswirkungen möglich sind

Im zweiten Weltkrieg wurde in Großbritannien der Slogan: „Keep Calm and Carry on“ verbreitet (=„Bleib ruhig und mach weiter“). Dabei zeigen viele Studien, dass es kaum möglich ist, Emotionen einfach wegzudrücken, im Gegenteil:

Gefühle können umso qualvoller werden, je stärker man sie abwehrt. „Akzeptieren Sie die Komplexität der Situation, anstatt innerlich gegen sie anzukämpfen„, rät Oliver Tüscher vom Leibniz Institut für Resilienzforschung.

Gerade langfristig sei es wichtig, einen Umgang mit der Angst zu lernen und sie als ganz normales Gefühl zu akzeptieren, sagt auch Ceylan Schuster:„Wichtig ist, dass man innehält und dieses Gefühl der Angst benennt, wenn es kommt. Was passiert gerade mit mir, wie fühle ich mich? Hilflos? Ohnmächtig? Es ist ganz wichtig, sich zu sagen: Es ist okay, sich so zu fühlen.“

Das aktive Akzeptieren einer Situation genauso wie sie ist (einschließlich unserer Emotionen dazu), kann uns aus einem festgefahrenen Zustand zurück in den Moment bringen. Erst dadurch wären wir frei, aktiv (statt nur reaktiv) zu handeln.

Dies ist nicht gleichbedeutend mit Resignieren oder Aufgeben. Es geht nicht darum zu akzeptieren, dass die Lage nie wieder besser werden könnte – nur, dass sie gerade jetzt einfach so ist wie sie ist.

„Es ist wie es ist“ – kann ein kurzes und echt tröstliches Mantra sein, von dem uns kürzlich jemand erzählt hat.

Angst kann positive Auswirkungen haben!

Wenn wir uns bedroht fühlen, löst das immer Stress in unserem Körper aus, vereinfacht gesagt: Unsere individuellen oder sozialen Anpassungs-Systeme sind überfordert mit (äußeren oder auch innerlichen) Anforderungen einer Situation.

Stress ist richtig anstrengend für unser gesamtes System. Er konnte laut einer Studie die Sterblichkeit deutlich erhöhen – aber erstaunlicherweise nur bei jenen Menschen, die diesen Stress selbst auch negativ bewerteten.

Ob wir es schaffen, dem unvermeidbaren Stress in unserem Leben etwas Positives abzugewinnen, scheint also eine wichtige Rolle zu spielen, um unsere individuelle (und vielleicht auch kollektive) Resilienz zu entwickeln.

Mit schweren Umständen halbwegs klar kommen oder dank ihnen sogar aufzublühen ist etwas, das uns Menschen besser gelingt, wenn wir in früheren Zeiten schon mal Schwierigkeiten überstanden haben. Was uns nicht umbringt kann uns also resilienter machen.

Einfach nur über positive Wirkungen von Stress zu wissen, kann schon enorm helfen

Eine Studie der Stanford Universität konnte in Experimenten nachweisen, dass eine positive Einstellung gegenüber Stress sich entscheidend auswirkte: Personen erlebten stressvolle Erfahrungen als angenehmer, hatten mehr Aufmerksamkeit für positive Reize und handelten kognitiv flexibler.    

Das ist bedeutsam, weil wir eben im Leben oft mit Stress durch Umstände konfrontiert sind, an denen wir nicht direkt etwas ändern können. Umso wichtiger ist es also zu wissen, dass allein unsere Einstellung dazu einen echten Unterschied machen kann – dafür wie wir die Situation erleben und wie sehr wir in der Lage sein werden, uns hilfreich zu verhalten.

Sogar lebensbedrohliche Situationen können positive Auswirkungen haben

Tatsächlich existieren positive Auswirkungen von Stress und bedrohlichen Situationen: Sie können uns darin stärken, selbst die Initiative zu ergreifen und allgemein produktiver zu sein sowie eine Art physiologisches „Aufblühen“ (engl. „thriving“) auslösen.

Sogar heftigster Stress durch lebensbedrohliche Ereignissen kann zu etwas Gutem führen: Dazu gehören eine größere Wertschätzung für das Leben, mehr Bewusstheit für eigene Stärken und gestärkte Beziehungen – Phänomene die oft unter dem Begriff „post-traumatisches Wachstum“ zusammengefasst werden.    

Der über 90jährige Benediktiner-Mönch David Steindl-Rast erzählt (immer mal wieder), dass mit die glücklichste Zeit seines Lebens während des Kriegs war – weil er aufgrund der beständigen Bedrohung intensiv jeden Moment erleben konnte.

3. Immer wieder im Hier und Jetzt verankern

„Das Gegenteil von Unsicherheit ist nicht Sicherheit – es ist Präsenz,“ schreibt Christine Carter. Wenn wir uns in erschreckenden Gedanken verlieren, kann unser Körper einen Ausweg ermöglichen, über die Sinne:

„Was kann ich jetzt gerade auf meiner Haut spüren? Was kann ich jetzt gerade riechen? Was hören und was sehen, wenn ich mich umschaue? Wie fühlt sich mein Körper innen drin an, von den Zehen bis zum Scheitel?“

Fragen und (Selbst-)Beobachtung können helfen, im Moment anzukommen, immer wieder.

Atem

Ein anderer wirkungsvoller Anker kann unser Atem sein: Ihn einfach nur wahrzunehmen und zu beobachten, wie er von ganz allein in uns ein und aus strömt.

Der Atem, oder auch unser Herzschlag, können uns helfen zu lernen wie es ist, etwas aufmerksam und liebevoll wahrzunehmen, ohne zu versuchen, es zu kontrollieren.

Mit der Aufmerksamkeit wird sich Ruhe von ganz allein einstellen, oder wir können nach einer Weile bewusst das Ausatmen verlängern, zum Beispiel indem wir durch einen leicht geöffneten Mund ausatmen, oder mit einem langgezogenen „w“ oder „f“, und dabei den Luftstrom bewusst spüren, danach wieder frei und recht kurz durch Nase oder Mund einatmen.

Längeres Ausatmen kann dem Körper dabei, mehr Entspannung zuzulassen. (Wichtig: Den Atem wieder frei fließen lassen, falls dir schwindlig oder unwohl wird!)

Bewegung

Ist das Gefühl von Unsicherheit groß, kann auch Bewegung helfen, vor allem mit beiden Körperhälften: Zappeln mit beiden Füßen oder mit allen Fingern an beiden Händen, rhythmisches hin und her Schwingen der Arme oder sogar ein Hampelmann.

Auch Balancieren oder Hüpfen auf einem Bein kann über das Gleichgewichtsorgan im Gehirn helfen, angstvolle Starre abzuschütteln.

Spazieren gehen, vor allem in der Natur, ist eine der besten Aktivitäten überhaupt um „runterzukommen“. Es hilft auch Auswege aus Konflikten zu finden, klarer zu denken und besser zu entscheiden.

4. Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge

Wir können nicht 24h am Tag die Welt retten. Den größten Dienst können wir dann schenken, wenn wir für unsere eigenen Bedürfnisse sorgen und genährt und fit sind, um etwas zu geben.

Kristin Neff erforscht das Selbstmitgefühl: Uns selbst so liebevoll zu behandeln, wie wir dies mit guten Freund:innen tun würden.

Wie kann eine Selbstmitgefühl-Übung und Praxis aussehen?

Kleine Selbstmitgefühl-Übung

1. Spüren was du fühlst und anerkennen: Es ist gerade schwer, schlimm, schmerzlich für mich.

2. Dich erinnern, dass schlimme Gefühle und Emotionen zu erleben ein ganz natürlicher Teil vom Mensch-Sein ist: „Alle Menschen fühlen sich manchmal so oder so ähnlich.“

3. Dir bewusst und aktiv Trost und Zuwendung schenken, beispielsweise durch eine Berührung (Hand aufs Herz, oder dich selbst umarmen) und auch durch ein paar liebevolle Worte (gedacht oder gemurmelt), wie: „Möge ich mitfühlend mit mir sein.“ oder „Möge ich den Trost finden, den ich brauche.“

(Link zur ganzen Übung)

(Wir haben auch einen Online-Kurs zum Thema: „Verbindung durch Selbstmitgefühl“)

Selbstfürsorge ist nicht Selbstbezogenheit

Manchmal würden wir Selbstfürsorge vermeiden, weil wir sie als Selbstbezogenheit verurteilen, schreibt Christine Carter. Aber Selbstbezogenheit sei eine ängstliche Fixierung darauf, wer wir glauben sein zu müssen. Sie könne zu Stress, Ängsten, Depressionen und körperlichen Problemen führen.

Selbstfürsorge dagegen dreht sich um das, was wir wirklich brauchen – egal was jemand anders darüber denkt.

Besonders wichtig sind Schlaf, ausgewogene Ernährung, Bewegung, vor allem in der Natur, und natürlich Kontakt zu Menschen (oder anderen Säugetieren), einschließlich Berührungen.

Aber auch alles andere, was uns ein Gefühl von Halt, Geborgenheit, Sicherheit und versorgt sein vermitteln kann, ist wichtig, in den Alltag einzuplanen, damit wir nicht körperlich oder emotional ausbrennen. 

5. Trauern wenn es möglich ist & die Verbindung zu anderen Menschen suchen

Über emotionale Tränen scheiden wir Stress-Hormone und Toxine aus und Weinen kann die Produktion von Endorphinen anregen, Glückshormone, die auch Schmerzen lindern. Wir fühlen uns häufig besser, wenn wir geweint haben, sogar wenn ein Problem weiterhin besteht.

Doch gerade in angstvollen Lebensphasen kann es schwierig sein, überhaupt zu trauern.

Damit die Trauer sich nicht in uns anstaut, wir innerlich immer härter werden, kann es helfen, extra Zeiten einzuplanen, um den Emotionen freien Lauf zu lassen und zu weinen.

In relativ sicheren, geborgenen Momenten voller Selbstfürsorge zeigt sich unsere Trauer vielleicht doch.

Denn wir verlieren so viel jetzt gerade: Vertrauen in den Frieden innerhalb Europas, Hoffnung auf wachsenden Frieden in der Welt, ein Gefühl von Sicherheit für uns selbst, für die Kinder… und wir sind konfrontiert mit dem Leiden des Krieges und unserer Hilflosigkeit darüber.

Damit was in uns erstarrt ist, wieder ins Schmelzen kommen kann

Oft brauchen wir einen stillen, sanften, weichen Raum, damit das, was wir nun seit Wochen halten und halten und halten, sich wieder lösen kann.

Manche Menschen können leichter weinen, wenn sie allein sind – vielleicht mit trauriger Musik, einem Film oder Fotos von früher.

Als der erste Lockdown in 2020 begann, habe ich in einem kleinen e-Büchlein Tipps gesammelt, die es erleichtern können, alleine zuhause zu trauern. Besonders wohltuend ist es aber, gemeinsam mit anderen Menschen trauern zu können oder zumindest nach dem Weinen mit jemand darüber zu sprechen, wie es mir gerade geht und was das alles für mich bedeutet.

Geteiltes Leid ist halbes Leid

Wenn es um Weltschmerz oder Ängste geht, kann es manchmal lebensnotwendig sein, dass wir einander zuhören und gegenseitig Halt geben können.

Manchmal braucht es einen Türöffner: „Sag mal, wie geht es dir eigentlich gerade mit allem was so los ist?“ (Und vielleicht: „Ich mag es wirklich gerne hören und auch selbst erzählen.“)

Gerade wenn wir nicht nur zu zweit, sondern mit mehreren sind, kann es hilfreich sein, nichts einzuwerfen, nicht zu unterbrechen, sondern jede Person einfach viele Minuten lang, immer weiter solange reden zu lassen, bis es erstmal gut ist.

Auch wenn dabei Tränen ins Fließen kommen, kann das richtig gut tun!

Es hilft, nicht einzugreifen, nicht sofort die Taschentücher zu zücken, sondern ganz ruhig dabei zu sein, aufmerksam und mitfühlend.

Hebamme sein wenn die Trauer ins Fließen kommt

Denn jedes kleine Trauern ist wie ein mini-Geburtsprozess: Etwas sortiert sich neu im Inneren, wir verändern uns durch das was da in uns vor sich geht. Danach sind wir ein wenig wie neugeboren, oft noch zart und etwas dünnhäutig – und wenn es gut läuft, wieder bereit und innerlich gestärkt dafür, mit unserem Leben weiterzugehen.

Damit wir gut da durch kommen, brauchen wir keine Chirurg:innen, die mittendrin irgendwie eingreifen, sondern eher Hebammen, die einfach nur nach außen beschützend, geduldig und aufmerksam da sind.   

Beim Bezeugen hilft es, nicht nur emphatisch mitzufühlen, sondern dabei einen Herzenswunsch für das Wohlergehen der anderen Person fest im Herzen zu halten, wie einen Anker.

Gerade angesichts von heftigen Emotionen kann Mitgefühl uns helfen, nicht wie fortgespült zu werden, sondern präsent und auch Halt vermittelnd dabei zu bleiben. (Es kann uns auch vor emotionalem Burnout schützen.)

Auch Erinnerungen wollen betrauert werden

Für viele ältere Menschen hier, die selbst Kriegskinder waren, ist es besonders belastend, die Bilder aus der Ukraine zu sehen. Es kann aber auch eine Chance sein, endlich nach so vielen Jahren von den eigenen Erfahrungen zu erzählen und auf diese Weise Erleichterung zu finden.

Wichtig ist es gerade für Gespräche über traumatische Erlebnisse, sich gemeinsam gut im Hier und Jetzt zu verankern, damit das Gefühl von so viel mehr Sicherheit in diesem Moment einen Ausgleich für die Ängste bieten kann.

Sich versorgt und sicher genug fühlen sind oft eine Voraussetzung fürs Trauern

Auch inmitten von Krieg und Flucht können zwischendurch Räume entstehen, in denen es möglich ist zu trauern und die Geschehnisse zu verarbeiten. Manchmal geschieht das dann, wenn ein Moment der Sicherheit entsteht und ein anderer Mensch da ist und zuhört.

Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Trauer erst fließen kann, wenn Menschen irgendwo angekommen sind, wo sie sich physisch und seelisch wirklich in Sicherheit fühlen – also zum Beispiel wenn sie hier bei uns angekommen sind, ihre Grundbedürfnisse für sich und vor allem auch für ihre Kinder und hilfebedürftige Angehörige versorgt wissen.

In einem ausführlichen Artikel der ZEIT finden sich viele Tipps dafür, wie man ein hilfreiches Gegenüber für geflüchtete Menschen sein kann: „Einfache Zuwendung kann wirkungsvoll sein (…). Halten, stützen, da sein, man müsse dabei nichts hoch Bedeutendes sagen oder tun, versichern Experten. Hauptsache, die Geflüchteten und Kriegsopfer haben Hilfe – und jemanden zum Reden. Das muss zunächst auch keine professionelle psychologische Unterstützung sein, sondern einfach jemand, der zuhört. Und dem Betroffenen das Gefühl vermittelt: Ich darf meine Geschichte so oft erzählen, wie ich möchte.

Neben Grundbedürfnissen wie Essen, Trinken, Wärme und Wohnraum zählt für Geflüchtete jetzt das Gefühl, uneingeschränkt willkommen zu sein und vor allem: geborgen.“

Gehört werden kann Traumatisierung lindern

Wie stark traumatisierend Kriegserfahrungen sind, ist sehr verschieden: Je länger und mehr Bedrohung, Gewalterfahrungen auch gegen Angehörige, Erleben von Hilflosigkeit und Ohnmacht und je jünger ein Mensch ist, desto schlimmer können sich Kriegserlebnisse auswirken.

Viele Traumatherapeut:innen sprechen wie beispielsweise der Arzt Gabor Maté davon, dass nicht allein was uns widerfährt darüber entscheidet, ob wir eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln, sondern ob jemand da ist, der uns zuhört, eine Person mit der wir uns sicher genug fühlen, dass wir uns ihr anvertrauen können.

In einer Studie mit Kriegs- und Folterüberlebenden aus Afrika, dem Nahen Osten und vom Balkan lies sich nachweisen, dass die traumatischen Erlebnisse zwar Immunzellen deutlich schädigten, diese Zellen sich aber im Anschluss an eine Traumatherapie wieder erholten. In einer anderen Studie erwiesen sich sogar durch Trauma verursachte Schädigungen an der DNA als teilweise reversibel.

Dennoch hinterlassen Kriegs-Traumata Spuren, nicht nur beim einzelnen Menschen, schreibt die ZEIT: „Das ist wie bei einem Haus, das ein Erdbeben überstanden hat“, zitiert sie Areej Zindler, ärztliche Leiterin einer Flüchtlingsambulanz. „Das Haus kann repariert und wieder bewohnbar sein, trotzdem werden feine Risse bleiben.“

Letzendlich gehe es darum, die Erlebnisse ins Leben zu integrieren und diese Integration wirkt sich weit in die Zukunft hinein aus: Die Nachkommen von Überlebenden der Bombardierung Hamburgs haben selbst vielfach pazifistische Haltungen entwickelt.

Eine Auseinandersetzung mit dem Grauen eines Krieges könnte also Nährboden werden, in dem neuer Frieden gedeihen kann.

Nach dem Trauern tut Fürsorge gut

Nach dem Trauern tut Fürsorge besonders gut: Wärme, Augenkontakt, eine Umarmung, etwas heißes zu Trinken, Schokolade oder gemeinsam ein paar Sonnenstrahlen genießen.

Nach dem Weinen kann Erleichterung fühlbar werden und manchmal sogar ein bisschen Humor und Freude, jedenfalls oft Dankbarkeit – für einander, für alles was noch da ist, für das Leben.

Gerade wenn man allein für sich selbst trauert, weil gerade niemand anders da ist, kann es hilfreich, dieses „zurück ins Leben“ kommen bewusst zu zelebrieren.

6. Sich fürs Handeln entscheiden – am besten zugunsten von anderen

Es war eine kleine Sensation: Im Jahr 2000 veröffentlichte die Psychologin Shelly Taylor, dass nicht nur Flucht- oder Kampfverhalten durch Stress ausgelöst werden, sondern oft ganz andere Verhaltensmuster, die sie „Tend and Befriend“ nannte (=„Fürsorgen und Freundschaft“).

Dabei suchen wir die Nähe und Verbindung zu anderen Menschen und verhalten uns ihnen gegenüber fürsorglich.

Wir brauchen einander, schon immer

Der Ursprung von Tend & Befriend wird darin vermutet, dass es für Menschen schon immer die Überlebenschancen vergrößerte, sich nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen vor Gefahren zu schützen.

Außerdem war und ist es notwendig um Menschen-Kinder, Älteste und andere geliebte Personen zu schützen, vor allem wenn sie körperlich eingeschränkt sind.

Menschen aller Geschlechter sind dazu fähig und man kann die Tend & Befriend Strategien auch bewusst erlernen und üben.

Beispielsweise wenn wir in stressvollen Situationen bewusst fragen: Wie kann ich jetzt gerade für andere da sein, oder mich so verhalten, dass es für meine Liebsten gut wäre?

Viele First Nations leben uns Tend&Befriend als Teil von Kultur vor, beispielsweise die Völker der Haudenosaunee-Konföderation, für die eine aktive Ausrichtung auf das Wohlergehen für die kommenden sieben Generationen ein Grundwert ist.

Um nicht in die Fallen von Nationalismus zu tappen ist es wichtig, unsere eigene Zugehörigkeit möglichst weit zu fassen, oder wie der Dalai Lama es ausdrückt: Wir sind alle einfach nur einer von sieben Milliarden Menschen.

Jetzt gerade eben nicht russische Menschen zu verurteilen, sondern auch unser Mitgefühl und Solidarität mit den vielen dort zu üben, die den Krieg nicht aufhalten können, weil sie nicht wissen oder nicht glauben können, was geschieht, oder weil sie den Repressionen des Regimes machtlos gegenüber stehen.

Unserem Sein und Handeln einen Sinn verleihen

Als würden wir härter, länger und besser arbeiten und seien glücklicher dabei, wenn wir wissen, dass wir jemand anderem damit etwas Gutes tun, schreibt Christine Carter.

Wahrscheinlich wird die Krisenzeit in der wir uns befinden, noch lange weitergehen.

Aber mit all dem vielen was in der Welt gerade gebraucht ist – was davon ist denn jetzt das richtige für mich zu tun?

Vielleicht kann diese Frage helfen: Welche der vielen vielen Notlagen der Welt berührt dich jetzt gerade am meisten und wie könntest du einen echten (egal wie kleinen) Beitrag dazu schenken, dass irgendetwas ein bisschen besser wird?

Die Hilflosigkeit überwinden

„Angst hat etwas mit dem Erleben von Hilflosigkeit zu tun. Wir haben das Gefühl, nichts entgegensetzen zu können“, sagt Jörg Angenendt. Doch wir sind nicht völlig hilflos – auch wenn wir als einzelne Menschen immer nur begrenzt Einfluss nehmen können, gibt es trotzdem immer irgendetwas, das wir tun können.

Damit können wir auch wichtige Schritte heraus aus dem passiven Erleben einer beängstigenden Situation gehen.

Nur wenn wir nach Ideen zu helfen suchen, können uns auch welche einfallen. Und nicht selten kann eine kleine gute Idee doch sogar einen großen Unterschied machen.

Helfen ist möglich

So hatte jemand in Litauen die Idee zu einer Initiative, um die erstickende Zensur-Politik der russischen Regierung zu umgehen. Unter dem Motto „Call Russia“ sind russisch-sprechende Menschen weltweit eingeladen, per Zufallsgenerator ausgewählte Nummern in Russland anzurufen und von Mensch zu Mensch zu erzählen, was gerade in der Ukraine vor sich geht.

Und auch ohne Russisch-Kenntnisse gibt es viele Möglichkeiten, zu helfen. So haben unzählige Menschen seit Beginn des Krieges über Airbnb Unterkünfte in der Ukraine gebucht, ohne hinzufahren, einfach nur um an konkrete Menschen vor Ort direkt Geld zu spenden – und Airbnb hat alle Gebühren für Gastgebende in der Ukraine ausgesetzt.

Friedensdemonstrationen schaffen natürlich nicht direkt Frieden. Aber sie ermöglichen ein Gemeinschaftsgefühl und können Rückhalt geben. Wenn hunderttausende Menschen auf die Straße gehen, zeigen wir damit Politiker:innen deutlich sichtbar, wie wichtig es uns ist, dass sie ihrerseits alles für den Frieden tun.

Demos hier sind auch für protestierende Menschen in Russland, die inzwischen zu Tausenden verhaftet werden, ein wichtiges und unterstützendes Zeichen, sagt Sebastian Haunss vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung.

Auch in den kommenden Tagen finden in vielen Städten Friedensdemonstrationen statt. Auf der Website https://standwithukraine.live sammelt eine Gruppe von Klimaaktivisten, wo und wann diese stattfinden.

Sorgfältig auswählen

Gerade in den sozialen Medien oder auch per Phishing-Emails würden inzwischen Betrüger die Hilfsbereitschaft von Menschen ausnutzen. Deshalb kann es Sinn machen, lieber direkt über große Organisationen Geldspenden auf den Weg zu schicken.

Für Berlin und die größtenteils von Ehrenamtlichen organisierte Ankommens-Hilfe dort scheint diese Plattform hier auch gut zu funktionieren, über die gezielt auch nach bestimmten Sachspenden gefragt wird: https://www.adiuto.org.

In vielen Orten wurden rund um die Geflüchtetenbewegung 2015 Vereine gegründet, die sich um die ankommenden Menschen kümmern. Eine Internetsuche nach „Flüchtlingshilfe“ und dem Namen der Stadt oder des Landkreises kann helfen, an regionalen Hilfsstrukturen anzudocken.

7. Vermeintlichen Rettern widerstehen

Uneindeutiges oder jede Form von Nichtwissen aushalten ist für uns Menschen extrem schwierig, vor allem wenn es um existenzielle Fragen und echte Bedrohungen geht:

Menschen hungern nach Informationen über die Zukunft ebenso wie es uns nach Nahrung, Sex und anderen Grundbedürfnisse verlangt. Unser Gehirn nimmt Uneindeutigkeit als Bedrohung war, und es versucht uns zu beschützen: Indem es vereitelt, dass wir uns auf irgend etwas anderes fokussieren, als in dieser wichtigen Angelegenheit zu Klarheit zu finden,“ schreibt die Psychologin Christine Carter.

In Experimenten zeigten Menschen heftigere Stress- und Angstreaktionen, wenn ihnen gesagt wurde, dass sie mit 50%iger Wahrscheinlichkeit einen Elektroschock kriegen könnten – als Personen die davon ausgingen, mit Sicherheit einen schmerzhaften Stromschlag zu bekommen.

Suchen nach etwas das Halt gibt

Wir suchen also in komplexen Situationen manchmal wie besessen nach einer Meldung, einem Puzzle-Stück, was uns endlich zu beruhigender Klarheit und Orientierung verhelfen könnte.

Es braucht deshalb umso mehr Disziplin, nicht auf Stories herein zu fallen, die wir in „normalen“ Zeiten ganz schnell als absurd vom Tisch gewischt hätten.

Was wir brauchen, um Verschwörungsnarrativen widerstehen zu können, ist dass wir uns selbst liebevoll und mitfühlend zur Seite stehen, wenn wir mit Uneindeutigkeit und Nicht-Wissen konfrontiert sind, und sich Ungeduld und Verzweiflung in uns regen, darüber wie es mit dem Krieg (oder der Klimakatastrophe!) jetzt weitergehen wird.

Desinformation nicht glauben

Haben wir in unserem Blog-Artikel im Januar noch ausführlich vor den Folgen von Verschwörungserzählungen gewarnt, sind diese nun angesichts des Krieges noch wesentlich greifbarer:

„Ich bin Putin-Fan“ sagte jemand erst vor wenigen Tagen zu uns. Die Sicht auf Putin als Befreier oder Retter ist im Grunde eine Fortsetzung der Desinformationskampagnen der letzten Jahre.

Die Amadeu-Antonio-Stiftung schreibt: „Weil russische Medien außerhalb Russlands auch in der Pandemie Zweifel an der Existenz des Virus gesät und Narrative der Querdenken-Bewegung verbreitet haben, erfreuen sich die staatseigenen russischen Medien nach wie vor großer Beliebtheit in der verschwörungsideologischen Szene. (…)

Der Schweizer Rechtsextreme Ignaz Bearth spricht von einer angeblich notwendigen Demilitarisierung der Ukraine und hält Putin für einen Befreier von ‚den Marionetten eines Tiefen Staates‘.(…) passend zu Putins ‚Besatzungs-‚ und ‚Entnazifizierung’-Narrativ, das jeglicher Realität entbehrt. All diese Narrative dienen dazu, den Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine zu rechtfertigen.“

Verschwörungs-Narrative sind heimtückisch: Aus Studien ist bekannt: Menschen sind besonders anfällig, wenn sie sich ohnmächtig, chancenlos, machtlos fühlen. Die Ideologien locken indem sie an Frustration, Ängsten, Ohnmachtsgefühlen oder Sehnsüchten andocken. Dabei funktionieren sie wie eine Fisch-Reuse: Man rutscht so leicht hinein – aber ist man erstmal drinnen im Weltbild, ist es fast unmöglich, wieder raus zu kommen.

Denn der einzig mögliche Rückweg ist versperrt: Indem Misstrauen in demokratische gesellschaftliche Institutionen gesät wird, insbesondere gegenüber Medien und Wissenschaft, ist der Zugang gekappt zu allem, was einem ermöglichen könnte, die Aussagen wieder zu relativieren, mit Abstand zu betrachten.

Man ist quasi gefangen in einem Netz, aus dem es (fast) keinen Ausweg mehr gibt. Nur wenige schaffen es, da nochmal den Absprung zu finden – und das oft dank nicht abgerissener persönlicher Beziehungen.

Putin selbst rechtfertigt seinen Angriffskrieg im eigenen Land mit Verschwörungsnarrativen.

„Es ist dringend notwendig, die Gefahren, die von Verschwörungsideologien ausgehen, ernst zu nehmen und bereits bei den Anfängen ihrer Verbreitung entgegenzuwirken“, schreibt die Amadeu Antonio Stiftung und hat Tipps als soziales und politisches Basiswerkzeug für uns:

1. Verschwörungsideologien müssen als solche verstanden werden

Viele glauben, dass Verschwörungsideologien harmlose oder dumme Geschichten seien. Dabei vermitteln sie gefährliche, dogmatische Weltbilder, beschwören eine Notlage gegen die man etwas unternehmen müsste und rechtfertigen und entfesseln Gewalt und sogar Kriege. 

2. Verschwörungsideologien deshalb nicht unwidersprochen stehen lassen

Egal in welchem Kontext: Es braucht demokratischen Widerspruch. Dazu ist es manchmal ausreichend, dass man das Gesagte als Verschwörungsideologie oder schlicht als gefährlichen Sachverhalt markiert. 

3. Umfeldpersonen brauchen manchmal Unterstützung

Es kann sehr fordernd sein, den Kontakt mit Menschen zu halten, die Verschwörungsnarrativen verfallen sind. Aber der persönliche Kontakt zu Freunden oder Familie ist oft das einzige, was einen Ausweg ermöglichen kann. Ein Liste empfehlenswerter Beratungsangebote für Angehörige oder Menschen, die selbst aussteigen möchten, gibt es hier auf Belltower.News, auch einen ausführlicheren Artikel darüber, was man tun kann.

 

DISCLAIMER:

Die Empfehlungen in diesem Text ersetzen keine therapeutische Begleitung.

Wenn du das Gefühl hast, unter Angstzuständen, Depressionen oder anderen schwer auszuhaltenden seelischen Zuständen zu leiden – wisse, du bist nicht allein! Hilfe bekommst du bei zugelassenen Psychotherapeut*innnen, beispielsweise den hier im Verzeichnis aufgeführten Personen, vielleicht auch in deiner Region: https://www.somatic-experiencing.de/traumatherapeuten-finden/

In dringenden Fällen kann man sich auch direkt an ein psychiatrisches Krankenhaus wenden oder den Notruf 112 wählen. Auch die Telefonseelsorge ist 24 Stunden kostenlos erreichbar (auch anonym): (0800) 1110111 oder (0800) 1110333 (für Kinder/Jugendliche) Im Internet: www.telefonseelsorge.de

 

Wenn du mehr darüber lernen magst, Menschen beim Trauern zu begleiten, kannst du hier in unserem (englischen) Online-Kurs oder in unserer Präsenz-Weiterbildung Orientierung, Hintergründe und Werkzeuge finden oder bei unserem Trauer-Feuer-Workshop das Trauern in Gemeinschaft erleben.

1964 schüttelte das Große Erdbeben von Alaska die Stadt Anchorage für anderthalb Stunden durch und beließ kaum einen Stein auf dem anderen. Ganze Ladenzeilen verschwanden bis zum Dach in sich auftuenden Erdspalten. Das gesamte Leben spaltete sich ebenso, in ein „davor“ und ein „danach“.

Katastrophen überleben

Viele ältere Menschen heute haben Katastrophen überlebt. So wie mein Vater, der 1945 als Fünfjähriger zu Fuß mit seinen Eltern aus dem heutigen Kaliningrad flüchtete. Meine Oma schob dabei den Rollstuhl mit ihrem von einem Granatsplitter querschnittsgelähmten Mann, auf dessen Schoss die meiste Zeit mein damals dreijähriger Onkel saß. Als sie im fast 700 km entfernten Dargun in Mecklenburg ankamen, konnten sie nicht mehr weiter: Denn Wehen setzten ein und in einer Scheune gebar meine Oma ihr drittes Kind.

Katastrophen, im Sinne von leidvollen, plötzlichen Umbrüchen, sind ein Teil des Lebens: Ein Sturm kann Bäume entwurzeln, ein Biber-Paar kann ein Flußtal überfluten, Erdrutsche können ganze Ökosysteme mit sich reißen, und Waldbrände zerstören einen großen Teil der Vegetation.

Auch wenn wir es persönlich vielleicht noch nie so drastisch erlebt haben: Ich glaube tief in uns schlummert eine Erinnerung oder Ahnung davon, wie es sein könnte, mittendrin zu stecken.

Ein Katalysator für Nächstenliebe

Direkt nach dem Erdbeben in Alaska machte sich ein Team von Sozialforschern auf, um zu studieren, wie die Menschen vor Ort mit dem Unglück umgehen würden. Sie waren auf das Schlimmste gefasst, auf Gewalt, auf alle Arten von unsozialen Verhaltensweisen.

Doch das Gegenteil war der Fall: Völlig spontan und ohne jegliche Anweisungen oder Absprachen vernetzten die Menschen sich auf alle möglichen hilfreiche Weisen miteinander: Menschen gruben sofort nach dem Beben andere Menschen aus den Trümmern aus, Menschen mit Autos fuhren stundenlang umher um andere mitzunehmen, hunderte Freiwillige meldeten sich bei der Feuerwehr und überall nahmen Menschen Fremde bei sich zuhause auf. „Jeder machte mit„, sagte ein Befragter später. „Jeder probierte einfach alles was möglich war für jeden zu machen.“

Eine Woche blieben die Forschenden dort und bei den Befragungen wurde klar: Die Menschen hatten nicht planvoll oder strategisch gehandelt, sondern einfach spontan, sogar instinktiv das getan, was ihnen gerade in den Sinn gekommen war.
Die Katastrophe hatte einen Grad an Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft freigesetzt, der im alltäglichen Leben selten die Gelegenheit hat, an die Oberfläche zu treten.

Helfen können tut uns gut

Bei vielen Empfehlungen die gerade zirkulieren geht es nicht primär darum, sich selbst zu schützen, sondern andere. Das knüpft an unserer angeborenen Freude am Hilfsbereit sein an. So waren in einer Studie sogar erst 19 Monate alte Babies bereit, an jemanden der hungrig aussah, ihr Essen zu verschenken – obwohl sie selbst auch Hunger hatten.

Durch unser Handeln einen positiven Unterschied für andere zu machen, verschafft uns eine tiefe Freude, und zählt zu den wichtigsten Faktoren für ein glückliches Leben.

Helfen, das bedeutet jetzt gerade vor allem:

  1. Zuhause bleiben
    Wir können einen wahrhaft heldenhaften Beitrag leisten, indem wir in dieser Zeit für uns selbst bleiben.
    (Wer mehr darüber wissen mag, warum dies so wichtig ist, dem empfehle ich folgende Artikel über die dahinter stehenden Erkenntnisse über die Verbreitung des Virus und die Auswirkungen auf unser Gesundheitssystem und über die Lage in Italien (bereits vor drei Tagen).
  2. Ermöglichen, dass andere zuhause bleiben
    Vor allem geht es dabei darum, für die Ältesten in unserem Umfeld Besorgungen zu übernehmen, damit sie geschützt bei sich zuhause bleiben können.
  3. Unterstützen, dass andere sich zuhause wohl fühlen
    Wir können anderen und uns selbst diese Zeit versüßen, indem wir unsere sozialen Beziehungen übers Telefon oder Internet nähren, Raum für herzvolle Gespräche schenken, wie in Italien von unseren Balkonen oder Fenstern musizieren, Liebesbriefe und Pakete verschicken und gemeinsam mit den Menschen mit denen wir unter einem Dach wohnen, eine nährende Zeit gestalten.

Und was hilft uns, zu helfen?

Psychologin Jill Suttie vom Greater Good Science Center in Kalifornien hat hierzu einige Empfehlungen veröffentlicht, die ich gern mit euch teilen möchte:

1. Achte auf die heldenhaften Taten!

In jedem Unglück gibt es Menschen, die sich altruistisch, also vollkommen uneigennützig verhalten. Uns mit ihnen zu beschäftigen, ihr Tun zu beobachten, kann in uns selbst ein erhebendes Gefühl von Redlichkeit erzeugen. Es könne uns optimistischer machen und wir möchten im Ergebnis selbst gern auch Gutes tun, schreibt Jill Suttie. So kann eine Aufwärtsspirale für mehr Freude für alle entstehen.

2. Kultiviere deine innere Gelassenheit

Achtsamkeitsübungen wie Sinnesmeditationen, Weitwinkel-Schauen, meditatives Spazierengehen, bewusstes und langsames Essen, sich mit dem Atem verbinden, Entspannungstechniken, Yoga oder andere achtsamkeitsfördernde Bewegungspraktiken sind in Krisenzeiten besonders wichtig.

Sie zu üben wann immer wir den Fokus dafür aufbringen können, sei für unsere Geisteshaltung so wichtig, wie Vorkehrungen für Überflutungen zu treffen, bevor der Monsun-Regen fällt, sagt der Dalai Lama.
Für mich ist dabei der Atem einer der praktischsten Zugänge, weil ich meinen Atem immer dabei habe. Bewusstes Atmen beruhigt an sich bereits. Wenn ich tiefere Entspannung einladen möchte, kann ich mein Ausatmen allmählich verlängern, oder es mit einem Schnaufen oder Tönen verbinden.

3. Zeige Dankbarkeit

Dankbarkeit in mir erwecken und spüren kann in sich schon beruhigend und herzöffnend sein. Sie auch zu zeigen, kann anderen Menschen deutlich machen, wie wichtig und wohltuend ihr Handeln wirklich ist, und dadurch ermutigen, sich weiter auf hilfsbereite Weise zu verhalten.

4. Fühle mit

Scheinbar hat gerade das „mütterliche Hormon“ Oxytocin viel damit zu tun, wieviel Mitgefühl wir mit anderen Menschen aufbringen können. Denn je mehr davon in uns vorhanden ist, desto leichter fällt es uns, jemand anders zu Hilfe zu eilen.

Das ist gerade jetzt aktuell eine sehr interessante Beobachtung, weil wir es im alltäglichen Leben vor allem bei innigen sozialen Interaktionen ausschütten (z.B. bei Umarmungen, Orgasmen oder wenn wir Massagen bekommen) – die jetzt gerade vielen Menschen fehlen!

Wenn wir wenig Körperkontakt mit anderen Menschen haben können, können auch Yoga oder sanfte Musik helfen. Außerdem können laut Paul J. Zak folgende Aktivitäten sehr wirkungsvoll sein:

  1. Mit voller Aufmerksamkeit von Herzen zuhören, dem anderen dabei in die Augen schauen und mich in mein Gegenüber einfühlen.
  2. Ein Geschenk von jemand anders bekommen.
  3. Gemeinsam mit anderen Menschen essen – das geht heutzutage auch über Skype oder Whatsapp-Calls, oder selbst am Telefon. Besonders wirksam ist dies, wenn man es mit Punkt zwei verbindet, und die Mahlzeit ein Geschenk ist.
  4. Beim Meditieren meine Aufmerksamkeit auf meine Liebe zu anderen Menschen (und der Natur) richten (statt auf meine eigene Selbstwahrnehmung)
  5. Ein heißes Bad nehmen.
  6. Sogar mit Freund*Innen über Social Media in Kontakt sein soll in Studien bei 100% der Menschen das Oxytocin-Level steigen lassen. Ich vermute auch das Anschauen von Fotos früherer Zeiten und Freundschaften und Familie, könnte dasselbe bewirken.
  7. Einen Hund streicheln – egal ob es der eigene Hund ist. Und vielleicht funktioniert es mit Katzen und anderen Haustieren auch?
  8. „Ich liebe dich“ und „Ich hab dich lieb“ sagen und hören.

Warum gerade jetzt Konflikte aufflackern können?

Beängstigende Zeiten, vor allem wenn sie mit viel Nicht-Wissen, Unsicherheit und Verwirrung verbunden sind, können dazu führen, dass unsere Fremdenangst gegenüber Menschen anderer Kulturen sprunghaft wächst.

Und diese Angst vor dem was mir fremd ist, scheint insbesondere auch für andere Denkweisen zu gelten: Denn die sozialen Medien sind voll von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Menschen die sehr viel gemeinsam haben, darüber, ob die Pandemie wirklich so schlimm ist, wie sie zu sein scheint.

Zur selben Zeit wandert eine Welle von Solidarität und Fürsorge für die Älteren rund um die ganze Welt, es herrscht an vielen Orten Aufbruchstimmung, wir erleben eine nicht für möglich gehaltene Drosselung von Produktion, Konsum und damit auch Umweltverschmutzung. Regierungen überlegen ernsthaft, bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen. Und die Bundesregierung startet sogar einen deutschlandweiten Beteiligungsprozess rund um das Finden von gemeinsamen Lösungen für die mit der Virenkrise verbundenen Fragen.

Meine persönliche Herangehensweise ist: Kritisches Denken ist immer wichtig, auch gegenüber der öffentlichen Meinung.

Panik ist niemals förderlich, egal wie berechtigt sie scheint. Doch Panik und Anti-Panik scheinen sich in ihren Ausdrucksformen sehr ähnlich zu sein, und in ihren Wirkungen auch: Sie kreieren mehr Panik, also Überlebensreaktionen wie Flucht, Kampf oder Starre. Es ist also zweitrangig, ob ich mehr Angst vor dem Virus habe oder vor der Regierung oder vor allen Sorten von „Anderen“.

Wann immer uns die Angst erfasst oder wie eine Welle über uns rollt, können wir nur noch sehr schwer klar denken, geschweige denn unser Mitgefühl, unser Einfühlungsvermögen, unsere Intuition und innere Weisheit zurate ziehen.

Unser Verstand sucht gerade angesichts hochkomplexer und potentiell gefährlicher Vorgänge am liebsten (und manchmal scheinbar verzweifelt) nach schnellen, einfachen, für uns selbst plausiblen Erklärungen – die quasi jede Menge Informationen ausblenden müssen, damit sie einfach genug bleiben, um zumindest ein Stückchen innerer Sicherheit zu spenden.

Ich kann es an mir selbst wunderbar beobachten, wie Wogen der Angst mich durchfluten, in die eine oder die andere Richtung – je nachdem welche Arten von Artikeln oder Nachrichtenbeiträgen ich mir anschaue.

Generell finde ich persönlich es essentiell, dass ich Main Stream Berichterstattung immer auch kritisch hinterfragen darf. Für mich, die ich in der DDR aufgewachsen bin, ist das eine Grundsäule einer demokratischen Gesellschaft: Freie Medien und freie Meinungsäußerung über die Beiträge dieser Medien.

Doch gerade in diesen letzten Wochen werden soziale Medien regelrecht überflutet von Verschwörungstheorien und Desinformation und der kritische Diskurs, der eigentlich ermächtigen soll, nimmt oft Formen an, die das Potential haben, den Zusammenhalt in der Bevölkerung zu erodieren.

Deshalb ist für mich persönlich gerade das Wichtigste, dass mein kritisches Hinterfragen von Medien und Regierungsorganisationen und ebenso auch mein kritisches Hinterfragen von vielen anderen lauten Stimmen in der Öffentlichkeit, mich nicht darin beeinträchtigt, wie sehr ich selbst mich in Mitgefühl, Fürsorge, Nächstenliebe und Solidarität übe.

Wann immer ich im außen einen vermeintlichen Gegner erspähe, erlebe ich persönlich es als sehr schwierig, selbst großherzig und mitfühlend zu bleiben.

Dabei ist gerade das Mitgefühl eine Kernzutat, die es maßgeblich erleichtern kann, Lösungen angesichts komplexer Herausforderungen zu finden!

5. Mit mir selbst mit-fühlen

Wenn ich feststelle, dass ich selbst gerade dabei bin, mich in Theorien zu verrennen oder krampfhaft Schuldige finden will, kann es ein erster hilfreicher Schritt sein, meine Ängste dahinter anzuerkennen und mir Selbst-Mitgefühl zu schenken.

Ich kann mich selbst trösten, beispielsweise indem ich mir die Hand auf mein Herz lege und mir sage, wie schwierig diese Situation sich gerade anfühlt. Wie bodenlos, haltlos, verzweifelt ich mich fühle. Und dass das ok ist. Dass ich traurig sein darf, und vor allem, dass ich Angst haben darf, sie fühlen darf.

Manchmal merke ich dann ganz deutlich, dass ich gerade gar nicht kämpfen möchte, sondern eigentlich es Zeit ist, zu trauern – und über den Ausdruck der Emotionen und das Weinen, meinen inneren Frieden wieder zu finden.

6. Lenke deinen Fokus darauf, dass wir alle Menschen sind – und einander gerade brauchen

Eines der größten Hindernisse für unsere naturgegebene Hilfsbereitschaft scheint es zu sein, wenn wir uns „anders“ als die anderen wahrnehmen. Ich meine damit nicht im Sinne von einzigartig (was wir natürlich sind), sondern im Sinne von scheinbar unüberbrückbaren Gegensätzen.

In den letzten Tagen habe ich immer wieder darüber gelesen, wie „wir“ auf der einen Seite und „die Medien“, „die Pharma-Industrie“, „die Politiker“ auf der anderen Seite stünden, und wir uns zur Wehr setzen sollten.
Die Sprache zeigt, dass da eine Entmenschlichung stattfindet. In dem Moment wo wir jemanden in eine Schublade stecken, auf der etwas anderes draufsteht als „ein Mensch wie ich„, kreieren wir die besten Voraussetzungen für Feindseligkeit dieser Person gegenüber.

Eine Feindseligkeit, die in diesem Fall von uns ausgeht, und die wir subjektiv sogar als berechtigt empfinden werden!

Für mich ist auch hier der Dalai Lama das leuchtendste Beispiel, der darauf besteht, dass er nur „einer von sieben Milliarden Menschen“ sei, die alle im Grunde einfach nur glücklich und ohne zu leiden leben möchten.

Eine einfache Übung, die mir hilft, in Momenten der Verachtung für andere (die auch menschlich sind!) wieder zu mir selbst zu finden, hat das Greater Good Science Center entwickelt:

  1. Denke an eine Person oder Gruppe von Menschen, die du als vollkommen anders oder mit deinen Werten und Vorstellungen unvereinbar wahrnimmst, mit der du vielleicht auch gerade in persönlichen oder ideellen Konflikten stehst.
  2. Denke an all das, was euch verbindet, was ihr gemeinsam habt. Das beginnt damit, dass ihr beide Menschen seid. Was ist da noch oder könnte da sein? Vielleicht die Erfahrung, beide Kinder zu haben? Schon mal verliebt gewesen zu sein? Einen Menschen verloren zu haben? Sich ängstlich oder verunsichert gefühlt zu haben?
  3. Lass diese Gemeinsamkeiten auf dich wirken und stelle dir dein Gegenüber als einen einzigartigen Menschen vor, dessen Lebenswirklichkeit, Geschmack, Glauben oder Verhaltensweisen, in bestimmten Aspekten deinen eigenen entsprechen oder ihnen ähnlich sind.
  4. Wiederhole bei Bedarf. :-)

Hier kannst du mehr über die Übung und die zugrundeliegende Studie lesen.

Miteinander füreinander da sein

Für mich ist dies eine unglaublich berührende Zeit. Jeder Tag bringt schmerzliche Nachrichten, UND zeigt wundervolle Beispiele von Menschlichkeit und unserer Kapazität, für einander wahrhaftig da zu sein.

Mögen wir Mitgefühl und Selbst-Mitgefühl immer wieder finden in diesen Zeiten. Damit wir einander in unserem einzigartigen und kollektiven Mensch-Sein so gut unterstützen können, wie es gebraucht ist, in dieser Zeit in der wir leben.

„Meine Freunde, verliert nicht eures Herzen’s Mut. Wir sind gemacht worden für diese Zeit.“

Clarissa Pinkola-Estes

Möchtest du mehr darüber lernen, wie wir Menschen auf ihrem Lern- und Lebensweg unterstützen
und begleiten können?

Dann könnte dir unser Online-Paket zum Thema Mentoring gefallen, du findest es hier….

 

Hilfreiche Ein- und Aussichten für Zuversicht in schlimmen Zeiten

Lesezeit ca. 8 min

Schon seit Monaten (an vielen Orten bereits seit Jahren) fordert das Feuer nachdrücklich unsere Aufmerksamkeit, weil es menschliches Leben bedroht und ganze Ökosysteme auslöscht, mit verheerenden Folgen für das weltweite ökologische Gleichgewicht. Wie sollen wir angesichts solch gewaltiger Zerstörung trotzdem  Zuversicht bewahren?

1. Der Ruf des Feuers

„Feuer“ ist ein Wort, das Not und Dringlichkeit verströmt wie kein anderes. So soll man nicht „Hilfe“ rufen, wenn man auf gefüllten Plätzen angegriffen wird, sondern „Feuer“ schreien – weil Menschen unverzüglich und mutig darauf reagieren.

Auch mit den Waldbränden geht ein Aufschrei um die Erde – die schrecklichen Bilder vom Flammenmeer, vom rot glühenden Himmel und den unvorstellbar gewaltigen Aschewolken rütteln am letzten bisschen Ignoranz und Trägheit und drängen uns aufzuwachen und mehr in die Verantwortung zu gehen für das Fortbestehen des Lebens.

Feuer verkörpert mit seiner radikalen Wandlungskraft das Prinzip von Initiationen – tiefen Daseins-Krisen, in Übergangszeiten des Lebens, wo ich mich in meinem Mensch-Sein tiefgreifend wandele.

Für mich ist es eine Quelle der Zuversicht, auf die Zeit, in der wir leben als eine Art Initiationszeit zu schauen, für die Menschheit im Gesamten, in der wir einen radikalen Wandel vollziehen müssen, weil kein anderer Ausweg übrig bleibt.

2. Initiationszeit – Die Lebensphase der Menschheit als Ganzes?

Schauen wir das Lebensrad, die Entwicklungsphasen im Laufe eines Menschenlebens (unter anderem beschrieben von Bill Plotkin) für die gesamte Menschheit an, können wir viele Parallelen sehen:

In unserer frühesten Lebensphase lebten wir wie „Unschuldige in ihrem Nest“ noch ganz eng eingekuschelt in den Schoß der Mutter Erde und mit innigem Kontakt zu unserer natürlichen Familie in unserem Lebensraum, mit den Tieren und Pflanzen und den Elementen.

Wie heranwachsende Kinder als “EntdeckerInnen im Garten” wurden wir nach und nach unabhängiger, lernten Dinge selbst zu erzeugen, die uns vorher nur geschenkt werden konnten, wir lernten Feuer zu machen, Pflanzen gezielt anzubauen, und voller Entdeckerfreude probierten wir unsere immer neuen Fertigkeiten, Kompetenzen und unser wachsendes Wissen aus, und schenkten der natürlichen Welt um uns und den Menschen in unseren engeren Bezugssystemen unsere volle Aufmerksamkeit, voller Zuversicht.

Wie bei Jugendlichen begann unsere Aufmerksamkeit irgendwann sich vorwiegend um uns selbst zu kreisen, um die Gesellschaft unserer „Peers“, der anderen Menschen, um unsere Identität so wie wir sie haben wollen, in Abgrenzung zu unseren Mitwesen.

Bill Plotkin nennt Menschen in dieser Lebensphase “SchauspielerInnen in der Oase“, und wie Jugendliche dies oft tun, setzten auch wir als Menschheit uns immer neue Masken auf, versuchten mit allen Mitteln, unsere äußere Schönheit zu optimieren, Erfolge zu sammeln, die dem Ego schmeicheln.

Währenddessen labten wir uns maßlos an den Früchten der Erde, und nutzten sie für unsere Zwecke aus bis zur Erschöpfung – mit wenig Lust zum Aufräumen und noch weniger Motivation, die Lebensgrundlagen zu hegen.

Die Konsequenzen unseres Handelns blendeten wir aus, und der überströmende Mut spornte uns zu immer kühneren Höchstleistungen an, über die wir wetteiferten und uns gegenseitig zu mehr anstachelten.

Während laut Plotkin kleine Kinder ein klares Ich-Gefühl hätten, verbunden mit einem intuitiven Wissen darum, wer sie sind, würden in der Jugend viele Menschen keinen Zugang mehr dazu haben, wer sie wirklich sind, und wofür sie hier sind. Je erfolgreicher ein Mensch in dieser Zeit ist, desto länger kann diese Phase sich ausdehnen.

Doch irgendwann kommt ein tiefgreifender Wandel. Manchmal nähert er sich dem jugendlichen Menschen schleichend, und zeigt sich durch Überdruss und inneren Rückzug aus der kurz vorher noch so bedeutsamen Außenwelt.

Manchmal zeigt er sich als drängende Sehnsucht, zu anderen Ländern, anderen Kulturen, neuen Weltbildern oder spirituellen Erfahrungen aufzubrechen.

Oder der Bruch kommt in Gestalt einer großen, scheinbar von außen über uns hereinbrechenden Krise, beispielsweise einer schlimmen Krankheit, einem Unfall oder durch den Verlust eines geliebten Menschen durch Tod oder Trennung.

Das innere Erleben in der Lebensphase nach der Pubertät ist oft schmerzhaft – ich fühle mich abgeschnitten von den früheren Freuden, von der Person, die ich vor Kurzem noch war, von dem, woran ich geglaubt habe, was mir wichtig war. Allein bin ich, irgendwo irgendwie unterwegs, als “Umherstreifende in ihrem Kokon”.

Als Menschheit erleben wir gerade eine Trennung von vielem: Von unendlich vielen Mit-Wesen, die wir fast ausgelöscht oder stark dezimiert haben, von der Illusion von Sicherheit und Souveränität oder sogar Kontrolle über die Ökosysteme der Erde, von dem Wahnwitz der Ideologie eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums und gerade hier im Westen auch vielfach von der komfortablen Idee, immer bestens versorgt und abgesichert zu sein und nicht teilen zu brauchen.

Verstärkt durch die sozialen Medien erleben wir eine schmerzhafte, erbitterte und tiefgehende Spaltung der Bevölkerung, angefeuert durch sich rasant verbreitende Desinformation und Verschwörungsideologien zu Themen wie Impfpflicht, Immigration, der Klimakatastrophe und vielem mehr.

Zu jeder Initiation gehören Qualen, Seelenqualen und manchmal auch äußeres Leiden – wenn ich mich selbst fast auflöse, vom Leben „zerbröselt“ und gut „durchgekocht“ werde.

Plotkin nennt diese Phase auch „die lange dunkle Nacht der Seele“. Sie fühlt sich schrecklich an, es ist sogar schwer, sie von außen bei jemand anderem zu beobachten, und doch ist sie so grundlegend wichtig dafür, als Menschenwesen zu innerer Reife zu gelangen.

Durch das Leiden und das Wegfallen aller Masken und falschen Identitäten, durch das Vom-Leben-aufgebrochen-Werden der narzisstischen Ego-Strukturen kann ein gereiftes Selbst zum Vorschein kommen, eine ganzheitlichere Identität, als dies in der Jugendzeit möglich war.

Vor der ersten großen Initiation (von denen wir im Leben auch viele ganz kleine durchleben), sind wir nicht voll und ganz erwachsen. Erst durch die raue Gnade der Initiation können wir so bei uns selbst ankommen, dass wir wieder voll und ganz spüren können, wer wir sind und wofür wir hier sind.

Erst wenn wir aus dem transformierenden Feuer der Initiationszeit heraustreten und von der Gemeinschaft willkommen geheißen werden, können wir all das in der Jugendzeit angesammelte Wissen, all unsere Kompetenzen, die wir erworben und trainiert haben, auf eine neue Weise nutzen, die viel stärker verbunden ist mit den Bedürfnissen anderer und die wirklich der Gemeinschaft allen Lebens dient. Erst nach der Initiationskrise sind wir wirklich erwachsen.

3. Bewusstsein – das Licht im Dunkeln für ZuverSicht

Was es braucht, um die lange, dunkle Nacht der Seele zu durchstehen, ist vor allem ein wachsendes Bewusstsein. Tiefe Innenschau mit wachen Sinnen ermöglicht es, dem Selbst auf den Grund zu tauchen, hinab ins Dunkle all dessen, was ich an mir noch nie mochte, wovor ich schon immer Angst hatte, wo ich elendig gescheitert bin, wo ich mit der Welt und dem Leben hadere, wo ich mich klein und schwach und vollkommen unzureichend und hilflos fühle.

Am Boden des tiefen, dunklen Seelengewässers wartet ein hell leuchtender Schatz darauf, dann gehoben zu werden, wenn ich schon fast aufgegeben habe.

In der langen, dunklen Nacht der Menschheit geht es darum, uns selbst zu begegnen, in furchteinflößender Tiefe. Und das tun wir.

Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hatten wir so viel Einblick darin, was wir als Menschheit weltweit erleben, erschaffen oder zerstören. Das Internet trägt Informationen aus jedem Winkel der Erde herbei und macht sie weithin sichtbar.

Mit den Informationen über die Brände in Australien oder einen möglichen Krieg zwischen den USA und dem Iran reisen auch Gefühle um die Erde: Angst, Zorn, Hilflosigkeit und Ohnmacht werden von Millionen von Menschen geteilt und durchlebt.

Natürlich nehmen nicht alle Menschen Anteil. Aber es ist eine große und wachsende Anzahl von Menschen, die hinschaut.

Es schmerzt so schrecklich, zu wissen und zu fühlen, wie viel von unserem geliebten Planeten, von unserem Zuhause, von unserer Mutter Erde zusammenbricht, wie viele Menschen und andere Wesen leiden.

Die Angst zu ertragen, dass die Kinder von heute vielleicht die letzte Generation von Menschen sein könnten, die das Erwachsenenalter überhaupt noch erreichen, wie es der Dalai Lama 2018 in seinem Appell an die Welt so direkt und ungeschönt aussprach.

Wenn wir davon ausgehen, dass die Menschheit sich entwickelt, dann brauchen wir genau das, was viele von uns jetzt gerade durchleiden, um gemeinsam erwachsen zu werden: das Erleben von Scheitern, von Hoffnungslosigkeit, Aussichtslosigkeit, von unsäglicher Trauer, von Desillusionierung, bis hin zum Aufgeben und einer gefühlten Begegnung mit dem Sterben, mit dem Tod.

In einer Initiationskrise sind dies wichtige Bestandteile, die dazu führen, inmitten der Finsternis, in voller Demut, ein wahrhaftiges Selbst zu entdecken, das unabhängig ist von Rollen, Masken, Erwartungen, Erfolgen im Äußeren, vom Plan meines Egos, von Kontrolle und Zwang, von oberflächlichen Vergnügungen und äußerer Sicherheit.

Es ist dies die Zeit, in der wir als Menschheit inmitten der Trümmerlandschaft um uns und in uns, unser innerstes Selbst entdecken können, das zutiefst verbunden ist mit der Seele der Welt.

Vieles von diesem Selbst kennen wir schon, weil es ähnlich wie der Wesenskern eines Menschen nie ganz verschwunden war. Dazu gehört unsere Kraft zu lieben, mitzufühlen, füreinander zu sorgen, füreinander einzustehen, gemeinsam in Einigkeit Lösungen zu finden, eine Gesellschaft zu gestalten, welche die Vielfalt und Fülle unserer nicht-menschlichen Mitwesen mehrt und nährt, Kultur zu schaffen, die Menschen von klein auf bis ins hohe Alter ermöglicht, ihre Potentiale zu entfalten und zu schenken.

Jede/r von uns ist ein Teil der Menschheit, des menschlichen Bewusstseins. Margaret Wheatley erforscht und unterstützt seit fast dreißig Jahren systemischen Wandel in vielen Ländern der Erde (beispielsweise über das von ihr gegründete Berkana Institut) und beschreibt eindringlich, was es braucht, um mit heftigem Wandel auf eine lebensfördernde Weise umzugehen: einen Geisteszustand jenseits von Hoffnung und Furcht.

Mir geht es so wie vielen Menschen in meinem Umfeld, dass ich inmitten der rasanten Schreckensmeldungen über den Zustand der Welt UND der hoffnungsfrohen Botschaften über Lösungen, die auftauchen wie Pilze nach einem Sommerregen, oft regelrecht hin- und hergeschüttelt werde – zwischen aufkeimender Hoffnung und tiefer Furcht vor dem Scheitern.

Der Ausweg aus dieser Achterbahn, den Meg Wheatley beschreibt, ist es, statt eine rosige Zukunft zu wünschen oder vor einer schlimmen Zukunft zu erzittern, wie in der Meditation oder in Achtsamkeitsübungen, so voll und ganz ich es vermag, in der Gegenwart und im Jetzt zu bleiben.

Es braucht dafür die Bereitschaft, mit unserer eigenen Unsicherheit, unsrem Nicht-Wissen, und letztlich der Bodenlosigkeit des Seins vertraut zu werden, sie auszuhalten, zu lernen, uns in ihnen zuhause zu fühlen.

Leben war schon immer Veränderung, doch heute zerfallen Systeme, Ideen und Beziehungen immer schneller. Das meiste, was vor Jahren noch eine Illusion von Sicherheit spenden konnte, rinnt rasend schnell wie Sand durch unsere Finger, sodass es immer notwendiger wird, diesen Auflösungszustand ertragen zu lernen – indem wir präsent mit ihm bleiben.

Natürlich ist es schmerzhaft, präsent zu bleiben. Doch alle Vermeidungsstrategien schmerzen ebenso.

4. Zwischen Erfolg und Scheitern ist ein Raum für Zuversicht

Wenn ich weiß, was ich für die Zukunft will, und an bestimmten Lösungsstrategien festhalte, bin ich viel eher geneigt, Opfer meines Wollens zu werden. Wenn ich mich im Recht glaube, handele ich oft blindlings, und schade dabei mir selbst oder anderen. Ich streite und ignoriere bewusst oder unbewusst andere Stimmen und Bedürfnisse – weil ich so identifiziert bin mit meiner Ideologie.

Wenn ich voller Furcht bin, rechtfertige ich mit dieser unter Umständen auch die schlimmsten Sorten von „Schutzmaßnahmen“, mit denen ich mich verteidige oder sogar selbst angreife – weil ich keinen anderen Ausweg sehe. Beide Zustände sind nicht nur im Moment rücksichtslos, sondern langfristig ein Nährboden für Manipulation, Verblendung, Volksverhetzung und für ein weiträumiges Beschreiten von persönlichen oder gesellschaftlichen Irrwegen.

Wenn ich jedoch präsent bin, im Zustand jenseits des Wollens und Fürchtens, kann mein innerer Kampf zur Ruhe kommen und ich habe Zugang zu all dem, wovon ich in der Tiefe meines Selbst weiß, dass es jetzt in diesem Moment gerade stimmig und hilfreich ist, im Einklang mit allen meinen Werten.

Dies zu erleben und zu erlernen ist eine der Gaben von Initiationskrisen.

In den Initiationsgeschichten die ich von unserer Lehrerin Sobonfu Somé hörte, von ihrem Volk der Dagara in Westafrika, sei es für die jungen Menschen und für das gesamte Dorf keine Selbstverständlichkeit gewesen, dass deren fordernder und gefährlicher Initiationsprozess von allen Teilnehmenden wirklich überlebt würde.

Vielleicht kann dies tröstlich sein, in Momenten wo wir den Eindruck bekommen, dass es ganz und gar nicht mehr selbstverständlich ist, dass dieser „Initiationsprozess“ der Menschheit von uns überlebt wird.
Angesichts des Nicht-Wissens, ob alles gut ausgehen wird, sind wir darauf geworfen, in jedem Moment das zu tun, was das Richtige ist, uns so zu verhalten, als ob dieser Moment alles ist, was uns bleibt.

„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.

Vaclav Havel

Meg Wheatley schreibt, dass sie im Raum jenseits des Strebens nach Erfolg oder der Angst vorm Scheitern lernen konnte, wie es sich anfühlt, sich stimmig zu verhalten: auf unergründliche Weise klar und getragen von Energie. Wenn sie sich wütend, frustriert oder zornig fühle, habe sie gelernt, sich nicht davon bestimmen zu lassen, sondern innezuhalten, nicht zu handeln, bevor sie wieder präsent im Moment ist, und dabei immer wieder erfahren:

„Es ist nicht das Ergebnis, was zählt. Es sind die Menschen, unsere Beziehungen, die unseren Anstrengungen einen Sinn geben. Wenn wir uns von dem Drang befreien, mit unseren Bemühungen erfolgreich zu sein, können wir erleben, wie es leichter wird zu lieben.

Wir hören auf, Sündenböcke zu suchen, wir hören auf, anderen die Schuld zu geben, und wir hören auf, voneinander so enttäuscht zu sein.

Wir erkennen, dass wir wahrhaftig alle gemeinsam in einem Boot sind, und das ist alles, was zählt.“

Zum Weiterlesen:

6 Tipps für einen lebensbejahenden Umgang mit der Weltlage

Warum Demut glücklich macht und Tipps aus der Wissenschaft, um sie zu stärken

trauern

Für ihren Podcast hat Lena Lange mich eine Stunde lang ausgefragt über eins unserer gemeinsamen Herzensthemen: das Trauern.

Hier kannst du unser Gespräch anhören:

Wir reden darüber:

  • was Trauern eigentlich ist?
  • wie genau es uns dabei unterstützen kann, mit Verlusten umzugehen?
  • warum es heute für viele Menschen schwer ist? 
  • was uns helfen kann, ins Trauern reinzukommen?
  • welche Bedeutung es für unsere Verbindung zu anderen Menschen hat? 
  • uvm.

Viel Freude!

Die Ursprünge unserer Arbeit

Seit 2011 konnten wir das Trauern in Gemeinschaft durch die kraftvollen Rituale unserer Lehrerin Sobonfu Somé, die in Burkina Faso in Westafrika aufgewachsen war, erleben und erlernen.

Mit ihrem Scheiden aus dieser Welt hat sie uns eine klare Einladung dafür hinterlassen, eigene Wege des Trauerns in Gemeinschaft zu finden und zu kultivieren.

Trauern ist eine komplexe, völlig natürliche Fähigkeit des Menschen, schwere Verluste und schlimmes Leid seelisch heil und gesund zu überstehen. In Gemeinschaft zu trauern kann ein Schlüssel dafür sein, auch große Schicksalsschläge und überwältigende kollektive Trauer zu verarbeiten und – statt Bitterkeit, Aggression oder Lähmung zu erfahren – geläutert oder sogar gestärkt aus ihnen hervorzugehen.

Wir haben unsere eigenen Erfahrung mit gemeinschaftlichem Trauern nach Sobonfu Somé mit den Erkenntnissen der modernen Psychologie und Neuro-Psychologie verknüpft analysiert und aufbereitet. Damit wir authentische und wirklich hilfreiche Wege und Formen zum Trauerprozesse begleiten entwickeln können, die auch hier und heute stimmig und wirkkräftig sind.

Trauern wird gerade heute gebraucht

Wie können wir es schaffen, die Schmerzen über die Weltsituation heute und über all das was uns noch erwartet, nicht zu verdrängen, sondern sie ernst nehmen und auf uns wirken lassen, ohne davon individuell oder kollektiv traumatisiert und verbittert zu werden?

Trauerprozesse zu begleiten (und Räume für sie zu ermöglichen) kann hier ein ganz konkreter Weg sein, um angesichts von Leiden und Verzweiflung ein wenig Erleichterung zu ermöglichen.

Trauerarbeit kann Trost schenken und es leichter machen, einen lebensförderlichen Umgang mit persönlichen und kollektiven Notlagen zu finden.

 

Mit uns zusammen in Gemeinschaft trauern kannst du beim Trauer-Feuer,
unserem Ritualworkshop am Schloss Tempelhof bei Crailsheim….

Möchtest du andere Menschen begleiten lernen?
Dann komm zu unserer berufsbegleitenden Ausbildung 
“Trauerprozesse begleiten” 

Keine Zeit zu verreisen?
Hier kannst du mehr über unseren Online-Kurs
„The Medicine of Grieving“ erfahren….

weinen

…aufgeschrieben von Elke Loepthien.

Weinen kann große emotionale Erleichterung bringen – jedoch nicht immer.

Wissenschaftler*innen, die seit Jahrzehnten probieren das emotionale Weinen in Labors zu erzeugen, um es zu untersuchen, wissen dies am besten, denn hier fühlen sich Probanden danach oft kein bisschen besser.

Werden Menschen jedoch nach Wein-Momenten in ihrem “normalen” Leben befragt, ist die überwältigende Mehrheit sich einig: Weinen kann erleichtern und auf kathartische Weise lösen, was vorher so belastend war.

Ein Forschungs-Team von der Universität Süd Florida und einer Universität in den Niederlanden hat deshalb vor gut zehn Jahren zusammen mit zwei anderen WissenschaftlerInnen über 4.000 Menschen aus 30 verschiedenen Ländern interviewt um herauszufinden, welche Faktoren dazu beitragen, WANN weinen denn erlösend wirken kann?

Ihre Ergebnisse unterstützen, was wir in unserer Trauer-Arbeit auch berücksichtigen und nutzen…

1. Soziale Unterstützung empfangen

In den Interviews schätzten die interviewten Menschen rückwirkend ihr Weinen als insgesamt erlösender ein, wenn sie dabei soziale Zuwendung erhalten hatten.

Am leichtesten fiel das den meisten, wenn es nur ein Gegenüber gab, nur ein anderer Mensch dabei war, und dieser auch noch rückversichernde, tröstende, ermutigende Worte, sowie freundliche, zugewandte Mimik und Gestik für die Weinenden hatte.

Dank genauerer Fragen wurde deutlich, dass in Kontexten mit mehreren Menschen nicht so sehr die Anzahl der Personen hier hinderlich sein konnte. Vielmehr handelte es sich in den berücksichtigten Situationen vorwiegend um Kreise, in denen Weinen grundsätzlich nicht oder in diesem Moment nicht willkommen geheißen wurde (über Worte, Mimik, Gestik), so dass eher ein Gefühl von Scham oder Beklommenheit im trauernden Menschen aufkam.

Wenn in einer Gruppe, einem Team oder anderem Kreis Tränen aufkommen, brauchen wir voneinander also umso mehr, dass wir uns deutlich darin bestätigen, dass wir auch mit Tränen und schmerzlichen Emotionen willkommen sind, dass wir in unserem Schmerz gesehen und gewürdigt werden.

2. Den Verlust auf neue Weise verstehen

Als Menschen sind wir Sinn suchende Wesen, und geben aus uns selbst heraus den Dingen Sinn. Wir schenken dem was geschieht eine Bedeutung unserer Wahl (entsprechend unserer Weltsicht, Denkmuster und -gewohnheiten).

So ist es nicht überraschend, dass das erfolgreiche “Finden” eines neuen Sinnes in dem Verlust, dem Leiden oder der Herausforderung, uns dabei hilft, nach dem Weinen einen Zustand der Katharsis zu erleben, wie es auch in der Studie dokumentiert werden konnte.

In dem Moment wo wir unser Verständnis wandeln, hat sich etwas an der Bedeutung des Verlustes für uns selbst gewandelt, und die veränderte Sicht auf die Geschehnisse, ermöglicht die innere Erleichterung.

Wann immer es schwierig ist, sucht unsere Psyche nach einem Sinn für das Schlimme, nach etwas Positivem, das wir dem Schrecklichen abgewinnen können.

Ist die neue Einsicht gefunden, kann sich etwas in unserer Tiefe entspannen und lösen. Das Trauern (und als Teil davon auch das emotionale Weinen) ist eben ein Prozess der Integration, wo schmerzhafte Dinge in unserem Leben (die vorhandenen wie die fehlenden) an ihren gegenwärtig stimmigsten Platz gerückt werden.

3. Mit Demut und Selbstverantwortungsblick schauen

Wenn ich Verantwortung für den Auslöser des Weinens bei mir selbst finden kann, statt sie anderen zuzuweisen, kann ich laut der Studie das Weinen eher als heilsam und erleichternd erleben. Sehe ich die Verantwortung stattdessen vor allem bei meinem Gegenüber, kann ich mich nach dem Weinen zwar körperlich besser fühlen, mental ist es aber weniger erleichternd.

In meiner Erfahrung kann es ein wichtiger Teil für jeden Trauer-Prozess sein, mich zu fragen was ich selbst anders machen würde, wenn ich die Chance dafür noch einmal bekäme.

Indem ich anerkenne, dass niemand anders für meinen emotionalen Zustand verantwortlich ist, sondern alle Mitmenschen sich genau so verhalten wie es ihnen eben möglich ist, und es letztendlich bei mir liegt, wie ich damit umgehe, wie ich mich selbst schützen und für meine Bedürfnisse sorgen kann, bleibt die Verantwortung bei mir – nicht im Sinne von Schuld, sondern im Sinne von Gestaltungskraft.

Ein Drittel der Momente des Weinens ereignen sich laut der Studie am späten Abend, zwischen 22:00 Uhr und Mitternacht. In dieser Tageszeit, wo es oft gerade nichts anderes mehr zu erledigen gibt, zeigen sich die Emotionen vielleicht leichter und nachdrücklicher. Die späten, dunklen Stunden schenken uns außerdem die Möglichkeit, nach dem Weinen mit mehr Ruhe zu reflektieren und uns neu auszurichten, neue Entscheidungen zu beschließen.

Auch wenn sich Gefühle von Reue dabei einstellen – das Trauern und Weinen über das, was ich selbst versäumt habe (weil ich selbst auch nur nach meinen eigenen Möglichkeiten handeln konnte) kann die Tür öffnen für hilfreichere Denk- und Verhaltensweisen in der Zukunft, welche ich durch das Trauern unter Umständen bereits ein Stück weit auf den Weg bringe.
Denn ich verbinde auf eine sinnhafte Weise die vergangenen Ereignisse mit meinen (zukünftigen) Bedürfnissen und meinen Werten.

4. Eine Lösung (er)finden

Der selbstverantwortliche Blick erleichtert auch die vierte Zutat für kathartisches Weinen, nämlich das Eintreten einer Lösung, einer Veränderung der auslösenden Umstände, mit Aussicht auf weniger Verlust und Leiden.

Denn bei vielen Herausforderungen denen wir uns gegenübersehen, können wir selbst eine Veränderung auf den Weg bringen, uns für irgendein Verhalten oder die Veränderung einer Einstellung entscheiden, die eine Verbesserung der schwierigen Situation ermöglichen oder zumindest begünstigen kann.

Bei Beziehungsthemen wurde eine Wiederannäherung an die andere Person als ein Faktor für Erleichterung nach dem Weinen beschrieben. Ebenso auch eine mit Hilfe des Weinens sich zeigende Veränderung für die gegenwärtigen Situation des Weinenden.

Im Einzelnen werden in der Studie folgende “Lösungen” als hilfreich benannt: mich selbst wieder stabil fühlen, ein Ziel erreichen, eine neue Wahrnehmung der Situation, sowie Frieden finden mit der Situation, die das Weinen ausgelöst hat.

Als Hauptgrund für Weinen auslösende Situationen werden Verluste genannt.
Auch Konflikte sind häufig ein Auslöser, vor allem für Frauen.

Allgemein können ganz unterschiedliche emotionale und mentale Zustände Weinen mit sich bringen. Laut eines Berichts im Journal for Holistic Nursing zählen dazu: Freude, Frustration, Traurigkeit, Wut, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Angst, Reue, Kummer, Einsamkeit, Scheitern, Dankbarkeit und Empathie, sowie Vergnügen, Gnade, Versuchung, ein entfliehen wollen oder auch Rache.

Und wieso Freudentränen?

Männer weinen häufiger Freudentränen als Frauen. Wenn unser Herz vor Freude überfließt geschieht dies, weil besonders tiefe Freude und Angst oder Traurigkeit wie zwei Seiten einer Medaille sind. Was mir zutiefst wichtig ist, weil ich es liebe, birgt die größten Verluste in sich.

In ihrem Text über “Weinen das heilt” (engl. “Crying that Heals”) beschreiben Griffith, Hall & Fields, dass Freudentränen eigentlich ein Ausdruck für all die Ängste, den Kummer über einen möglichen Verlust sein könnten, der eben glücklicherweise nicht eingetreten ist.

Ein Beispiel: Weine ich vor Freude über ein gesund von einer langen Reise heimgekehrtes Kind, sind in diesem berührenden, freudenreichen Moment all die vielen Möglichkeiten mit im Raum, in denen es hätte verunglücken oder verloren gehen können.

Freudentränen schenken somit scheinbar die Möglichkeit, in einem sicheren Rahmen, wenn die Gefahr quasi vorüber ist, ich nicht mehr tapfer zu sein brauche, die (vielleicht auch vielfach unbewusste) Anspannung und Stress einer angst- oder schmerzbesetzten Vor-Situation zu lösen, mit Weinen als tief gehendem emotionalen Ausdruck.

Was noch fehlt…

In meiner Erfahrung spielen noch weitere Faktoren eine Rolle dafür, ob ein Moment des Weinens als heilsam empfunden wird, vor allem ob im Anschluss ans Weinen ein Willkommen heißen und Bekräftigen des Prozesses durch andere stattfindet, verbunden mit einem nährenden Versorgen der körperlichen und seelischen Grundbedürfnisse, und auch einem Erzählen des Durchlebten und Durchlittenen.

Dieses Willkommen heißen hinterher gibt die Möglichkeit, alle schon genannten Punkte zu verfestigen und somit eine runde Gesamt-Erfahrung zu kreieren.

Diese Gesamterfahrung, bei der es mir gelungen ist, durch Weinen Erleichterung und Heilung zu finden, wird es mir bei der nächsten Gelegenheit leichter machen.

Denn auch ein bereits Vorhandensein von “erfolgreichen” Trauer-Erfahrungen in der Vergangenheit der interviewten Menschen ist ein Faktor, der sich in der Studie des internationalen Forscherteams deutlich darauf ausgewirkt hat, ob Momente des Weinens als kathartisch erlebt werden konnten.

Kathartisches Weinen verbindet Körper, Verstand und Geist

Im Konzept vom “Weinen das heilt” (engl. “Crying that Heals”) beschreiben Griffith, Hall & Fields, dass heilsames Weinen, wenn ganzheitlich betrachtet, den Abgrund zwischen Verstand, Körper und Geist zu überbrücken scheine, auch wenn wissenschaftlich (noch) nicht erklärbar ist, wie genau dies vonstatten gehe.

Sie greifen die Idee auf, dass es sowohl für Weinende, als auch für Bezeugende einen tiefgreifenden spirituellen Transzendenz-Prozess ermögliche, dass es “ein Fenster zum inneren Selbst eröffne, ein Fenster, das ein spirituelles Erwachen möglich mache, durch das wir tiefe Ruhe und inneren Frieden erleben” könnten. Sie sprechen von einem ganz besonderen spirituellen Erleben, das das Selbst und das tiefere Sein erfrischen, die Seele wieder erwecken und damit sowohl körperliches als auch seelisches Leid lindern könnte.

Zwar existieren einzelne Schilderungen von weinenden Hunden, Affen und Elefanten, doch scheint das emotionale Weinen im Großen und Ganzen vor allem ein menschliches Phänomen zu sein.

Ich sehe darin ein unfassbar kraftvolles Geschenk der Schöpfung für unser Leben und Zusammenleben, dass uns immer wieder ermöglicht, mit erneuerter Weichheit, Liebe und Verletzlichkeit in Verbindung mit einander zu sein und zu wachsen.

Wir brauchen einander zum Weinen und Trauern, jetzt!

Der Schmerz über den Zustand der Erde und der Menschheit hat für viele von uns nie dagewesene Ausmaße erreicht. Manchmal schaffen wir es, ihn auszublenden. Manchmal spricht er durch uns mit einer aufbrausenden Stimme von Aggressivität und Schuldzuweisungen. Die weitere Entwicklung der Erde und der Menschheit ist ein Thema, das stark polarisiert.

Die sozialen Medien sind voll von heftigen Auseinandersetzungen über Theorien und Gegentheorien, von gegenseitigen Schuldzuweisungen, Vorwürfen, Anfeindungen gegen Menschengruppen unterschiedlichster Art. Wenn Trauer da ist und sie keinen gesunden Weg findet, zeigt sie sich vielleicht in Hass und Aggressivität, und statt als Menschheit zusammenzuhalten bekämpfen wir uns gegenseitig. Manchmal verhärtet sie uns scheinbar zu resignierter Bitterkeit und Starre, so dass wir mehr tot als lebendig durch unsere Tage gehen.

Doch wir sind dem nicht ausgeliefert – das Trauern kann uns immer wieder aus der Krise in die Katharsis helfen, und Freude zurückholen.

Die Trauer um die Natur und um die gefährdete Zukunft betrifft uns alle, wir sind alle mehr oder weniger selbst mit verantwortlich (und können diese Selbstverantwortung auch zu uns nehmen), und sie nutzen um demutsvoll unser Verständnis der Situation immer wieder zu vertiefen und zu erneuern.

Wir können im Trauern, durch das Trauern Lösungen finden und bekräftigen, die von der aufgeweichten, in Sanftmut wirkenden Energie unseres Schmerzes genährt genau das in die Welt bringen können, was wir als Menschheit zu verlieren drohen oder glauben schon verloren zu haben – die tiefe, nährende und fürsorgende Liebe zwischen uns und der gesamten Schöpfung.

Martín Prechtel, Autor und Sammler von Erfahrungen in tiefer Verbindung mit der Natur, vermag in Worte zu fassen, was vielleicht möglich ist:

“Wenn wir selbst als Individuen unser Verlorensein und unsere Orientierungslosigkeit anerkennen und betrauern, können wir unser Einheimisch sein auf der Erde wieder zurück ins Leben erinnern. Wir können unser Verlorensein auf diese Weise zu wertvollem spirituellem Kompost verdauen, welcher uns erlaubt genau da innezuhalten wo wir stehen, und nicht vor unserer seltsamen Vergangenheit wegzurennen, sondern klein zu sein, unbewaffnet, tapfer und schön.
 
So können wir das Heilige in der Natur mit jenen Früchten der Schönheit füttern, die an jenem Baum reifen, zu dem die Erinnerung an unsere indigene Seele heranwächst. Dieser Baum wächst und gedeiht im kompostierten Scheitern unseres einstmaligen Drängens, die Welt zu erobern. Er wird gewässert von den Tränen der Trauer unserer gesamten Kultur.
 
Auf diese Weise können wir vielleicht zu Ahnen werden, die es würdig sind,
von ihnen abzustammen,
indem wir einen Ort der Hoffnung erwachsen lassen,
für eine Zeit jenseits der unsrigen.”
Martín Prechtel

Magst du deiner eigenen Trauer mehr Raum geben?

In Gemeinschaft trauern kannst du beim Trauer-Feuer, einem Ritualworkshop mit uns im Seminarzentrum Schloss Bettenburg
Oder in unserer berufsbegleitenden Ausbildung “Trauerprozesse begleiten” zusammen mit anderen Menschen das Leben bekräftigen, nähren und feiern.…
…wie wir Menschen tiefen Verlust erleben und bewältigen

„Trauer ist eine unmenschliche Erfahrung, die in einem menschlichen Körper stattfindet.“

Christina Rasmussen

Im letzten Jahr, nachdem unsere geliebte Lehrerin Sobonfu Somé gegangen ist, habe ich viele Monate damit verbracht, noch tiefer zu erforschen und zu erlauschen, was Trauer ist und was wir als Menschen brauchen, um auf eine gesunde Weise mit ihr umzugehen.
Trauern ist Leben 
Viele Wissenschaftler heute bekräftigen das, was wir aus dem überlieferten Verständnis naturverbundener Kulturen wie der Dagara in Burkina Faso bereits wissen: Dass ein Fühlen, Durchleben und Verarbeiten der Trauer lebens-wichtig ist! Unsere seelische, geistige, körperliche Gesundheit hängen davon ab, ob und wie wir es schaffen, die großen (und kleinen) Verluste im Leben zu bewältigen.
Die Fähigkeit tiefe Freude zu empfinden hängt davon ab, ob ich auch Traurigkeit zulassen und ausdrücken kann.

Was ich in allen meinen Nachforschungen nicht finden konnte, waren handfeste Informationen darüber, warum wir überhaupt trauern?
Trauer zieht uns in ihren Bann
Biologisch versetzt Trauer uns in einen extrem verwundbaren Zustand: wir sind auf uns selbst geworfen, nehmen weniger wahr im Außen, wenden unsere Aufmerksamkeit ganz nach innen, wo wir scheinbar versinken in den starken Emotionen die zur Trauer dazugehören, wie Traurigkeit, Wut, Verzweiflung, Leere, Dumpfheit oder Angst.
Wenn wir trauern, sind wir oft nicht in der Lage, proaktiv sozial zu interagieren, uns unseren Liebsten zuzuwenden, unserer Verantwortung nachzukommen. Die einfachsten Dinge des täglichen Lebens können uns als unmöglich schaffbar erscheinen.
Warum hat die Natur es so eingerichtet, dass ein schlimmer Verlust unser gesamtes System so grundlegend außer Kraft setzen kann?
Die Antwort ist so einfach wie auch erstaunlich:

Nur durch das Trauern können wir etwas lernen und verinnerlichen,

was nicht mehr da ist.

Oder sogar auch etwas, was noch nie, oder gefühlt viel zu wenig da war. 

Der Mensch, den wir verlieren hat ganz bestimmte Geschenke in unser Leben gebracht: Vielleicht war es ein Gefühl von Geborgenheit, oder Inspiration, oder Ermächtigung, Liebe oder Weisheit. Vielleicht hat die Person Lebenslust verkörpert oder große Hingabe und Schaffenskraft.
Trauern ermöglicht uns zu lernen 
Wenn wir um jemanden trauern, verbinden wir uns auf tiefster Seelenebene mit all dem, was er oder sie für uns war. Wir blenden die Wirklichkeit im Hier und Jetzt ein Stück weit aus, um ganz tief mit dem zu sein, was nicht mehr sein kann.
Mit intensiven inneren Bildern, angefeuert von überwältigenden Emotionen, kreieren wir für unseren Verstand eine enorm kraftvolle Lernerfahrung.
Das was wir am meisten geliebt haben, die Essenz sowie auch konkrete Verhaltensweisen, an die wir uns erinnern, verinnerlichen wir – sogar obwohl es im Außen nicht mehr existiert, nicht mehr wahrnehmbar ist.
Damit ist Trauern ein unglaublich wichtiger Prozess für das sich immer weiter Entwickeln von uns als Menschen, individuell und gesellschaftlich.
Trauern über was nicht sein konnte
Erst als ich als erwachsene Frau zu tiefer Naturverbindung geführt wurde, begann für mich ein Trauerprozess über all den Mangel an Naturerfahrung, den ich früher als Stadtkind – damals völlig unbewusst – durchlitten habe.
Erst als ich als erwachsene Frau konkretes Wissen und Bilder über Sobonfu’s Kindheit in der Stammeskultur der Dagara erfuhr, durchlebte ich einen Trauerprozess über den Mangel an lebendiger Gemeinschaft in meinen Kinder- und Jugendjahren.
Auch wenn ich als Kind unterdrückt, bezwungen oder missbraucht wurde, kann ein Teil meines Trauerprozesses erst dann beginnen, wenn ich als Erwachsene davon erfahre, wie es anders hätte sein können.
Wenn ich als Erwachsener erlebe, wie respektvoll mit einem rebellierenden Jugendlichen umgegangen wird, kann ein Trauerprozess in mir beginnen – weil mein gesamtes System erst dann wirklich be-greifen kann, welchen Verlust an Respekt ich durchlitten habe.
Wenn ich erlebe, wie ein Vater oder eine Mutter einfühlsam mit einem weinenden Kleinkind spricht, kann ein Trauerprozess in mir beginnen – weil ich dann erst begreifen kann, dass ich viel zu früh einen Verlust an bedingungsloser Liebe erlitten habe.
Um trauern zu können, brauche ich ein Bild von dem, was ich verloren habe. Manchmal ist es ein Mensch, den ich verloren habe, manchmal aber auch körperliche oder seelische Unversehrtheit, manchmal Vertrauen, Liebe, Selbstwirksamkeit, die mir schmerzlich gefehlt haben.
Trauern hilft, Kreise zu schließen und einen gesunden Weg in die Zukunft zu finden
Wenn ich schwierige (Kindheits-)Erlebnisse nicht betrauere, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ich genau das weitergebe, was für mich selbst Leid verursacht hat.
Unsere Fähigkeit zu lieben und uns zu binden hängt unter anderem davon ab, ob ich den Verlust von geliebten Menschen, oder auch einen Mangel an Liebe und Bindung in meiner eigenen Vergangenheit betrauern und damit das Verlorene oder nicht ausreichend da Gewesene integrieren kann.
Somit kann das gesunde Trauern die Schicksalsschläge unseres Lebens in Geschenke verwandeln – vielleicht werden sie uns selbst ein Leben lang schmerzhaft in Erinnerung bleiben, aber wir können es schaffen ermächtigt, gestärkt und mit guter „Medizin“ für die Menschen um uns herum, und für unseren eigenen Lebensweg daraus hervor zu gehen.
Trauern für die Erde und für die Menschheit
Ich glaube, dass auch unsere Fähigkeit, als Individuen und als Gesellschaft im Einklang mit der Erde zu leben, davon abhängen wird, ob wir es schaffen können, die schrecklichen Verluste zu betrauern, die in der Geschichte und immer deutlicher fühlbar in den letzten Jahrzehnten der Gemeinschaft allen Lebens und damit auch uns als Menschen widerfahren sind und die uns jetzt gerade umgeben oder unmittelbar bevorstehen.
Wenn wir es nicht schaffen, zu trauern, laufen wir Gefahr abzustumpfen, in Depressionen, Bitterkeit und Hass, bis hin zur Selbstzerstörung oder Aggressivität gegenüber anderen zu verfallen.
Das Trauern öffnet und reinigt unser Herz, erlaubt uns weich zu sein, und ermöglicht es uns, auf unsere individuell bestmögliche Weise zu handeln, statt zu kämpfen, zu flüchten oder in Starre zu verfallen.
Es hilft uns dabei, selbst ein besserer Mensch zu werden, egal wie widrig die Umstände sind. Und an den vielen Orten wo wir sind, die vielen kleinen Dinge zu tun, die die Gemeinschaft der Menschen im Kern zusammenhalten, jenseits aller politischen und gesellschaftlichen Institutionen.
Trauern braucht Gemeinschaft – Gemeinschaft braucht Trauern
Ich kann dies nicht alleine schaffen“ heißt es im Dagara-Lied für das Begräbnis-Ritual, in dem die Menschen zusammenkommen und über das Scheiden eines geliebten Menschen, sowie auch alles mögliche andere, was auch immer noch an Schmerzen da ist, gemeinsam zu trauern.
Gerade für unsere tiefste Trauer brauchen wir einander, für die Verluste die uns selbst vielleicht Angst und Schrecken einjagen, und die wir kaum zu berühren wagen.
Gegenseitig können wir uns Zeugenschaft schenken, ein gesehen werden und gefühlt werden, wie es für Menschen zutiefst heilsam ist.
In den Jahren 2011-2016 konnten wir jeden November gemeinsam mit Sobonfu trauern, nach ihrer Art, in einem Ritual das aus den Traditionen der Dagara und Sobonfu’s Kenntnis über die Bedürfnisse der Menschen hier und in den USA zurechtgeschneidert war.
Nach dem Tod von Sobonfu brauchten wir ein eigenes Trauer-Ritual, das wir authentisch hier und heute durchführen können, ohne kulturelle Aneignung zu betreiben. Die Erzählungen von Paul Raphael, einem Friedensstifter der Anishinabe in Nordamerika, über deren „Heiliges Feuer“ hatten in mir die Erinnerung an europäische Not-Feuer-Traditionen geweckt. Auf deren Basis entwickelte ich unser Trauer-Feuer-Ritual, das wir im November 2018 erstmalig durchführten.


Das Trauer-Feuer schenkt einen geborgenen, heilsamen Raum dafür, einander in Zeiten der Trauer zu bezeugen und zu begleiten. Am Feuer können Geschichten und Gefühle geteilt und Tränen geweint werden, die laute und die leise Trauer dürfen fließen.
Und in Stille vor dem Knistern der Flammen kann selbst das angehört werden, wofür es keine Worte gibt.
Das Feuer, das Element das nur wir Menschen in unsere Mitte geholt haben, bringt uns als Gemeinschaft zusammen, so dass wir in unserem tiefsten Menschsein einander beistehen können. Es verbindet uns mit der Welt der Ahnen, all derer die vor uns gegangen sind, und deren Erbe in uns und um uns noch lebendig ist.
Das Feuer hat die Kraft zu verwandeln. Aus der Asche des Verbrannten hilft es uns, das Wesentliche zu erkennen und uns daran zu erinnern, wer wir sind.
Das gleißende, wärmende Licht des Feuers hilft uns zu sehen, welches Geschenk dem schlimmen Verlust innewohnt. Wie die Trauer darüber uns selbst helfen kann.
Und wie sie uns mit ihrer bitteren Medizin eines Tages helfen kann, anderen zu helfen.

Mehr Infos zum Trauer-Feuer-Workshop

Interessierst du dich für das Thema Trauer?
Hier kannst du dich über unsere einjährige Weiterbildung in Trauerbegleitung informieren….

Magst du nicht mehr bis zur nächsten Veranstaltung warten, weil deine Trauer dich belastet und schon jetzt fließen will?
Hier in unserem kostenlosen Ebook kannst du viele Tipps für das zuhause Trauern finden…

…wie wir Menschen tiefen Verlust erleben und bewältigen

Trauer ist eine unmenschliche Erfahrung, die in einem menschlichen Körper stattfindet.“

Christina Rasmussen

In Trauer sein bedeutet, einen unfassbar schlimmen Verlust zu erleben. Kein Mensch bleibt davon verschont, wir alle sind Trauer schon begegnet, und die meisten von uns viele Male.
Trauer bedeutet, etwas oder jemanden zu verlieren, der so bedeutsam und geliebt war, dass ich tiefen Schmerz durchleide, gleichzeitig ein Stück weit auch den Sinn und die Orientierung in meinem Leben verliere, ein Stück meiner Identität mir entgleitet, ich orientierungslos werde und nicht mehr spüren kann, wer ich selbst bin.
Unfassbar ist es, wenn ich jemanden verliere, der mir sehr nah und inniglich verbunden war, dem wir ich mich zugehörig erlebt habe, der oder die ein wichtiger Teil meines Lebens war. Dies kann ein Mensch sein, auch ein Tier, ein Haus in dem ich gelebt habe, ein vertrauter alter Baum, oder ein Platz, der mir Geborgenheit geschenkt hat.
Unfassbar ist es, wenn ich ein Stück von meiner eigenen Identität aufgeben muss, einen geliebten Beruf nicht mehr ausüben kann, oder durch Unfall oder Krankheit eine plötzliche Einschränkung meiner eigenen Fähigkeiten erleide.
Unfassbar ist die voranschreitende Zerstörung der Erde, die wir tagtäglich durch Nachrichten oder auch eigene Erfahrungen miterleben und mitansehen.

Ein Teil des Lebens

Trauer bedeutet, in eine Krise einzutauchen, die mich verändern wird, auf eine Weise, die niemand vorhersagen kann.

Du wirst nicht über den Verlust des Geliebten hinweg kommen, sondern lernen, damit zu leben. Du wirst wieder heil werden und dich selbst neu erschaffen, um diesen Verlust herum, den du erlitten hast. Du wirst wieder ganz sein, aber du wirst nie wieder so sein wie vorher, und solltest das auch nicht und würdest es auch selbst nicht wollen.“― Elisabeth Kübler-Ross

Trauer gehört von Anfang an schon zum menschlichen Leben dazu: Im Moment meiner Geburt erlebe ich als Mensch nicht nur das neu geboren sein in diese Welt, sondern auch den Verlust von fast allem, was bis dahin mein Leben ausgemacht hat – weil ich nicht länger wie eins sein kann mit dem mich umgebenden, tragenden, nährenden und wärmenden Mutterleib, ihren Herzschlag hörend, mit ihren Bewegungen schwingend. Auch im weiteren Heranwachsen durchlaufe ich immer wieder unterschiedliche Lebensphasen, zwischen denen jeweils Verlust und Abschied mich erwarten. So natürlich wie dieser Vorgang ist, so furchteinflößend und schmerzvoll ist er gleichzeitig auch, weswegen naturverbundene Kulturen diese Übergänge oft mit Ritualen begleitet haben.

„Leben bedeutet, zu verlieren was du liebst.“

Warren Brush

Dem Schmerz begegnen

Im menschlichen Leben ist Schmerz allgegenwärtig. Und er will von Anfang an bezeugt und gespiegelt werden. Sobonfu Somé, die dem Dagara Volk in Westafrika angehörte, lehrte uns, dass bereits ein Baby, wenn es weint, Erwachsene braucht, die ihm anschaulich Empathie schenken. Am besten gelingt dies, wenn sie seine Mimik, Gestik und seine Laute widerspiegeln, und dem Worte geben, was es fühlt. So erlebe das kleinste Kind, dass seine Gefühle wahrhaftig und von seinem Gegenüber angenommen sind. Würde es stattdessen ignoriert, aus dem Kreis der vertrauten Menschen weggeholt, oder müsste sich ein „das ist doch gar nicht schlimm“ anhören, würde ihm nicht nur die Verbindung zum anderen verwehrt, es bekomme auch suggeriert, das mit ihm selbst etwas nicht stimme.
Aus einer auf natürliche Weise ausgedrückten Trauer, der nicht mit heilsamer Empathie und Verständnis begegnet wird, kann im Kind eine tiefe Scham entstehen, ein festsitzendes Gefühl „nicht gut“ oder nicht „wertvoll“ zu sein, das sich wie Gift in die Psyche des (heranwachsenden) Menschen einnistet und seine Fähigkeit schwächt, in gesunder Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen zu sein.

Einander beistehen

Auch als Erwachsene brauchen wir die Zeugenschaft und das Mitgefühl von anderen Menschen in Zeiten der Trauer. „Ich kann dies nicht alleine schaffen,“ heißt es in einem Lied der Dagara, dass traditionell beim Begräbnisritual gesungen wurde. Inmitten der tiefen Krisen, die uns fordern, den Sinn unseres Lebens (wieder) zu finden, braucht es unbedingt den Beistand anderer Menschen, deren Aufmerksamkeit, Handlungen und Worte uns zu verstehen geben, dass wir nicht allein sind – auch und gerade weil wir uns in Zeiten der Trauer oft furchterregend allein fühlen.
Trost spenden bedeutet deshalb vor allem, mitzufühlen und die trauernde Freundin durch unsere Anwesenheit daran zu erinnern, dass wir da sind – für sie, mit ihr.
Elizabeth Kübler-Ross setzte sich dafür ein, dass wir trauernde Menschen, die wir begleiten, als LehrerInnen ansehen. Wir sollten ihnen erlauben, uns darüber zu lehren, was ihre Erfahrungen sind, statt bestimmte Ziele und Erwartungen zu konstruieren.

“Es ist nicht möglich, Systeme, Regeln oder emotionale Landkarten anzuwenden. Unsere Aufgabe ist es, selbst als Menschen präsent zu sein, nicht als Erretter. Eher ein Begleiter eher als ein Führer. Eher ein Freund als ein Lehrer. ” – Jon Welshons

Der Trauer-Berater Alan D. Wolfelt hat aus seiner Erfahrung mit Ritualen eine Art Modell fürs Begleiten bei schweren Verlusten entwickelt, in dem er beschreibt, wie ich als Unterstützende den Betroffenen erleichtern kann, ihren erlittenen Verlust zu integrieren, indem ich einfach präsent mit ihnen bin und sie aufmerksam beobachte – meinem Gegenüber also ein Gefährte oder Begleiter bin, und ihn ehre, Raum für ihn halte und ihn bezeuge.
Er schreibt:

  • Begleiter sein, bedeutet, mit dem Herzen zuzuhören, nicht mit dem Kopf zu analysieren.
  • Begleiter sein bedeutet neugierig zu sein, statt die eigenen Erfahrungen mitzuteilen.
  • Begleiter sein bedeutet, mit dem Schmerz des anderen präsent zu sein, nicht den Schmerz wegnehmen zu wollen.
  • Begleiter sein bedeutet jemandem zur Seite zu stehen, nicht selbst die Führung zu übernehmen.
  • Begleiter sein bedeutet, Chaos und Verwirrung zu respektieren, nicht Ordnung und Logik aufzudrängen.
  • Begleiter sein bedeutet, sich in die Wildnis der Seele eines anderen Menschen aufzumachen, jedoch nicht sich verantwortlich dafür zu fühlen, den Weg wieder heraus zu finden.

Trauer ist nicht dasselbe wie Depression

Im Gegenteil: Nur wenn ein seelischer Schmerz keinen Ausdruck und dadurch Integration und Heilung findet, kann er chronisch werden, sich verdichten, mit zahlreichen ernsthaften Krankheitssymptomen einhergehen (beispielsweise auch Krebs) und unter anderem zu schwerwiegenden und langwierigen Depressionen und auch Suizid führen.

„Ob ich trauere oder nicht ist nicht mir selbst überlassen – denn wenn Trauer da ist und ich mich dagegen entscheide bedeutet dies nur, es auf jemand anderen zu schieben, der diese Last dann für mich tragen muss.“

Martín Prechtel

Den Sinn im Trauern selbst finden

Viele Tierarten trauern um verstorbene Familien- oder Herdenmitglieder, beispielsweise Elefanten, Höckerschwäne, Löwen oder Schakale. Manche Wissenschaftler, wie Randolph Nesse sprechen davon, dass der Schmerz des Verlustes dabei helfe, sich auch in Zukunft, sogar umso mehr für den Schutz von beispielsweise den eigenen Kindern einzusetzen. Andere Forscher, wie John Archer gehen davon aus, dass Trauer einfach eine Kehrseite von unserer Fähigkeit ist, innige, tragfähige Bindungen miteinander einzugehen.
Martín Prechtel, der tief vertraut ist mit dem guatemaltekischen Volk der Tz’utujil, schreibt dass ohne Trauer die Welt aufhören würde, sich zu erneuern, aufhören würde, zu existieren.
Sie ist tatsächlich ein fundamentaler Bestandteil unserer Menschlichkeit und Verbindungsfähigkeit.

„Trauer ist dasselbe wie Lobpreisen, es ist die natürliche Weise, mit der die Liebe das ehrt, was sie vermisst.“

Martín Prechtel

Trauern und Lobpreisen sind die Lieder der Liebe

shutterstock_50114662Trauer zeigt uns und den Menschen um ums herum, was wir so inniglich geliebt haben. Indem wir unsere Trauer zeigen und miteinander teilen würdigen und feiern wir das (oder denjenigen), das wir verloren haben. Unsere Tränen seien wie Nahrung für die Ahnen, sagte Sobonfu Somé. Nur das was ich liebe, kann ich betrauern. Und so kann die Trauer mir selbst zeigen, wie viel Liebesfähigkeit in mir wohnt. Die Kraft zu lieben macht mich so verletzlich. Und in dieser Verletzlichkeit bin ich verbunden, mit allen anderen Menschen. Denn die Trauer besucht jeden von uns.

Die Antwort zum Geheimnis des Lebens ist die Liebe, die dir manchmal so wenig perfekt erschien, und wenn der Verlust dich zum Erkennen der tieferen Schönheit und Heiligkeit darin erweckt, kannst du dich eine lange Zeit nicht von deinen Knien erheben, nicht wegen der Last des Verlustes, sondern wegen der Dankbarkeit für das was vor dem Verlust kam.“  
― Dean Koontz

So schlummern inmitten der größten Traurigkeit oft auch große Dankbarkeit, Wertschätzung, und Weisheit. Bei den Dagara, wie auch bei den Anishinabe in Nordamerika und vielen anderen naturverbundenen Kulturen sind das Danken, Würdigen und Feiern, und sogar das herzhafte, befreiende Lachen ein willkommener und wesentlicher Teil des Trauer-Prozesses.
Das von Innen heraus sich wellenartig ausbreitende Schütteln bei tiefem Lachen ebenso wie bei tiefem Weinen vollbringt unser Körper mit denselben Muskeln – beide sind also ganz nah verwandt, und manchmal geht das eine ins andere über und wandert wieder zurück. Indem ich mir erlaube, frei heraus und im Fluss mit den Ereignissen des Lebens zu trauern, wächst auch meine Kapazität, Freude und sogar Glückseligkeit tiefer und intensiver zu empfinden.

„Nur Menschen, die in der Lage sind voll und ganz zu lieben, können auch großen Schmerz durchleiden, doch genau dieses Bedürfnis, zu lieben, schenkt ihnen einen Gegenpol zu ihrer Trauer und heilt sie.“

Leo Tolstoi

 

Viele Gesichter

Viele Menschen, vor allem auch kleine Kinder durchleben laut Sobonfu Somé einfache, auf einen Moment beschränkte Trauer in bestimmten Phasen.
Wenn ein Kind sich weh tut, lassen sie sich oft gut beobachten: Auf den ersten Schock/Schreck folgen mehr oder weniger starke Emotionen wie Wut oder Traurigkeit, die ganz natürlich einen stimmigen Ausdruck finden. Danach stellt sich ein Gefühl von Entspannung und Leere ein, ein Raum in dem innerer Frieden und später auch Leichtigkeit und Humor oder sogar Freude wie von selbst Einzug halten.
Bei Erwachsenen ist Trauer oft von vornherein komplexer und dockt zudem oft an vergangener, nicht vollständig ausgedrückter Trauer an. Deshalb ist es kaum möglich, klar abgrenzbare Phasen oder Abläufe zu beschreiben, die als besonders hilfreich oder unterstützend gelten könnten. Die Wissenschafts-Journalistin Ruth Davis Konigsberg hat hierzu ganz verschiedene Studien ausgewertet, die letztendlich vermitteln, dass es kein einheitliches Trauer-Erleben oder Verarbeiten gibt. 
Trauer hat so viele verschiedene Gesichter wie es Menschen gibt: Leugnen und Stumpfheit, Zorn und Raserei, Angst und Panik, Einsamkeit und Hilflosigkeit, Schock und Starre, Rastlosigkeit oder Antriebslosigkeit, Erzählen, Stille, weinen und zittern, sich übergeben, schwitzen oder frieren, Schmerzen oder Empfindungslosigkeit, Atemlosigkeit, Sehnsucht, Erregung, Erschöpfung, schreien, wehklagen, singen oder wimmern, etwas kaputt machen wollen, sich bewegen oder rennen wollen die Augen schließen, sich einrollen und verstecken wollen, gehalten werden wollen oder überhaupt gar nicht berührt werden wollen… all dies und viel mehr sind Ausdrucksformen der Trauer, die dabei helfen können, die Trauer zu bewegen und zu verarbeiten.

Trauern wieder erlernen – für eine friedvolle Kultur

 

shutterstock_452513506

Das Trauer-Feuer, inspiriert von nordamerikanischen und mitteleuropäischen Formen des Not-Feuers oder Heiligen Feuers, schenkt einen geborgenen, heilsamen Raum dafür, einander in Zeiten der Trauer zu bezeugen und zu begleiten. Am Feuer können Geschichten und Gefühle geteilt und Tränen geweint werden, und in der Stille vor dem Knistern der Flammen kann selbst das gehört werden, wofür es keine Worte gibt.

Das Feuer, das Element das nur wir Menschen in unsere Mitte geholt haben, bringt uns als Gemeinschaft zusammen, so dass wir in unserem tiefsten Menschsein einander beistehen können. Es verbindet uns mit der Welt der Ahnen, all derer die vor uns gegangen sind.
Das Feuer hat die Kraft zu verwandeln. Aus der Asche des Verbrannten hilft es uns, das Wesentliche zu erkennen und uns daran zu erinnern, wer wir sind.
Das gleißende, wärmende Licht des Feuers hilft uns zu sehen, welches Geschenk dem schlimmen Verlust innewohnt. Wie die Trauer darüber uns selbst helfen kann. Und wie sie uns mit ihrer Medizin eines Tages helfen kann, anderen zu helfen.

Wenn du mehr über das Trauer-Feuer erfahren möchtest, sei herzlich willkommen! Mehr Informationen dazu findest du hier…

Ab November 2019 bieten wir eine 1jährige Ausbildung zum Trauer-Feuer-Facilitator an. Mehr Informationen darüber findest du hier…

weinen tränen

“Tränen reinigen das Herz.” Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Könnt ihr eure Trauer und Tränen ungehindert fließen lassen wenn ihr traurig seid? Gibt es Menschen in eurem Leben die euch dabei bezeugen und unterstützen?


Wir brauchen einander um Trauer loszulassen

Im Frühling 2010 habe ich in einem Vortrag von zwei indigenen Ältesten aus Nordamerika und Afrika gehört, dass wir Menschen unsere Trauer erst dann vollständig loslassen können, wenn andere Menschen uns dabei bezeugen. Beide waren sich einig darin, dass es die Gegenwart anderer Menschen braucht.

Meine Geschichte
Für mich war das schwer zu akzeptieren. In den Jahren zwischen 13 und 18 habe ich nicht ein einziges Mal geweint. Ich musste es als Erwachsene neu erlernen, erst mal für mich allein. Es hat viele Jahre gedauert, bis ich mich getraut habe, zumindest manchmal vor meinen engsten Freunden zu weinen. Sobald andere Menschen anwesend waren, konnte ich meine Traurigkeit einfach überhaupt nicht mehr spüren, nur Taubheit und Leere stattdessen. Befreiend trauern vor anderen Menschen war für mich völlig unvorstellbar.

Das Trauer-Ritual
Dann habe ich in Kalifornien Sobonfu Somé kennengelernt und von vielen Freunden dort gehört, wie kraftvoll das Trauer-Ritual sei. Wie sie es beim Ritual mit Sobonfu geschafft hatten, in Gemeinschaft mit anderen Menschen ihre tief verborgenen Gefühle von Trauer, Wut oder Angst zu spüren, auszudrücken und loszulassen. Deshalb lud ich sie im vergangenen November nach Deutschland ein.  Für mich persönlich hat sich in den drei Ritual-Tagen im Lebensgarten Steyerberg etwas verwandelt. Es war als ob angestaute Trauer von Jahrzehnten wieder fließen konnte. Danach fühlte ich mich voller Leichtigkeit, Heiterkeit und tief befreit. In den Monaten seitdem kann ich deutlicher spüren, wenn meine Trauer raus will, kann mir Zeugen suchen und meine Tränen frei fließen lassen. Das Ritual hat nachhaltig gewirkt.

Trauer ist allgegenwärtig
Wir erleiden in unserem Leben jeden Tag Schmerzhaftes: alltägliche Konflikte, Krankheiten, gescheiterte Träume, zerbrochene Beziehungen, geliebte Menschen die leiden oder sterben, das Fehlen von essentiellen kulturellen Elementen in unserem modernen Dasein, der Mangel an zeitloser, verbundener Zeit in der Natur und mit den Menschen die wir lieben, die fortschreitende Zerstörung unserer Erde oder einfach die Sorgen und Nöte unserer Mitmenschen, Schüler, Kurs-Teilnehmer*innen oder Klient*innen, die uns berühren.

Wenn wir unsere Trauer unterdrücken, stumpft unser gesamtes Gefühlsleben ab
Als Menschen sind wir dazu fähig, negative Gefühle auszublenden. In Notsituationen kann dies unser Leben retten. Unterdrücken wir Emotionen wie Trauer oder Wut jedoch über einen längeren Zeitraum stumpft unsere gesamte Empfindungsfähigkeit dadurch ab und wir laufen Gefahr, körperlich zu erkranken, depressiv zu werden oder anderen und uns selbst Verletzungen zuzufügen. Vor allem sind wir deutlich weniger in der Lage, positive Gefühle wie Liebe, Freude oder Dankbarkeit zu empfinden, sagt auch Christine Carter, Professorin der Universität in Berkeley, Kalifornien.

Das Geschenk der emotionalen Tränen
Emotionale Tränen enthalten laut dem Biochemiker und Tränen-Experten William Frey eine Vielzahl von Stoffen, die in der übrigen Augenflüssigkeit die wir bei externen Reizungen des Auges absondern, nicht enthalten sind. Beim Weinen werden über die Tränen Stress-Hormone ausgeschieden, genauso auch Toxine, die sich bei Stress im Körper anreichern. Andere Studien dokumentieren, dass das Weinen auch die Produktion von Endorphinen anregt, unserer körpereigenen Schmerz-Medizin und Glücks-Hormonen. Wir fühlen uns besser, wenn wir geweint haben, auch wenn das Problem weiterhin besteht.
Sobonfu’s Volk, die Dagara in Burkina Faso, wird nachgesagt, dass die Menschen besonders lebensfroh und heiter seien und Sobonfu selbst sieht einen Grund dafür darin, dass sie regelmäßig Trauer-Rituale miteinander durchführen.

Unsere Verantwortung annehmen
Jedes Mal wenn wir die Verantwortung für unsere Trauer übernehmen, kann es sich anfühlen, als würden wir wir einen Teufelskreis von Leiden, Unterdrückung und mehr Leiden durchbrechen. Trauern kann ein erster Schritt sein, für uns selbst Linderung seelischer Schmerzen zu finden, und damit auch für unsere Kinder und Partner*innen (die leider oft am meisten von unserer ungelösten oder unbewussten Trauer abbekommen) und für alle Menschen um uns herum zu liebevolleren Mitmenschen zu werden.
Die Ärztin, New York Times Bestseller-Autorin und Tränen-Forscherin Judith Orloff schreibt: „Ich liebe es, zu weinen. Ich weine wann immer ich kann. Ich wünschte, ich könnte noch mehr weinen. Gottseidank sind wir in der Lage dazu.
Und selbst wenn wir das nicht mehr sind, können wir es wieder lernen – am leichtesten gemeinsam.

 

Gemeinsam sicher trauern kannst du bei einem unserer Trauerfeuer, z.B. im Sommer oder im Dezember 2023.

Möchtest du mehr über das Trauern erfahren? Hier findest du unser e-Book fürs zuhause trauern.

Lerne andere Menschen beim Trauern zu begleiten, in unserer Weiterbildung in Trauerprozessbegleitung.